Warum Deutschland bei der Rente endlich ehrlich werden muss
Das deutsche Rentensystem basiert seit seiner Einführung durch Bundeskanzler Adenauer auf dem Umlageverfahren (Reichskanzler Bismarck hatte zwar das System der Rentenabsicherung im Jahr 1889 eingeführt, aber nicht das heute geltende System der Umlagefinanzierten Rente): Die arbeitende Generation finanziert durch ihre Beiträge die laufenden Rentenzahlungen der Ruheständler. Dieses System funktionierte über Jahrzehnte hinweg stabil – solange das demografische Verhältnis stimmte. Doch mit steigender Lebenserwartung, sinkender Geburtenrate und dem bevorstehenden Ruhestand der Babyboomer gerät die Statik ins Wanken.
Rente am Limit
Der Freiburger Ökonom Prof. Bernd Raffelhüschen warnt seit Jahrzehnten: Ohne eine Reform drohen entweder drastisch steigende Beitragssätze, sinkende Rentenniveaus oder massiv wachsende Steuerzuschüsse. Schon heute fließt jeder fünfte Bundeshaushalts-Euro in die Rentenkasse. Die Politik verspricht dennoch weiterhin stabile Renten mit stabilen Beiträgen – ein „demografischer Offenbarungseid“, so Raffelhüschen, oder, wie es Gabor Steingart in seinem 2004 erschienen Buch: Deutschland, Abstieg eines Superstars, noch drastischer formulierte: ein Betrug am Beitragszahlenden Wähler, für den sich jeder Wirtschaftsteilnehmer einer strafrechtlichen Verantwortung unterziehen müsste.
Katherina Reiche, Staatssekretärin und CDU-Politikerin, wagt nun den Tabubruch und spricht aus, was viele nur denken: Deutschland muss länger arbeiten – und ehrlich über die Rente mit 70 sprechen.
Sechs Gründe, warum Reiche recht hat:
1. Demografie schlägt Ideologie
Ab 2025 geht jedes Jahr eine Million Babyboomer in Rente – das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentenempfängern kippt. Schon 2035 muss ein Erwerbstätiger rechnerisch mehr als einen Rentner mitfinanzieren. Reiche erkennt: Ein immer größerer Ruhestand bei gleichzeitig immer längerer Lebenserwartung ist für ein Umlagesystem schlicht nicht mehr finanzierbar. Das ist es übrigens schon seit Jahrzehnten nicht mehr, denn seit über 25 Jahren müssen Renten mit Steuergeldern subventioniert werden.
2. Länger leben heißt auch länger arbeiten
Laut Statistischem Bundesamt steigt die durchschnittliche Lebenserwartung pro Jahrzehnt um ca. zwei Jahre. Reiche fordert daher: Das Rentenalter soll an die Lebenserwartung gekoppelt werden. Das wäre gerecht – wer mehr geschenkte Jahre hat, kann auch länger erwerbstätig bleiben. Modelle wie in Dänemark zeigen, dass das praktikabel ist. Und Ausnahmeregelungen für Einzelfälle (der von der SPD immer wieder bemühte Dachdecker) können immer gefunden werden.
3. Aktivrente statt Zwangsmaßnahme
Reiche schlägt keine starre Rente mit 70 vor, sondern eine „Aktivrente“: Wer freiwillig länger arbeitet, erhält lohnenswerte Anreize – etwa höhere Rentenansprüche oder Steuererleichterungen. Studien zeigen, dass viele Menschen bereit wären, bis 69 oder 70 zu arbeiten, wenn Arbeitsbedingungen und Honorierung stimmen. Noch soll es also gar nicht um einen grundsätzlichen, erzwungenen Paradigmenwechsel gehen: sondern um die Schaffung eines politischen Rahmens, innerhalb dessen das Prinzip der Freiwilligkeit gilt, der die systemrelevanten Teilnehmer durch entsprechende finanzielle Anreize dazu animiert, während der auf den Ruhestand ausgerichteten transitorischen Phase weiter zu arbeiten und sich damit systemproduktiv zu verhalten.
4. Produktivität allein wird nicht reichen
Arbeitsministerin Bärbel Bas setzt genauso wie ihr Vorgänger Hubertus Heil auf höhere Produktivität und mehr Erwerbsbeteiligung. Doch laut Raffelhüschen ist das Wunschdenken: „Auch mit KI wird niemand doppelt so viel in die Rentenkasse einzahlen.“ Ohne längere Lebensarbeitszeit bleibt das Loch bestehen – auf Dauer nur durch höhere Steuern oder Beiträge zu schließen.
5. Der Generationenvertrag braucht Ehrlichkeit
Adenauers Modell war nie dafür gemacht, einen 30-jährigen Ruhestand zu finanzieren. Wer den Generationenvertrag retten will, muss ihn weiterentwickeln – nicht einfrieren. Während der unter Kanzler Schröder eingeführte Nachhaltigkeitsfaktor (gekoppelt mit dem wenig später hinzugefügten Nachholfaktor) noch eine Rentenkürzung bzw. Senkung des Rentenniveaus zur Stabilisierung des Rentensystems zum Prinzip hatten, betont Reiche: Es geht nicht um Rentenkürzung, sondern um Stabilisierung. Nur so bleibt das System auch für junge Generationen tragfähig.
6. Politische Courage statt Phrasen
Die politische Kritik an Reiche ist laut – auch aus der eigenen CDU. Doch die nüchterne Analyse spricht genauso wie die absolute Mehrheit der Rentenexperten für sie. Sie bringt den Mut auf, offen über das zu reden, was viele hinter verschlossenen Türen längst wissen. In einer Politiklandschaft voller Verdrängung ist das ein überfälliger Impuls.
Fazit
Reiche hat recht: Wer ehrlich auf die Zahlen schaut, kann die strukturelle Überforderung des Umlagesystems nicht länger leugnen. Die Diskussion um die Zukunftsfähigkeit und Stabilität des Rentensystems ist so alt wie ihre Grundsteinlegung selbst. Schon damals haben aufmerksame Kritiker (wie etwa Neil Breuning) angemerkt, dass das Prinzip der bruttolohndynamischen Rente gefährdet ist, wenn die Leute eben nicht mehr immer Kinder bekommen (so noch Adenauer, obschon bereits 1956 die Geburtenrate nur noch bei 2,35 lag, heute übrigens nur noch bei 1,35). Aber: statt einer trägen Debatte über Produktivität, Zuwanderung und Beitragszuschüsse braucht es eine mutige Weiterentwicklung des Rentensystems – mit mehr Lebensarbeitszeit, besseren Arbeitsmodellen für Senioren und einem tragfähigen Generationenvertrag. Die „Aktivrente“ ist dabei ein erster sinnvoller Schritt. Und übrigens: das alte Schlitzohr Bismarck wusste es schon damals besser: bei seinem Rentenmodell gelangte man erst im Alter von 70 in das Privileg eines Rentenbezuges.