Umstrittene Olympia-Boxerin richtet verzweifelten Appell an Öffentlichkeit

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Den Boxerinnen Imane Khelif und Lin Yu-Ting wird ihr Geschlecht abgesprochen. Über eine sexistische Behauptung, für die es keine Beweise gibt.

Paris – Frauenboxen. Gewichtsklasse: Weltergewicht, also bis 66 Kilogramm. Eigentlich eine Randsportart. Selbst der Ort, an dem am späten Dienstagabend das Halbfinale von Olympia 2024 stattfand, ist größer als die Disziplin. Roland Garros, Court Philippe-Chatrier, die legendäre Tenniskathedrale von Paris. Doch an diesem Dienstagabend ist etwas anders, die Aufmerksamkeit ist größer als sonst. Viel größer.

Imane Khelif mittlerweile weltbekannt

Denn Imane Khelif, die an diesem Abend die Thailänderin Janjaem Suwannapheng souverän bezwingt, ist weltbekannt. Vor zwei Wochen noch kannte sie kaum jemand, 12.000 Leute folgten ihr auf Instagram. Zum Zeitpunkt des Halbfinales sind es 1,3 Millionen Follower. Und fast jede und jeder hat eine eigene Interpretation ihrer Geschichte.

Ihre wirkliche Geschichte scheint kaum noch zu interessieren. Deswegen sei sie zumindest mit wenigen Sätzen erzählt. Khelif wurde am 2. Mai 1999 in Sougueur geboren. Die Kleinstadt liegt im Nordwesten Algeriens. Dort leben etwas weniger als 80 000 Menschen und die meisten von der Landwirtschaft.

Imane Khelif kämpft am Freitagabend auf dem Court Philippe-Chatrier in Roland Garros um die Goldmedaille im Weltergewicht.
Imane Khelif kämpft am Freitagabend auf dem Court Philippe-Chatrier in Roland Garros um die Goldmedaille im Weltergewicht. © AFP

Imane Khelif plötzlich bei Olympia 2024 im Rampenlicht

Imane Khelif aber hatte eine andere Idee. Schon als Mädchen begann sie zu boxen. Sie hatte Talent – und einen Traum, der 2018 in Erfüllung ging. Sie debütierte bei den Amateurboxweltmeisterschaften. Endlich. Doch es lief nicht wie erhofft, in der ersten Runde schied sie aus. Ihre Karriere lief schleppend an. Erst mit den Jahren stellten sich Erfolge ein. Zu den Olympischen Spielen in Paris reiste sie nicht als Überfliegerin. Ihre Bilanz bis dahin: 37 Siege und neun Niederlagen.

Vorige Woche dann, am Donnerstagnachmittag, veränderte sich alles. Imane Khelif traf Angela Carini im Gesicht, die Italienerin gab nach 46 Sekunden auf und verweigerte der Algerierin den Handschlag. Carini klagte über Schmerzen, sagte, sie sei noch nie so hart getroffen worden. Und in den sozialen Medien ging das Gelüge los.

J. K. Rowling behauptet, Khelif sei ein Mann

J. K. Rowling, die Harry-Potter-Autorin, behauptete, Khelif sei ein Mann, der Frauen schlage. Donald Trump behauptete, Khelif sei Transgender. Elon Musk stimmte zu, Zeitungen wie der „Boston Globe“ übernahmen diese Behauptungen. Alle ohne Beweise zu haben. Woher auch? Es gibt keine. Nur die International Boxing Association (IBA) behauptet, welche zu haben.

Dieser Verband ist allerdings hochumstritten. 2019 wurde er vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) wegen Korruptionsvorwürfen suspendiert. Seitdem organisiert das IOC die Boxwettbewerbe selbst. Die IBA wird vom russischen Konzern Gazprom gesponsort. Vorsitzender ist der ehemalige russische Boxer Umar Kremlew. Nach der Eröffnungsfeier in Paris veröffentlichte er ein Video, in dem er das IOC veunglimpft, der Italienerin Carini versprach er nach der Niederlage 50 000 Dollar.

