Sie kennen sie. Diese Menschen, die den Raum betreten, als gehöre er ihnen. Die andere klein machen, um größer zu wirken. Die charmant lächeln – und Ihnen dabei das Messer in den Rücken stecken. Und während Sie noch darüber nachdenken, ob Sie sich das eingebildet haben, wurden sie längst befördert.
Narzisstisches Verhalten wird im Berufsleben in der Regel nicht nur toleriert, sondern belohnt. In einer Welt, in der Lautstärke mit Kompetenz verwechselt wird, steigen genau jene auf, die sich am besten inszenieren – nicht unbedingt die, die am meisten beitragen. Was bedeutet das für empathische Menschen – und wie lässt sich ein gesunder Umgang mit diesem toxischen System finden?
Über Chris Oeuvray
Chris Oeuvray hat als langjährige psychologische Beraterin tiefen Einblick und umfangreiche Fachkenntnis zu Herausforderungen und Konflikten. Ihre Schwerpunkte sind Narzissmus und Mobbing. Ihr Ratgeber "Narzissmus – ohne mich" hilft Betroffenen von narzisstischem Missbrauch. Sie ist 1967 geboren und lebt mit Partner und Sohn in Zug (Schweiz).
Die Karriereleiter ist kein moralisches Klettergerüst
In vielen Unternehmen herrscht ein Klima, in dem Rücksichtslosigkeit als Entschlossenheit verkauft wird. Wer auf sein Bauchgefühl hört oder sich für Teamharmonie einsetzt, gilt als „zu weich“. Währenddessen übernehmen Personen das Ruder, die mehr daran interessiert sind, ihre Macht zu sichern als ein Team zu führen.
Eine Studie aus dem Jahr 2012 von der American Psychological Association APA bestätigt: Menschen mit narzisstischen Zügen haben bessere Chancen auf Führungspositionen – nicht, weil sie bessere Führungskräfte wären, sondern weil sie besser darin sind, sich als solche zu verkaufen. Sie reden mehr, sie unterbrechen mehr, sie beanspruchen Erfolge für sich. Und die Umgebung? Applaudiert.
Charisma schlägt Kompetenz – zumindest am Anfang
Viele narzisstische Führungskräfte überzeugen durch eine starke Außendarstellung. Sie wirken souverän, dominant, visionär. Doch unter der Oberfläche fehlt genau das, was gute Führung wirklich ausmacht: Empathie, Teamfähigkeit, echtes Interesse am Gegenüber.
Für Mitarbeitende kann das fatale Folgen haben: kreative Ideen werden blockiert, Mitarbeitende ausgebrannt, die Unternehmenskultur vergiftet. Und trotzdem dauert es Jahre, bis das Umfeld die wahren Motive erkennt – denn Narzissten sind Meister der Fassade.
Der größte Schaden entsteht nicht durch Aggression – sondern durch emotionale Kälte
Was viele übersehen: Narzisstische Führung zeigt sich nicht nur durch Lautstärke, Kontrollwahn oder Machtspiele. Der eigentliche Schmerz entsteht dort, wo Mitgefühl fehlt. Wo Menschen ignoriert, klein gemacht oder subtil beschämt werden – ohne dass es jemand laut ausspricht. Diese emotionale Kälte zerstört auf Dauer mehr, als offene Aggression.
Tipps für einen gesunden Umgang – die stille Rebellion der Empathie:
- Werden Sie nicht wie sie. Der größte Irrtum ist, Narzissmus mit Narzissmus zu kontern. Ihre Empathie ist keine Schwäche – sondern Ihre stille Superkraft.
- Kommunizieren Sie klar. Setzen Sie Grenzen in Ich-Botschaften und spiegeln Sie destruktives Verhalten auf wertschätzende Weise zurück.
- Suchen Sie Allianzen. Empathische Menschen wirken isoliert, dabei sind sie zahlreich. Tauschen Sie sich aus, unterstützen Sie sich gegenseitig – auch über Hierarchieebenen hinweg.
- Führen Sie anders. Wenn Sie selbst in Verantwortung sind: leben Sie den Unterschied. Führung darf menschlich sein. Und dennoch klar.
Die Besten sind nicht die Lautesten – sondern die, die Herzen berühren
Vielleicht wird es nie der Narzisst sein, der am lautesten lacht, der die Welt verändert. Sondern der Mensch, der still zuhört, bevor er spricht. Der Schwäche nicht verachtet, sondern versteht.
Lassen Sie sich nicht beirren: Empathie ist keine Karrierebremse – sondern das Fundament für eine neue, menschliche Arbeitswelt. Und wenn Sie das nächste Mal in einem Meeting übertönt werden, denken Sie daran: Nicht jedes Echo ist Inhalt – manche sind einfach nur laut.
Verschaffen Sie sich Gehör und Respekt: "Gerne möchte ich meinen Standpunkt zu Ende ausführen." und reden Sie bestimmt weiter, als ob es keine Unterbrechung gegeben hätte.
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Dieser Beitrag stammt aus dem EXPERTS Circle – einem Netzwerk ausgewählter Fachleute mit fundiertem Wissen und langjähriger Erfahrung. Die Inhalte basieren auf individuellen Einschätzungen und orientieren sich am aktuellen Stand von Wissenschaft und Praxis.