Vor 75 Jahren: 92 Prozent sagen Ja zu Geretsried

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Enorm gewachsen: Über 27 000 Menschen leben in Geretsried, der größten Stadt im Landkreis. © Axel Haesler

Bayern nimmt Millionen Vertriebene auf, Geretsried wird zur neuen Heimat. Die Gemeindegründung ist ein Beispiel für gelungenen Wiederaufbau. Ein Rückblick.

Geretsried - Ein bäuerlicher Landstrich mit Gehöften und einer kleinen Kapelle war Geretsried, bis die Nazis dort im Wald zwei Rüstungsbetriebe bauten. Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden Heimatvertriebene in den Baracken und Bunkern Zuflucht. Innerhalb von 20 Jahren entstand eine Stadt mit 16 000 Einwohnern. Im Norden liegt Wolfratshausen, im Süden Königsdorf, im Osten die Isar und im Westen Gelting. Wie war es möglich, eine neue Gemeinde zu gründen? Ein Rückblick.

Zuerst zu Gelting zugehörig

Bis Ende 1946 nimmt das Bundesland Bayern 1, 7 Millionen Vertriebene auf. 1,2 Millionen müssen in Kommunen unter 4000 Einwohnern und vorwiegend in Landgemeinden untergebracht werden. Unter den südbayerischen Gebieten, die Voraussetzungen für die Eingliederung von Heimatvertriebenen bieten, befindet sich der Altlandkreis Wolfratshausen. In dem landwirtschaftlich geprägten Gebiet befindet sich auf einem etwa elf Quadratkilometer großen Gelände die Fabrik Wolfratshausen mit etwa 600 Gebäuden. Das Areal besteht hauptsächlich aus Staatsforst. Laut der Diplom-Volkswirtin Margareta Edlin, die sich in einer Publikation mit der Meisterung des Flüchtlingsproblems im Altlandkreis beschäftigt hat, gibt es auf dem Gelände eine Wasserversorgungsanlage und teilweise eine Kanalisation. Erschlossen ist es über ein 70 Kilometer langes Straßennetz und ein Industriegleis ab dem Bahnhof in Wolfratshausen.

Erste organisierte Flüchtlingstransporte ab Anfang April 1946

Als Anfang April 1946 die ersten organisierten Flüchtlingstransporte in Wolfratshausen eintreffen, sind laut Edlin die Tore der beiden ehemaligen Werke von DSC und DAG fest verschlossen und werden von US-Truppen bewacht. „Lediglich die Baracken außerhalb des Werksgeländes, die den Fremdarbeitern als Notunterkünfte gedient hatten, konnten den Heimatvertriebenen zugewiesen werden.“ In den teils möblierten Ingenieurs- und Direktionswohnungen der DAG sowie im Verwaltungsgebäude, dem heutigen Rathaus, finden rund 150 Menschen Platz. Nach und nach werden immer mehr Menschen angesiedelt.

Bildung einer selbständigen Gemeinde nötig

Über drei Jahre leben die vielen 100 Frauen, Männer und Kinder in einem kommunalpolitischen Provisorium, das zu Gelting gehört. Eine kommunale Neuordnung ist „dringend notwendig“, heißt es dazu im Geltinger Heimatbuch. Bis zum Zeitpunkt der Gemeindegründung haben sich 36 verschiedene Betriebe angesiedelt – plus 21 Handwerks- und 14 Handelsfirmen und vier Gastwirtschaften. Landrat Willy Thieme hat sich im April 1948 für eine Sondierung in dieser Richtung ausgesprochen: „Die Ansiedlung von Firmen usw. hat nunmehr einen Umfang erreicht, der es nötig macht, an die Bildung einer selbständigen Gemeinde zu gehen.“

Karl Lederer will Rathauschef werden

Im März 1950 treffen sich die künftigen Bürger der Kommune zu einer Versammlung. Im Gasthaus Tschannerl würdigt Bürgermeister-Stellvertreter Karl Lederer die „große Leistung von Unternehmern, Arbeitern und Frauen“, die aus einem Trümmerfeld ein geordnetes Gemeinwesen entstehen ließen. So steht es im Isar-Loisachboten vom 14. März 1950. Feste Wohnungen, Verkehrsmittel, Gaststätten, Kaufläden und Handwerksbetriebe seien geschaffen worden. Trotz der damaligen Not und Katastrophen wie dem Lagerbrand sei die Aufbauarbeit „nicht durch Unruhe getrübt worden“. Die Bevölkerung habe nie den Weg der Legalität verlassen. Lederer, bis dato Mitglied im Geltinger Gemeinderat, kündigt an, dass er an der Spitze der überparteilichen Liste für den Posten des ehrenamtlichen Bürgermeisters der neuen Gemeinde kandidieren wolle.

