„Banzai-Stil“: Russland lässt zwei Bataillone mit „Museumsstücken“ anrollen

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Museumsstück: Der sowjetische gepanzerter Mannschaftstransportwagen BTR-50 in der Ausstellung „Patriot Park“ in St. Petersburg – offenbar lässt Putin auch die ältesten Fahrzeuge mittlerweile wieder fronttauglich herrichten. © IMAGO / sikaraha

Russland wirft alle Kampffahrzeuge an die Front – von einer überzeugenden Taktik keine Spur. Aber auch mit den Notlösungen hat die Ukraine zu kämpfen.

Moskau – „Jedes Mal, wenn russische Regimenter einen Fahrzeugangriff versuchten, sei das Ergebnis gleich null, schimpfte ein russischer Militärblogger – was David Axe gern aufnahm: Das Magazin Forbes berichtet aktuell, dass Wladimir Putins Invasionsarmee offenbar immer verzweifelter die eigenen Fahrzeugbestände fleddert und alles an die Front in der Ukraine wirft, was noch in Bewegung zu setzen ist.

Im Ukraine-Krieg seien jetzt wiederholt BTR-50-Schützenpanzer gesichtet worden, schreibt Axe. Das „Museumsstück“ soll Mitte der 1950er-Jahre in der sowjetischen Armee in Dienst gestellt und bis in die 1970er-Jahre hinein gebaut worden sein. Der Transportpanzer war dann eines der Arbeitspferde der Warschauer-Pakt-Staaten und sei bis zur Auflösung der Nationalen Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik auch dort noch verwandt worden.

Blogger klagen über Putin: „Geringe Wirksamkeit russischer Panzerangriffe im Banzai-Stil“

Den anonymen russischen Militärblogger hat der estnische Blogger „WarTranslated“ übersetzt. Der Russe klagt über „die geringe Wirksamkeit russischer Panzerangriffe im Banzai-Stil“ („Banzai“ ist der japanische Schlachtruf für Sturmangriffe) und kritisiert, dass jede zerstörte russische Militärkolonne beziehungsweise jedes Video davon den Ukrainern moralisches Oberwasser beschere. Wie „WarTranslated“ publiziert, räume der russische Blogger ein, „dass die ,zweitstärkste Armee der Welt‘ abgesehen von Infanterieangriffen, die sich wie ein Fleischwolf Haus für Haus durchkämpfen, im Wesentlichen über keine andere wirksame Taktik verfügt“.

„Die Ukrainer haben keine Zeit, darauf zu warten, dass den Russen die Ausrüstung ausgeht.“

Tatsächlich hat Reuters im September vergangenen Jahres gemeldet: „Putin ordnet an, dass die russische Armee mit 1,5 Millionen Mann die zweitgrößte nach der chinesischen wird“. Die Nachrichtenagentur bezog sich auf eine Direktive des russischen Machthabers über die Aufstockung der Armee um 180.000 auf insgesamt 1,5 Millionen aktive Kräfte. Laut Reuters wäre die russische dann angeblich nach China die zweitgrößte Armee der Welt. Nordkorea und die USA liegen mit jeweils rund 1,3 Millionen aktiven Kräften auf Rang drei in etwa gleichauf mit Indien mit knapp unter 1,3 Millionen.

Putins Schritt steht damit im krassen Gegensatz zur aktuellen Lage der russischen Frontsoldaten, die kaum noch auf Panzer beziehungsweise gepanzerte Fahrzeuge zurückgreifen können, weil offenbar die Kapazitäten auch an zivilen Arbeitern und Rohstoffen knapper werden.

Heftiger Aderlass: Pro Jahr hat Russland wohl rund 700 Schützenpanzer verloren

Dazu passt, dass Forbes aktuell vermutet, Russland könnten die Panzer insgesamt beziehungsweise vor allem die Schützenpanzer ausgehen. Russlands Streitkräfte verlören demnach „mindestens so viele“ BMP-Kampffahrzuge (Bojewaja Maschina Pjechoty), wie die russische Industrie neu bauen oder aus den Beständen wieder reaktivieren könne, schreibt aktuell Forbes-Autor David Axe. Ihm zufolge habe Russland den Ukraine-Krieg mit rund 4.000 BMP-Schützenpanzern der Generationen 1 bis 3 begonnen. Mittlerweile soll der Bestand um die Hälfte geschrumpft sein. Pro Jahr hätten die Russen also rund 700 Schützenpanzer verloren.

Ein erster BTR-50-Schützenpaner war Ende 2023 aufgetaucht, wie das Magazin Defense Express berichtet hat. Die 110. Separate Mechanisierte Brigade hatte Filmmaterial aus dem Raum Awdijiwka veröffentlicht. Dort soll eben ein erster zerstörter BTR-50 zu sehen gewesen sein. Russland hatte also offenbar schon gegen Ende des zweiten Kriegsjahres auf Fahrzeugreserven aus der Sowjetzeit zurückgreifen müssen. Inzwischen sollen 63 BTR-50 wieder flottgemacht worden sein, schreibt Forbes aufgrund von Angaben russischer Blogger – David Axe sieht zwei Bataillone dieser Fahrzeuge heranrollen und damit „Geländewagen für Hunderte russischer Soldaten“, wie er schreibt.

Armyrecognition sieht darin allerdings auch Vorteile für Russland, weil das Fahrzeug üppiger dimensioniert ist als moderne Varianten. Der BTR-50 biete Platz für bis zu 20 Fallschirmjäger und könne erhebliche Munitionsmengen transportieren, lobt das Magazin. Das mache ihn praktikabler, als beispielsweise das Mehrzweck-Kettenfahrzeug MT-LB, der nur acht bis elf Infanteristen transportieren könne – je nach Version. Auch die auf Rädern rollenden Schützenpanzer BTR-80 und 90 böten nur die Hälfte der Kapazitäten des BTR-50.