Diese Truppe behauptet nun, man habe Khelif und die Taiwanerin Lin Yu-Ting – die um olympisches Gold im Federgewicht boxt – bei den IBA-Weltmeisterschaften 2023 auf ihr Geschlecht getestet und Khelif daraufhin ausgeschlossen. Die Testergebnisse wurden nie veröffentlicht. Unklar ist zudem, welcher Test das gewesen sein soll. Zunächst sprach Kremlew von einem DNA-Test, mit dem Chromosomen überprüft werden, später von einem Hormontest, mit dem ein erhöhter Testosteronspiegel nachgewiesen worden sei. Ohne Beweise blieb also nur die Behauptung übrig, Khelif und Lin seien keine Frauen. Und diese wird gerade millionenfach nachgeplappert.

Lin Yu-Tang kämpft am Samstagabend am selben Ort um die Goldmedaille im Federgewicht.
Lin Yu-Tang kämpft am Samstagabend am selben Ort um die Goldmedaille im Federgewicht. © AFP

Sportsoziologin sieht sexistische Debatte

Wie kann das sein? Einen Erklärungansatz dafür hat Ilse Hartmann-Tews. Sie ist Sportsoziologin an der Deutschen Sporthochschule Köln und forscht seit Jahrzehnten zu Geschlechterverhältnissen im Sport. „Zunächst“, sagt sie im Gespräch mit der FR, „ist Geschlecht viel zu komplex, um es mit Chromosomen- oder Hormontests messen zu können.“ Und das, was wir gerade erleben, sei eine sexistische Debatte. Das erkenne man unter anderem daran, dass „Frauen immer dann zum Verdachtsfall werden, wenn sie außerordentliche Leistungen erbringen. Bei Männern hingegen – siehe Michael Phelps oder den schwedischen Hochspringer Armand Duplantis – kommt man gar nicht auf die Idee, aufgrund physischer Besonderheiten die Frage zu stellen, ob der Wettbewerb fair zugeht.“

Was hält Ilse Hartmann-Tews jenen entgegen, die behaupten, Imane Khelif gefährde den fairen Wettbewerb? „Schauen wir auf Olympia“, sagt sie. „Die Leute kommen natürlich mit einem unterschiedlichen genetischen Potenzial, sie haben unterschiedliche Trainingsbedingungen, unterschiedlichen Zugang zu wissenschaftlichen Methoden. Es ist sowieso eine Fiktion, dass es fair zugeht.“

Khelif richtet verzweifelten Appell an Öffentlichkeit

Außerdem sei es bei einer binären Aufteilung wie im Sport so, dass Menschen in einer der beiden Wettbewerbskategorien natürlich unterschiedlich sind. „Menschen kommen mit verschiedenen Mosaiksteinchen zur Welt, eben auch mit unterschiedlichen Umfängen von Sexualhormonen und einer unterschiedlichen Komposition von Chromosomen.“ Sowohl Männer als auch Frauen seien heterogen. Damit tue sich der Sport, in dem eine starre Hierarchie von starken Männern und schwachen Frauen impliziert werde, schwer. Doch das IOC habe eine gute Haltung entwickelt.

Das IOC stellt Khelifs und Lins Geschlecht nicht infrage. Entscheidend sei das im Pass vermerkte Geschlecht, sagt Sprecher Mark Adams und fügt hinzu: Bis in die 60er Jahre mussten Leichtathletinnen nackt vor Ärzte treten, um ihr Geschlecht zu beweisen. In diese Zeiten wolle man nicht zurück. Das IOC priorisiert also die freie Entfaltung der Genderpersönlichkeit auch im Sport.

Und was sagt Khelif dazu? Wenig. In einem Interview mit der AP warnte sie allerdings: „Hört auf, Sportler und Sportlerinnen zu mobben. Das kann Menschen zerstören.“ Und: „Ich habe acht Jahre auf diese Olympischen Spiele hingearbeitet.“ Diesen Moment will sie sich nicht nehmen lassen. Von niemandem.

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