Kämpfe um einzelne Baumreihen: Ukraine opfert sinnlos eigene Kräfte
Je älter der Krieg, desto jünger die Führung. Die Ukraine fängt offenbar an, Russlands Taktik zu kopieren und opfert Soldaten, die sie schonen müsste.
Kursk – Der Teil der Brigade, der in Kursk kämpft, „wurde im Laufe der drei Jahre“ des umfassenden Krieges Russlands gegen die Ukraine „dreimal ausgewechselt, aufgrund vergeblicher Befehle, eine Baumgrenze zu besetzen, was den Einsatz ganzer Kompanien kostete“ – „Konstantin“ berichtet dem Magazin Forbes von scheinbar unfassbar falschen Befehlen, die der 92. Sturmbrigade der Ukraine gegen die Invasionstruppen Wladimir Putins nicht nur einen Sieg beschert haben, sondern auch Verluste – vermeidbare Verluste.
Eine Kompanie sind etwas mehr als 100 Mann. Geopfert, wie „Konstantin“ sagt. Geopfert in „,sinnlosen‘ Angriffen auf wertlose Baumreihen“, wie Forbes-Autor David Axe schreibt. „Konstantin“ beschreibt einen Zustand, der sich in der russischen Armee von Anfang an und systemimmanent gezeigt hat, aber in der Ukraine zunehmend an Bedeutung gewinnt: die Kopflosigkeit der militärischen Führung. Oder deren Ungeduld.
Ukraine-Krieg stagniert: „Dieser Krieg hat sich zu einem Krieg um Baumreihen entwickelt.“
Der Krieg in der Ukraine ist inzwischen längst das, was er nie werden sollte: ein Stellungskrieg, der sich von Schützengraben zu Schützengraben zieht und viel Bewegung mit wenig Raumgewinn belohnt. „Dieser Krieg hat sich zu einem Krieg um Baumreihen entwickelt. Die Unterschiede in den Frontverläufen erschöpfen sich in ein paar Hundert Metern“, urteilen Michael Kofman und Rob Lee. Im Online-Magazin War on the Rocks hatten sie der Gegenoffensive der Ukraine gute Chancen eingeräumt, denn nach Auffassung der Autoren spielten ihnen die russischen Besatzer in die Karten.
„Da weder die Ukraine noch ihre Partner die vollständige Niederlage und Besetzung Russlands anstreben, wird Russland auch nach der Befreiung aller ukrainischen Gebiete die Fähigkeit behalten, die Aggression gegen die Ukraine fortzusetzen, von ihrem Territorium aus militärische Operationen durchzuführen und Raketen- und Bombenangriffe auf die zivile Infrastruktur zu starten“
Das hat sich inzwischen kolossal geändert, weil der Ukraine die Schwungmasse fehlte, um Russland aus der Bahn zu katapultieren, und mittlerweile ist die einzige Frage die, wem als erster Kriegspartei die Mittel ausgehen, um diesen Krieg weiterzuführen – das lässt sich an praktisch jedem Gefecht aufs Neue ablesen, wie auch Forbes wieder dargestellt hat. Mit einer Kombination aus Drohnen, Minen, Raketen und Artillerie hätten die 47. Mechanisierte Brigade und die 92. Sturmbrigade der ukrainischen Armee kürzlich einem russischen Angriff auf ihre Stellungen in der westrussischen Region Kursk nicht nur standgehalten.
Sie zerstörten sie sogar und hinterließen einen Waldstreifen, übersät mit toten Russen. Allerdings kritisiert der Veteran „Konstantin“, unter einigen ukrainischen Kommandeuren bestehe die gefährliche Tendenz, davon auszugehen, dass Einheiten, die in der Verteidigung effektiv seien, auch zum Angriff bereit seien, wie er gegenüber Forbes geäußert hat. Unter dem jetzt ins vierte Jahr steuernden Ukraine-Krieges sind auch das ukrainische Unteroffiziers- und Offiziers-Korps ausgeblutet.
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Ukraine in der Zwickmühle: Gezwungen zu einem russischen Weg der Kriegsführung
Neben den allgemeinen Schwierigkeiten der Ukraine, Mannschaften zu rekrutieren, hat der Wissenschaftliche Dienst des US-Kongresses Ende vergangenen Jahres festgehalten, dass Herausforderungen auch darin bestehen, Offiziere ins Stabsfunktionen auszubilden, um Operationen zum Erfolg zu führen und die verschiedenen Truppenteile zu verzahnen. Dieser Mangel zwinge nach Meinung der Wissenschaftler zur Notwendigkeit, Entscheidungen zu zentralisieren und daher zu bremsen. Das führe zu einem russischen Weg der Kriegsführung, gegen den die Ukraine sich bisher gut behauptet habe.
Nur solange die Ukraine ihren eigenen Weg fortsetzt, hat sie demnach eine Chance auf einen einigermaßen akzeptablen Ausgang des Krieges. „Es ist offensichtlich, dass die Beendigung des Krieges mit Russland nur möglich ist, wenn der Aggressor nicht mehr in der Lage oder willens ist, ihn fortzusetzen, und gezwungen ist, seine Truppen aus der Ukraine abzuziehen, ob mit oder ohne Abschluss eines neuen Friedensabkommens“, schrieb Mitte vergangenen Jahres Oleksandr V. Danylyuk.
