Einen Monat nach dem Aus - Die große Ampel-Bilanz: Was die Koalition alles erreicht hat - und was nicht
Nach dem Ampel-Aus warfen sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und sein früherer Finanzminister Christian Lindner (FDP) gegenseitig vor, das Wohl des Landes zu gefährden. Angesichts dieser hässlichen Scheidung gerät leicht in Vergessenheit, dass die Ampelkoalition zu Beginn auch Erfolge feierte.
Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine brach Scholz mit der naiven Russland-Politik der vergangenen Jahrzehnte. Er postulierte eine „Zeitenwende“ und organisierte über ein Sondervermögen 100 Milliarden Euro zusätzlich für die Bundeswehr.
Unter Scholz’ Anleitung fand die Bundesregierung zudem schnelle Antworten auf die Energiekrise. Danach begann angesichts der abnehmenden finanziellen Spielräume der Dauerstreit um den Bundeshaushalt. Dennoch wurden in den einzelnen Ressorts auch Fortschritte erzielt.
Arbeit & Soziales
Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat das Bürgergeld als neues Grundsicherungssystem eingeführt. Es dürfte eines der meist diskutierten Gesetzesprojekte der Ampel sein. Das Rentenpaket II hingegen, das ebenfalls eine große Weichenstellung gewesen wäre, wird nicht mehr kommen.
Das SPD-Wahlversprechen, den Mindestlohn auf 12 Euro zu erhöhen, hat Heil umgesetzt (seitdem stieg der Mindestlohn weiter und wird ab Januar 2025 bei 12,82 Euro liegen.) Es wurde eine Ausbildungsgarantie für junge Menschen eingeführt und die Zahl der Kinderkrankentage für Eltern erhöht.
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Auswärtiges Amt
Im Auswärtigen Amt (AA) werden nur wenige Gesetze geschrieben. Zwei wichtige Dokumente sind unter Federführung des AA in den ersten anderthalb Ampeljahren dennoch entstanden.
Mit der nationalen Sicherheitsstrategie wurde diese Aufgabe erstmals umfassend definiert und angegangen – nicht nur militärisch, sondern auch in Bezug auf die zu überwindende Anfälligkeit kritischer Infrastrukturen oder den notwendigen Ausbau des Zivilschutzes. Mit der neuen China-Strategie hat die Bundesregierung erstmals darüber nachgedacht, wie die Abhängigkeit von der Volksrepublik verringert werden kann.
Wenn angesichts des Krieges in der Ukraine überhaupt von diplomatischen Erfolgen gesprochen werden kann, dann dürfte am ehesten dazugehören, dass Außenministerin Annalena Baerbock mehr als Kanzler Scholz zu einer Verbesserung der Beziehungen mit Kiew selbst, aber auch mit vielen mittel- und osteuropäischen Staaten beigetragen hat.
Im Nahen Osten gelang es immerhin, Gesprächsfäden aufrechtzuerhalten, obwohl Baerbock diesbezüglich quasi von allen Seiten angefeindet wird – den einen gilt sie für eine deutsche Chefdiplomatin als zu kritisch gegenüber Israel, den anderen als zu freundlich. Eine Hauptrolle spielt Berlin nicht: Die zuletzt vereinbarte Waffenruhe im Libanon vermittelten Amerikaner und Franzosen.
Bauen und Wohnen
Klara Geywitz leistete Aufbauarbeit. Die SPD-Politikerin schuf das 1998 abgeschaffte Bauministerium neu. Der Etat des Hauses wuchs von 4,9 Milliarden Euro 2022 auf 10,4 Milliarden Euro in diesem Jahr. Insbesondere den sozialen Wohnungsbau hat Geywitz angekurbelt. Von 2022 bis 2027 will der Bund 18 Milliarden Euro investieren. Doch noch immer fallen mehr Sozialwohnungen aus der Preisbindung als neue entstehen.
Geywitz führte auch die 1990 abgeschaffte Wohngemeinnützigkeit wieder ein. Steuervorteile sollen dafür sorgen, dass Unternehmen, Vereine oder gemeinnützige Stiftungen dauerhaft günstige Wohnungen schaffen. Laut Mieterverbänden gibt es aber nur rund 100 Körperschaften, die davon profitierten.