Do-It-Yourself im Ukraine-Krieg: „Da Russland keine Spezialkampffahrzeuge mehr hat, wird es kreativ.“

„Da Russland keine Spezialkampffahrzeuge mehr hat, wird es kreativ ... und verzweifelt“, kommentiert Forbes das aktuelle Handeln der russischen Armee, ihrerseits T-62 zu amputieren und ohne Turm als Schützenpanzer zurück an die Front zu schicken. Russlands Reihen an Schützenpanzern sind offenbar dermaßen ausgeblutet, dass alte Kampfpanzer auf neue Weise umfunktioniert werden: Alte Kampfpanzer aus dem Kalten Krieg kommen aus dem Lager und als Do-It-Yourself-Lösung wieder an die Front – das jedenfalls wollen Militärblogger im Raum Awdijiwka beobachtet haben.

Allerdings scheinen die Russen schon fast seit einem Jahr alles einzusetzen, was Räder hat, um Einheiten an die Front zu manövrieren. Neben den umfunktionierten Kampfpanzern, die zum Teil ohnehin ohne Turm vor sich hingerostet hatten, kommen jetzt Quads, Golfwagen und zivile Fahrzeuge zum Zuge; und sogar Elektroroller sollen mit russischen Schützen gesichtet worden sein. „Heute ist es fast schon Routine, dass ungepanzerte Zivilfahrzeuge voll verängstigter russischer Infanterie auf die ukrainischen Linien zusteuern – und höchstwahrscheinlich einer feurigen Zerstörung entgegensteuern“, schreibt Forbes-Autor David Axe.

Wirtschafts-Offensive: Russland schafft eine halbe Million neuer Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie

Offenbar hat die Panzerschmiede Uralwagonsawod erfolgreich neues Personal rekrutiert und kann dadurch den Ausstoß erhöhen, schreibt aktuell das Wall Street Journal (WSJ). Russlands größte Fabrik für Militärfahrzeuge „hat eine Rekrutierungskampagne gestartet, um Kranführer, Schweißer und Elektriker zu finden. Einige Arbeiter arbeiten 12-Stunden-Schichten. Das staatliche Fernsehen hat Aufnahmen von orthodoxen Priestern in Soutanen gezeigt, die Weihwasser auf T-90M-Panzer – Russlands neuestes Modell – gießen, die in den Westen transportiert werden“, so das Blatt

Russland habe dem WSJ zufolge eine halbe Million neuer Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie geschaffen und wolle die Rüstungsausgaben in diesem Jahr auf 120 Milliarden Dollar hochschrauben; das wäre dann ein Drittel des gesamten russischen Haushalts. „Ja, es gibt einen Mangel, aber das ist nicht so offensichtlich, wie die meisten Leute denken“, sagte Michael Gjerstad gegenüber WSJ-Autor Matthew Luxmoore. „Russlands Wiederaufbau verlief tatsächlich viel besser, als ich es mir vorgestellt hätte“, so der Analyst des US-Thinktanks International Institute of Strategic Studies (IISS).

Verteidiger im Druck: „Ukrainer haben keine Zeit, darauf zu warten, dass Russen die Ausrüstung ausgeht.“

Allerdings sind diese Informationen vielleicht doch bedeutender, als sie auf den ersten Blick erscheinen. Unabhängig von den Verlusten an Menschen oder Material und den Improvisationen, zu denen Russland gezwungen wird, läuft den Verteidigern die Zeit davon. Bereits Ende 2023 hatte der Thinktank Institute for the Study of War (ISW) einen russischen Militärblogger dahingehend wiedergegeben, dass die russischen Streitkräfte kurz vor einer „wahren Renaissance des Infanteriekampfes“ stünden. Die Quelle führte das bereits zu diesem Zeitpunkt zurück auf die Verluste an Panzern, Schützenpanzern und gepanzerten Mannschaftstransportern.

„Dies deutet darauf hin, dass die IISS-Schätzung vom Februar 2024, dass Russland seine Fahrzeugverluste bis 2025 und möglicherweise 2026 aufrechterhalten kann, nicht mehr gültig ist“, schreibt das ISW in einem neueren Lagebericht. Das ISW bezieht sich damit auf eine Aussage Yohann Michels, die der Analyst des Thinktanks International Institute for Strategic Studies (IISS) Anfang Februar 2024 veröffentlicht hatte: „Wir gehen daher davon aus, dass Russland seinen Angriff auf die Ukraine bei der derzeitigen Truppenstärke noch weitere zwei bis drei Jahre, vielleicht sogar länger, aufrechterhalten kann.“ Offenbar erweist sich das jetzt als falsch, weil Russland in den vergangenen zwölf Monaten mehr als dreimal so viel Fahrzeuge verloren hat, wie in jedem einzelnen Kriegsjahr zuvor.

Russland hat offensichtlich die Fähigkeit ausgebaut, in diesen Krieg hineinzuwachsen – vielleicht könne Russland den Ukraine-Krieg nicht mehr wirklich gewinnen, und schon gar nicht unter Fortführung der bisherigen Intensität, wie Michael Kofman gegenüber dem Wall Street Journal gemutmaßt hat; und die Notwendigkeit eines großen nordkoreanischen Kontingents bestärkt ihn. Dennoch bezweifelt der Analyst des US-Thinktanks Carnegie Endowment gegenüber dem WSJ einen guten Ausgang der Kampfhandlungen für die Verteidiger ganz explizit: „Die Ukrainer haben keine Zeit, darauf zu warten, dass den Russen die Ausrüstung ausgeht.“

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