„Merz ähnelt Merkel mehr, als ihm lieb sein kann“ – Warnung vom Experten zur Kanzlerschaft

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Der wohl bald neue Kanzler Friedrich Merz und Kanzlerin a. D. Angela Merkel © picture alliance/dpa | Kay Nietfeld

Der nächste Bundeskanzler heißt wahrscheinlich Friedrich Merz. Der Sauerländer hat überraschend viel mit jener Frau zu tun, die lange seine Rivalin war: Angela Merkel.

Seit Mittwoch gibt es eine Einigung der Spitzen von SPD, CDU und CSU. Während die CSU den Koalitionsvertrag schon durchgewunken hat, stimmen bei der SPD noch die Mitglieder ab, und bei der CDU wird das bei einem kleinen Parteitag Ende April passieren. Dann ist der Weg frei für Friedrich Merz als Kanzler.

In einem Gastkommentar erklärt Wolfgang Herles den zukünftigen Kanzler. In seiner 40-jährigen Karriere bei BR und ZDF moderierte er bekannte Formate wie „Bonn direkt“ und produzierte zahlreiche Dokumentationen über einflussreiche Menschen wie Helmut Kohl oder Bill Gates. Zuletzt erschien seine Autobiografie: „Gemütlich war es nie. Erinnerungen eines Skeptikers“ (Verlag: Langen-Müller).

Kanzler werden ist etwas anderes als Kanzler sein. Friedrich Merz ist zwar am Ziel seiner Ich-werde-es-Merkel-zeigen-Träume, und Hartnäckigkeit kann man ihm dabei nicht absprechen. Aber der Preis, den er dafür zu zahlen bereit ist, scheint ihm gleichgültig zu sein. What ever it takes. Wer gesehen hat, wie routiniert – um nicht zu sagen lustlos – er gleich bei der Verkündung der neuen Koalition ein paar Programm-Punkte herunter geleiert hat, muss daran zweifeln, dass Merz mehr sein will als Präsident einer Regierung, nämlich ihr Anführer und Richtungsgeber.

Um die eigentliche Politik, um die ideologische Spaltung des Landes, um die Erneuerung einer im Niedergang befindlichen Republik, also um tausend „Kleinigkeiten“, sollen sich andere kümmern. Merz ähnelt Merkel mehr, als ihm lieb sein kann. Er geht notwendigem Streit schon jetzt aus dem Weg, hält fest am Linksrutsch seiner Partei. Abgesehen von Außenpolitik, um die er sich federführend kümmern wird, besteht er vermutlich nie darauf, geradeaus zu gehen, und wie versprochen seinen Überzeugungen zu folgen. Unverhandelbare Überzeugungen scheint Merz gar nicht zu kennen.

„Der Koalitionsvertrag ist kein Dokument des gegenseitigen Vertrauens“

Der Vertrag zwischen Unionsparteien und SPD ist kein Dokument des gegenseitigen Vertrauens. Das Misstrauen ist diesem ausufernden Ankündigungskompromiss anzusehen. Weder Konrad Adenauer noch Helmut Kohl, weder Willy Brandt noch Helmut Schmidt benötigten 143 Seiten für ihre Koalitionsvereinbarungen. Da steht viel Klein-Klein, aber kein Leitbild, so etwas wie „mehr Demokratie wagen!“. Davon kann auch keine Rede sein. Im Gegenteil.

Es ist einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik, dass die Koalition das Stärkeverhältnis der Koalitionspartner (28:16) nicht abbildet, sondern die kleinere Partei im Wesentlichen den Kurs bestimmt und sich darüber hinaus auch mehr Kabinettsposten (10:7) sichert. Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil, der ein historisch schlechtes Wahlergebnis zu verantworten hat, steht nicht als Vize- , sondern als Nebenkanzler im Rampenlicht. Er spuckt großen Töne, etwa über die „Neuvermessung der Welt“. Zu notwendigen Neuvermessung der Berliner Republik aber kaum eine Silbe. Es fehlt das Vertrauen in seine vollmundige Ankündigung, das Leben der Bürger „einfacher und gerechter“ zu machen.

Wolfgang Herles ist ein renommierter deutscher Schriftsteller und Journalist. In seiner 40-jährigen Karriere beim BR und ZDF moderierte er bekannte Formate wie „Bonn direkt“ und „Das Blaue Sofa“. Er verfasste kritische Romane und Sachbücher, darunter den Bestseller „Wir sind kein Volk“.

Herles leitete das ZDF-Kulturmagazin „aspekte“ und produzierte zahlreiche Dokumentationen. Der promovierte Literaturwissenschaftler ist bekannt für seine gesellschaftskritischen Werke und seine Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Journalist Wolfgang Herles
Journalist Wolfgang Herles © privat

„ Die Mehrheit der Wähler wollte einen Politikwechsel“

Der Koch kellnert. Und der Kellner schreibt die Speisekarte. Es ist Schonkost. Nicht ungesund, aber um das geschwächte Land wieder aufzupäppeln, ist dieses Programm zu dünn. Ein neues Ministerium bedeutet noch mehr Bürokratie, der Sozialstaat, steht zu befürchten, wird weiter aufgebläht statt zukunftssicher gemacht, die Bürger werden weiter ausgenommen. Von einer Abkehr von der falschen Energie- und Migrationspolitik, von einer Modernisierung des Staates steht wenig auf dem Papier. Kommissionen sollen gebildet werden. Es wäre schon viel erreicht, wenn dieser Staat seine Bürger tatsächlich in Zukunft nicht mehr „belehren und erziehen“ würde, wie Markus Söder verspricht. Zuversicht aber sieht anders aus.

Die Regierung, das ist ihr großes Handicap, spiegelt nicht das wahre Ergebnis der Bundestagswahlen. Die Mehrheit der Wähler wollte einen Politikwechsel von Links-Grün nach Mitte-Rechts. Bekommen hat sie Mitte-Links, weil ein Viertel der Abgeordneten nicht mitspielen darf. Das Festhalten an der Brandmauer ist der eigentliche Kitt der Koalition. Davon profitieren die AfD – die die Unionsparteien inzwischen eingeholt hat – und natürlich auch die linken Parteien, die weiter den politischen Diskurs dominieren. Denn die CDU ist auf sie angewiesen. Ein Sieg der Demokratie ist das nicht.

„Merz steht für das Gegenteil von Disruption“

Man hat es ja gesehen: Die wichtigsten Entscheidungen, die Grundgesetzeingriffe zulasten solider Finanzen und zugunsten sogenannter Klimaneutralität, hat diese Koalition noch mit dem alten Bundestag getroffen - und treffen müssen. Die Demokraten erwiesen sich damit nicht gerade als Musterdemokraten. Der neue Bundestag darf bisher noch nicht diskutieren - obwohl doch Trumps Disruption gerade die Welt durchrüttelt.

Merz steht für das Gegenteil von Disruption. Dafür zumindest sind ihm die Deutschen dankbar. Da ist viel Wanken zu spüren - aber kein Wandel. Das Osterhäslein, das der Zauberlehrling aus dem Zylinder gezogen hat, leidet an Magersucht. Wenn Merz schon nicht zaubern kann, so benötigt er jetzt wenigstens Fortune.

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