Syrer nach Assad-Sturz ausfliegen: Für Deutschland „wenig Sinn“ – und so schnell gar nicht möglich
Unionspolitiker fordern nach dem Assad-Sturz eine Rückkehr syrischer Geflüchteter. Experten sagen: Das ist kaum möglich – und auch nicht gut für Deutschland.
Berlin – Kaum 24 Stunden nach dem Sturz von Diktator Baschar al-Assad in Syrien entbrannte in Deutschland die Flüchtlingsdebatte. Unionsfraktionsvize Andrea Lindholz (CSU) forderte einen Aufnahmestopp von Geflüchteten aus Syrien, und CDU-Politiker Jens Spahn will am liebsten möglichst viele Syrer in Charterflugzeugen zurückschicken. Kritik gab es aus den anderen Fraktionen. Michael Roth etwa, außenpolitischer Sprecher der SPD, nannte die Forderungen Populismus.
Abseits potenzieller Wahlkampfrhetorik: Wie realistisch sind Forderungen nach Aufnahmestopp und Syrien-Rückkehr? Und ist es überhaupt sinnvoll, die Menschen aus Deutschland wegzuschicken? Der Wirtschaftswissenschaftler Tilman Brück forscht seit 2007 zu Syrien sowie zu den Folgen des langjährigen Kriegs dort. Er hält die Debatte für unsinnig. „Erst einmal muss klar sein, dass viele Menschen Jahrzehnte unter dem extrem brutalen Assad-Regime gelitten haben“, so Brück im Gespräch mit IPPEN.MEDIA. Über 50 Jahre lang war Syrien unter Assad-Herrschaft. „Die DDR hat nicht so lange existiert“, macht der Experte klar. Für Millionen Menschen sei der Sturz Assads eine gute Nachricht.
Nach Assad-Sturz: Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien?
Aber: „Die Situation im Land ist völlig unübersichtlich. Es gab einen tiefgreifenden Strukturbruch, keine plötzliche Sicherheit über Nacht.“ Es sei möglich, dass aus den Rebellen vernünftige Staatslenker würden. „Aber Rebellen können auch Diktatoren werden, wie in Kuba, Nicaragua oder in vielen afrikanischen Ländern wie Simbabwe, Mosambik oder dem Kongo“, sagt Brück.
Klar ist: Das syrische Bündnis Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS), das zusammen mit anderen Gruppierungen Assad gestürzt hat, ist eine islamistische Miliz. Einige der Hauptgründungsmitglieder von HTS haben ihren Ursprung in der Terrororganisation al-Qaida.
Vor allem die Absolutheit, mit der die Debatte geführt werde, gehe am Thema vorbei, findet Brück. „Es gibt bei der Aufnahme von Geflüchteten drei Optionen und nicht nur eine. Erstens: Integration ins Gastland. Zweitens: Rückkehr. Und drittens: Viele Geflüchtete ziehen auch weiter in andere Länder“, so der Experte. „Rein volkswirtschaftlich betrachtet würde es auch für Deutschland wenig Sinn ergeben, alle hier lebenden Syrer zurückzuschicken. Viele leben seit Jahren hier, arbeiten und zahlen Steuern. Deutschland hat enormen Fachkräftemangel und kann die Arbeitskräfte gut brauchen.“ In Syrien hingegen gebe es derzeit keine Jobs und keine Perspektiven.
Syrien als sicheres Herkunftsland: „Der Prozess benötigt eine Bundestagsentscheidung“
Neu sei, dass Exil-Syrer jetzt wieder in Syrien einreisen könnten, um Verwandte zu besuchen, die sie Jahre oder Jahrzehnte nicht gesehen haben. „Und sie bringen Geld für den Wiederaufbau mit, das sie im Ausland verdienen.“ Die Geldsumme, die Exilanten zum Wiederaufbau ihrer Heimatländer beisteuerten, sei viel höher als jene, die die internationale Entwicklungshilfe aufbringe.
Die Migrationsforscherin Birgit Glorius von der TU Chemnitz bringt noch einen anderen Aspekt ins Spiel: Von heute auf morgen wäre ein genereller Aufnahmestopp und ein Zurückschicken sowieso nicht möglich. Denn Syrien müsste dazu als sicheres Herkunftsland definiert werden. „Das bedeutet, dass sich ein demokratisches System mit den dazu gehörenden Institutionen etabliert und es einen klaren rechtlichen Rahmen zum Schutz von Minderheiten und Schutz vor nichtstaatlicher Gewalt gibt“, erklärt Glorius im Gespräch mit IPPEN.MEDIA. Angesichts der derzeitigen Lage sei nicht abzusehen, wann sich diese Stabilisierung einstelle. Und: „Der Prozess benötigt eine Bundestagsentscheidung mit entsprechendem Vorlauf, also der Erstellung einer Gesetzesvorlage und Beratungen hierzu.“
Unseriöse Syrien-Rückkehrforderungen „vor dem Hintergrund des Wahlkampfes“
Glorius nennt die Vorstellung, einen Großteil der in Deutschland lebenden Syrerinnen und Syrer aufgrund der geänderten Lage nach Syrien zurückführen, illusorisch. „Viele besitzen einen festen Aufenthaltsstatus, der nicht mehr an die ursprüngliche Asylentscheidung gekoppelt ist. Viele sind sogar bereits eingebürgert.“ Aus migrationswissenschaftlicher Sicht sei eine freiwiliige Rückkehr von Syrerinnen und Syrern in den nächsten Jahren erwartbar, sofern sich die Lage in Syrien stabilisiere. „Schätzungen zu den Größenordnungen sind aber unseriös“, so Glorius.
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Ähnlich äußerte sich der Vorsitzende des Sachverständigenrats für Integration und Migration, Hans Vorländer, auf Nachfrage. So sei das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nach Paragraf 73 des Asylgesetzes zwar verpflichtet, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen dafür nicht mehr vorliegen. „Das ist aber erst dann der Fall, wenn sich die Verfolgungssituation dauerhaft geändert hat und nicht mehr besteht, sodass den Rückkehrenden keine Gefahren mehr drohen. Das kann seriös derzeit niemand sagen, entsprechende Forderungen sind daher vor dem Hintergrund des beginnenden Wahlkampfes zu sehen.“