Vom großen Ziel – 400.000 neue Wohnungen pro Jahr schaffen – ist Geywitz weit entfernt. Um die Wohnungsnot zu lindern, erhöhte die Bauministerin aber zumindest das Wohngeld und dehnte den Kreis der Anspruchsberechtigten aus.
Bildung
24 Sekunden: So lange würdigte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Amtszeit von Bildungs- und Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger bei deren Entlassung. Sie habe das Bafög reformiert, eine Exzellenzinitiative für berufliche Bildung angestoßen und KI gefördert.
Zu ergänzen wäre das Start-Chancen-Programm: eine Förderung von 4000 Brennpunktschulen über zehn Jahre. Vieles blieb unfertig, allem voran der Digitalpakt. Am Bafög gab es indes massive Kritik und in der Wissenschaft hinterlässt die Ministerin ihrem Nachfolger mit der Fördermittelaffäre ein massives Problem.
Entwicklung
Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) gehört zu den großen Verliererinnen dieser Koalition. Für die Entwicklungszusammenarbeit stellte Finanzminister Christian Lindner (FDP) immer weniger Geld zur Verfügung. Ein Highlight war im Juni 2024 die von Schulzes Haus organisierte Ukraine-Wiederaufbaukonferenz. Sie machte deutlich, wie sehr das kriegsgeschundene Land auch auf zivile Hilfe angewiesen ist.
Ernährung & Landwirtschaft
Zur Orientierung von Verbrauchern führte Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) eine verpflichtende Kennzeichnung mit fünf Haltungsformen von „Stall“ bis „Bio“ ein – allerdings zunächst nur für Schweinefleisch. Laut Özdemir soll die staatliche Kennzeichnung ab August 2025 kommen.
Familie
Die Liste der vollendeten größeren Projekte in der Familienpolitik ist kurz im Vergleich zu den sehr vielen ambitionierten Ideen, aus denen nichts geworden ist. Geschafft hat Ministerin Lisa Paus (Grüne), Gehsteigbelästigung vor Abtreibungskliniken und Beratungsstellen für Frauen im Schwangerschaftskonflikt zu verbieten.
Der Bund setzt die Förderung von Kitas fort und gibt vier Milliarden Euro in den kommenden beiden Jahren, die versprochenen bundesweiten Qualitätsstandards kommen aber nicht. Das Elterngeld wurde reformiert, als Erfolg dürften Mütter und Väter das aber nicht empfinden: Es wurden Bedingungen verschärft sowie Paaren mit sehr hohem Einkommen die Leistung gestrichen.
Allerdings kann die Ampel sich zugute halten, beim Kindergeld großzügig gewesen zu sein: Es wurde zum Januar 2023 üppig erhöht, auf nun einheitlich 250 Euro pro Kind und Monat.
Finanzen
Steuerpolitisch hatte die Ampel-Ära wenig zu bieten. Der Koalitionsvertrag lief auf eine Art Stillstandsvereinbarung hinaus: keine Steuererhöhungen (FDP-Forderung), keine Steuersenkungen (weil SPD und Grüne das nicht wollten). Steuerentlastungen gab es in kleineren Schritten.
Neben dem Inflationsausgleich bei der Einkommensteuer hat die Ampel die Werbungskosten-Pauschale von 1000 auf 1230 Euro und den Anleger-Freibetrag um 200 auf 1000 Euro erhöht. Ob die Erhöhung des Grundfreibetrags in den Jahren 2023 und 2024 zu niedrig war, wird demnächst der Bundesfinanzhof entscheiden.
Die EEG-Umlage belastet seit Juli 2022 nicht mehr die Rechnungen der Stromkunden, wohl aber den Bundeshaushalt, weil sie jetzt vom Staat gezahlt wird. Das Wachstumschancengesetz brachte auch steuerliche Verbesserungen für Unternehmen.
Gesundheit
Seinen größten Erfolg feierte Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), nachdem die Ampel bereits zerbrochen war. Am vergangenen Freitag ließ der Bundesrat seine Krankenhausreform passieren. Komplizierte Behandlungen etwa von Krebserkrankungen sollen künftig nur noch in spezialisierten Kliniken durchgeführt werden. Das soll die medizinische Qualität verbessern und Kosten sparen.