Nachbargemeinden treten Grund ab

Der gebürtige Graslitzer dankt auch den beteiligten Gemeinden, die „mit Ausnahme Wolfratshausens, das sich nicht zur Aufgabe Föhrenwalds entschließen will, zur Abtretung von Gebietsteilen bereit waren, um so ihren Beitrag zur Lösung der Flüchtlingsfrage zu leisten“. Das neue und 935 Hektar große Gemeindegebiet setzt sich zusammen aus 555 Hektar aus dem gemeindefreien Forstbezirk Wolfratshausen, 286 Hektar aus dem Gemeindegebiet Gelting, 85 Hektar aus dem Gemeindegebiet Königsdorf, sieben Hektar aus dem Gemeindegebiet Osterhofen und zwei Hektar aus dem Gemeindegebiet Ergertshausen. Die neue Kommune erstreckt sich südlich von Wolfratshausen längs des Isarbetts von Nordwesten nach Südosten. Allein 750 Hektar sind Wald. Den Ortsplan für die neue Gemeinde hat Architekt Fritz Noppes, auch ein Sudetendeutscher, entworfen.

91,73 Prozent der Wähler sagen Ja zur Gemeinde Geretsried

Auf Anordnung des Innenministeriums findet am 16. April 1950 eine Volksbefragung statt, ob die Bewohner mit der Gründung einer eigenen Gemeinde einverstanden sind. „Sind Sie für die Neugründung der Gemeinde Gartenberg-Geretsried?“, lautet die Frage auf dem Stimmzettel. Die Beteiligung an der Abstimmung ist überwältigend: Von 1424 Wahlberechtigten machen sich 1246 Frauen und Männer auf den Weg in eines der beiden Wahllokale. Das entspricht 87,4 Prozent der Bevölkerung. 91,73 Prozent der Wähler sagen Ja zur Gemeinde Geretsried. Das Innenministerium verfügt, dass die Gemeinde rückwirkend zum 1. April 1950 gegründet wird. Es ist die 38. Kommune des damaligen Landkreises Wolfratshausen. Damit sind die Bewohner des Gebiets Geretsrieder – und nicht mehr Gelting zugehörig. Die offizielle Gründung geht mit einem Staatsakt Ende Juni einher. Für die Übergangszeit bis zur ersten Bürgermeister-und Gemeinderatswahl am 18. Juni wird Karl Lederer mit der Wahrnehmung der Dienstgeschäfte des Geretsrieder Rathauschefs betraut.

Junge Kommunalverwaltung vor schier unlösbaren Problemen und Aufgaben

Mit einem kleinen Stab an Mitarbeitern zieht Lederer ein in „drei notdürftig eingerichtete Räume in dem mit Flüchtlingen überbelegten Verwaltungsgebäude“, dem heutigen Rathaus. Die staatliche Erstausstattung „von 10 000 oder 15 000 Mark“ reicht kaum zur Einrichtung einer Gemeindekanzlei, heißt es in einem Rückblick der Heimatzeitung 1970. Die junge Kommunalverwaltung sieht sich schier unlösbaren Problemen und Aufgaben gegenüber: Straßen- und Wohnungsbau, Sozialwesen, Kirche, Friedhof, Feuerschutz. Eine Hauptsorge ist die Schulfrage. Für 230 Kinder stehen nur zwei Schulsäle zur Verfügung.

„Glück auf die Dauer hat nur der Tüchtige“

„Dass es den Männern im Rathaus gelang, trotz der anfangs nur spärlich fließenden Steuereinnahmen die Durststrecke der ersten Jahre nach der Gemeindegründung zu überwinden und den kommunalen Notwendigkeiten Rechnung zu tragen, ist eines der Wunder in der Geschichte Geretsrieds“, schreibt der Isar-Loisachbote damals. „Vielleicht ist es aber auch nur die Bestätigung des alten Sprichworts ,Glück hat auf die Dauer nur der Tüchtige.‘“ Für den Festzug zum zehnjährigen Bestehen der Gemeinde wünschen sich die Geretsrieder einen Festwagen von ihrer ehemaligen Muttergemeinde Gelting. Schusterbauer Sebastian Ambacher führt ihn mit einem schönen Pferdegespann an. Auf dem Wagen steht eine Wiege mit der Jahreszahl 1945 und ein stattliches Gemälde vom Ortsbild Gelting.

Serie

Zwei Geburtstage feiert Geretsried in diesem Jahr: 75 Jahre Gemeindegründung und 55 Jahre Stadterhebung. Dieses Jubiläum nimmt unsere Zeitung zum Anlass, historische und aktuelle Geschehnisse aus über sieben Jahrzehnten im Rahmen einer Serie zu beleuchten. Die einzelnen Folgen erscheinen in loser Reihenfolge.

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