Kursk: Ukraine tut, was sie tun muss, um günstige Bedingungen für einen zukünftigen Frieden zu schaffen
Der Analyst des britischen Thinktanks Royal United Services Institute (RUSI) fordert eine Gesamtstrategie, die alle der Ukraine und ihren Partnern zur Verfügung stehenden Mittel umfasse, auch nichtmilitärische. „Die militärische Strategie als wichtigster Teil der Gesamtstrategie sollte wiederum darauf ausgerichtet sein, Russland durch den Einsatz der Streitkräfte unannehmbaren Schaden zuzufügen“, schreibt Danylyuk. Das mag über die Bedeutung einer Baumreihe hinausgehen.
Die Gegenoffensiven bei Kursk, die „Konstantin“ beschreibt, sind ein solches Beispiel für fehlende militärische Weitsicht. „Eine Gruppe der besten Glasfaserdrohnen Russlands beschoss die ungeschützten ukrainischen Fallschirmjäger, verursachte schwere Verluste und vereitelte den unüberlegten Angriff“, wie Forbes-Autor David Axe geschrieben hat – dasselbe sei der 92. Sturmbrigade mehr als einmal passiert, notiert Forbes.
Möglicherweise sei auch unmöglich, eine eigene Strategie zu entwickeln, weil Russland eher agiert und die Ukraine zur Reaktion zwingt. „Konstantin“ räumt ein, dass beispielsweise die 92. Angriffsbrigade bei Kursk das ihr Mögliche geleistet hätte, mit den vorhandenen Waffen in einem verteidigungsfähigen Gelände den russischen Angriffsgruppen die größtmöglichen Verluste beizubringen. „Sie tut, was sie tun muss, um günstige Bedingungen für einen zukünftigen ausgehandelten Frieden oder, falls das nicht gelingt, einen eventuellen ukrainischen Angriff auf die geschwächten Russen zu schaffen“, schreibt Forbes-Autor Axe.
Opfer inklusive? Für die ukrainischen militärischen Führer stellt sich die Frage nach Chancen oder Schutz
Für die ukrainischen militärischen Führer stellt sich also generell die Frage nach Chancen oder Schutz. In Pokrowsk und am Dnipro haben ukrainische Truppen immer wieder die Front zurücknehmen und verkürzen müssen, um ihre Verteidigungspositionen zu verbessern. An Angriff ist dabei selten zu denken. Für die Ukraine gilt eher, den Krieg zu verlängern, bis Russland zum Einlenken gezwungen wird. Weil die Russen eben genau die gleiche Taktik verfolgen: Bestes Beispiel sind Kofman und Lee zufolge die russischen Gegenstöße. Kofman: „Diese Gegenstöße zehren nicht nur das Material aus, sondern auch die Truppenstärke.“ Zwar ließen die Russen ihre Truppen rotieren, aber sie tauschten nur erschöpfte gegen ausgemergelte Einheiten aus.
Möglicherweise verfolgt auch Präsident Wolodymyr Selenskyj eine Strategie, die den tatsächlichen Verhältnissen kaum noch gerecht wird – oder von Anfang an nie hätte gerecht werden können, wie Oleksandr Danylyuk nahelegt. Ihm zufolge strebe die Ukraine, die Befreiung des gesamten Territoriums des Landes an“, wie er schreibt und was auch in Präsident Selenskyjs „Siegesplan“ angedeutet worden war. Was dazu führte, dass tatsächlich um jede Baumreihe gekämpft werden müsste.
Putins böser Schatten: Befreiung des Territoriums nicht unbedingt das Ende des Krieges
So verständlich das auch sein mag, ignorierte das „jedoch die Tatsache, dass die Befreiung des Territoriums nicht unbedingt das Ende des Krieges bedeutet“, wie Danylyuk formuliert „Da weder die Ukraine noch ihre Partner die vollständige Niederlage und Besetzung Russlands anstreben, wird Russland auch nach der Befreiung aller ukrainischen Gebiete die Fähigkeit behalten, die Aggression gegen die Ukraine fortzusetzen, von ihrem Territorium aus militärische Operationen durchzuführen und Raketen- und Bombenangriffe auf die zivile Infrastruktur zu starten“, schreibt er für das RUSI.
Angesichts eines drohenden Durchmarsches der russischen Invasionskräfte gen Westen bei Pokrowsk hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beispielsweise zu reagieren versucht, wie Reuters meldet. Laut der Nachrichtenagentur soll er einen der ranghöchsten Generäle des Landes und Chef der Landstreitkräfte neu mit der Bereinigung der Angelegenheit betraut haben. Reuters meldet, Mychailo Drapatyi sei jetzt Leiter des strategischen Kommandos, das einen großen Teil der Frontlinie, darunter auch Pokrowsk, überwache.
Für den einfachen Soldaten dennoch eine schwierige Situation – selbst wenn er den Kampf um die einzelne Baumreihe für sinnlos hält, hat er seinen Befehlen zu gehorchen. Bis eine tragfähige Lösung gefunden würde. In der Zwischenzeit, so drängte er gegenüber Forbes, „sollten die Kommandeure dem Schutz des Lebens unserer erfahrenen Truppen höchste Priorität einräumen“. (KaHin)