Auf der Habenseite kann der SPD-Politiker auch die flächendeckende Einführung der elektronischen Patientenakte und weitere Schritte für mehr digitale Medizin verbuchen. Ob die Legalisierung von Cannabis ein Erfolg ist, ist hingegen heftig umstritten. Anders als gewünscht hat die Freigabe laut Sicherheitsexperten den Schwarzmarkt bisher kaum eingedämmt.
Innenpolitik
Die Hürden für Innenministerin Nancy Faeser (SPD) lagen hoch, klagten doch die Länder und Kommunen schon vor Kriegsbeginn in der Ukraine über nicht handhabbare Flüchtlingszahlen. Im Koalitionsvertrag hatte sich die Ampel einen „Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik“ vorgenommen. Der ist der SPD-Politikerin nur in Teilen gelungen.
Faeser führte Grenzkontrollen ein, ließ diese mehrere Male verlängern, doch die Zahl der Asylanträge steigt seit 2020 stetig an. Die nationale Reform des Gemeinsamen europäischen Asylrechts (GEAS) brachte die Innenministerin zu spät ins Kabinett ein. Wegen des Bruchs der Koalition wird es jetzt schwierig, Mehrheiten zu finden.
Dafür kann Faeser das Fachkräfteeinwanderungsgesetz als Erfolg verbuchen. Damit sollen Arbeitskräfte schneller und unbürokratischer in Deutschland arbeiten können. Ein positives Signal geht auch von der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts in Verbindungen mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht für langjährig geduldete Ausländer aus.
Auch bei der Reform des Wahlrechts war das Innenministerium federführend. Zudem soll die Verwaltungsdigitalisierung mit der Änderung des Onlinezugangsgesetzes (OZG 2.0) aus dem Hause Faeser vorangetrieben werden.
Justiz
In den ersten Monaten der Ampel setzte Justizminister Marco Buschmann ein früheres Ende der Corona-Maßnahmen durch. Im August 2024 machte der FDP-Politiker im Schatten von Kanzler Scholz Weltpolitik. Buschmann wies den Generalbundesanwalt an, den Tiergartenmörder freizulassen. Das ermöglichte einen Gefangenenaustausch mit Russland. Er brachte unter anderem russischen Dissidenten und dem US-Journalisten Evan Gershkovich die Freiheit.
Bei der Gesetzgebung bewies Buschmann hingegen wenig Fortune: seine Reformpläne fürs Familienrecht und beim Mieterschutz bleiben unvollendet. Der FDP-Politiker schaffte jedoch das sogenannte Werbeverbot für Abtreibungen ab und erleichterte trans Menschen, ihren Geschlechtseintrag im Personenstandsregister zu ändern. Auch bei der Digitalisierung des Justizwesens hat Buschmann Verdienste. Womöglich wird der Bundestag auch seinen Gesetzentwurf für einen besseren Schutz des Verfassungsgerichts noch beschließen.
Umwelt
Die Liste der verabschiedeten Gesetze aus der Feder von Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) sind mit elf Vorhaben überschaubar und werden von Umweltschützern teils kritisch gesehen, etwa die Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Windkraft und Artenschutz.
Im Umweltministerium ist man dennoch zufrieden mit der Legislatur, weil es gelang, neue Strategien, wie die nationale Wasserstrategie zu verfassen und zu formulieren. Zudem beschloss das Kabinett das Aktionsprogramm natürlicher Klimaschutz, das mit 3,5 Milliarden Euro die größte Förderung für den Schutz von Natur und Klima ist, die es jemals in Deutschland gab.
Verkehr
Einer der größten Erfolge der Ampelkoalition entstand spontan am 24. März 2022 in einer Nachtsitzung: Das Neun-Euro-Ticket. Es wurde der Sommerhit 2022. Dabei sollte es aus Sicht von Finanzminister Christian Lindner (FDP) bleiben. Verkehrsminister Volker Wissing aber blieb hartnäckig und überredete seinen damaligen Parteichef schließlich, dauerhaft ein günstiges, deutschlandweites ÖPNV-Abo einzuführen: das Deutschlandticket.
Diskret setzte der Verkehrsminister auch einen hohen CO₂-Preis von 200 Euro pro Tonne bei der Lkw-Maut durch, der den Umstieg auf E-Lkw beschleunigen wird. Die Hälfte der Maut-Einnahmen von rund 16 Milliarden Euro pro Jahr kann der Bund nun in die Modernisierung des Bahnnetzes und der Wasserstraßen stecken. Das Geld braucht Wissing für die von ihm initiierte Sanierung von 40 Bahn-Hauptstrecken bis 2030 – hierfür fehlen aufgrund des Haushaltschaos’ der Ampel noch immer viele Milliarden.
Zudem reformierte Wissing das Straßenverkehrsrecht, um Kommunen mehr Tempo 30, Radwege und Busspuren zu ermöglichen. Ein weiteres Gesetz soll die Planung von neuen Bahnstrecken und den Ausbau von Autobahnen beschleunigen.
Verteidigung
Als erste Bundesregierung hat es die Ampel geschafft, in diesem Jahr die Nato-Vorgabe aus 2014 einzuhalten, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Rüstung und Verteidigung auszugeben. Mit dem neuen Sondervermögen stand genug Geld bereit, um lange zurückgestellte Anschaffungen zu tätigen – Kampfjets, eine Raketenabwehr, Hubschrauber, Schiffe, deren Lieferung freilich noch größtenteils aussteht.
Die Prozeduren dafür, die bis dato oft jahrelang dauerten, wurden deutlich verkürzt. Allerdings fand die Koalition keine Kraft, um finanziell wie organisatorisch noch mehr zu tun, wie das nach Ansicht der meisten Bundeswehr-Experten angesichts der Bedrohungslage notwendig ist. Zu den sichtbarsten Veränderungen, die Minister Boris Pistorius auf den Weg gebracht hat, gehört die Brigade Litauen. Dort werden ab 2027 zur Sicherung der Nato-Ostflanke 5000 Bundeswehrkräfte fest stationiert.
Wirtschaft & Klimaschutz
Kein anderes Haus stand in dieser Legislatur wohl so im Zentrum der politischen Debatte wie das Bundeswirtschaftsministerium (BMWK). Allein 2022, im ersten Jahr des Kriegs in der Ukraine und in der Gaskrise, brachte das Haus von Robert Habeck 28 Gesetze und 38 Verordnungen auf den Weg. Neue Vorgaben für Gasspeicheranlagen, Beschleunigungen für LNG-Terminals, Reaktivierung von Kohlekraftwerken, Streckbetrieb für Atomkraftwerke – im ersten Ampel-Jahr herrschte im BMWK Dauerkrise.
Parallel dazu gelang es dem Ministerium, die Energiewende wieder in Schwung zu bringen. 2023 verzeichnete Deutschland einen Rekord-Zubau von Photovoltaik-Anlagen. Im letzten Jahr trugen erneuerbare Energien über 50 Prozent am Bruttostromverbrauch bei. Für Windkraft an Land und See wurden mehr Flächen ausgewiesen und die Ausbauziele erhöht. Für Solarenergie wurden die Möglichkeiten für Agri-, Floating- und Moor-PV erhöht.
Rumpeliger ging es im Klimaschutzbereich zu, wo zum Beispiel die verpflichtenden Sektorenziele für die einzelnen Ministerien aufgegeben wurden. Für den größten Ärger sorgte das Gebäudeenergiegesetz (GEG), landläufig als Heizungsgesetz bekannt. Seit dem 1. Januar müssen Gebäudeeigentümer nun grundsätzlich neue Heizungen einbauen, die mindestens zu 65 Prozent mit erneuerbaren Energien betrieben werden. Unterstützt wird das GEG von der kommunalen Wärmeplanung.
Den Abschwung der Wirtschaft konnte das BMWK nicht verhindern. Mit dem Wachstumschancen-Gesetz wurden zwar steuerliche und bürokratische Hemmnisse abgebaut, aber der große Wurf scheiterte politisch.
Von Albert Funk, Albrecht Meier, Christiane Rebhan, Christopher Ziedler, Felix Hackenbruch, Stefanie Witte, Caspar Schwietering, Karin Christmann
Das Original zu diesem Beitrag "Was hat die Ampel-Koalition erreicht?" stammt von Tagesspiegel.