Neben finanziellen und materiellen Reserven fordert der Ukraine-Krieg unzählige Menschenleben. Nun hat der Kreml die russische Volkszählung ausgesetzt. Scheinbar, um Personalverluste zu verschleiern.
Kiew/Moskau – Im andauernden Ukraine-Krieg verzeichnen sowohl Russland als auch die Ukraine weiterhin hohe Personal- und Materialverluste. Während Wolodymyr Selenskyj unlängst die besonders schwierige militärische Lage im umkämpften Donezk einräumte, betonte Russlands Präsident Wladimir Putin, auch weiterhin nicht für Gespräche mit internationalen Politikern bereit zu sein. Wie nun bekannt wurde, hat Putin überdies unlängst ein Gesetz unterzeichnet, das einen Teil des gesamtrussischen Volkszensus vorerst für insgesamt fünf Jahre aussetzt.
Putin greift ins russische Gesetz ein und setzt den Zensus bis zum Jahr 2029 aus
Das föderale Gesetz, das bis zum 1. Januar 2029 in Kraft ist, hebt Artikel 3 Absatz 4 des russischen Volkszählungsgesetzes auf, berichtete die Newsweek nun. In jenem Artikel ist die Regelmäßigkeit der selektiven statistischen Erhebungen des Bundes geregelt. Traditionell umfasst die russische Volkszählung eine Stichprobe von mindestens 5 Prozent der Gesamtbevölkerung.
Übereinstimmenden Medienberichten zufolge soll diese Maßnahme die russische Gesellschaft vor den demografischen Auswirkungen der Verluste in der Ukraine schützen. Die Aussetzung wurde vom Föderationsrat bereits am 25. September beschlossen. Aktuell ist noch unklar, wie Moskau den Mangel aktueller Bevölkerungsdaten in den nächsten fünf Jahren kompensieren will.
Der ausgesetzte Paragraf hatte regelmäßige Erhebungen als Teil der laufenden Bemühungen Russlands um die Erfassung der Bevölkerungsentwicklung vorgeschrieben. Nachdem der betreffende Artikel nun von Putin entkräftet wurde, stellt sich jedoch auch die Frage, wie die russische Bevölkerung auf jene vermeintliche Desinformationsstrategie Putins reagieren wird.
Setzt Putin den Zensus aus, um markante Personalverluste im Ukraine-Krieg zu verschleiern?
Nahe liegt die Vermutung, dass Putin mit diesem Eingriff in die russische Gesetzgebung verhindern will, seine markanten Personalverluste im Ukraine-Krieg transparent werden zu lassen. Laut einer am 27. September veröffentlichten Aufstellung der unabhängigen russischen Medien Mediazona und BBC News Russia, über die nun auch Newsweek berichtete, wurden inzwischen 71.057 russische Soldaten als getötet bestätigt. Das entspräche einem Anstieg von 1.998 seit der letzten Aktualisierung Mitte September.
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Offiziellen Angaben des Generalstabs der ukrainischen Streitkräfte zufolge belaufen sich die russischen Kampfverluste mit Stand vom 1. Oktober 2024 dagegen auf 654.430 Soldaten. Bereits auf einer Pressekonferenz am Ende Februar (25. Februar 2024) gab Präsident Selenskyj an, dass insgesamt 180.000 russische Streitkräfte im umfassenden Krieg Russlands gegen die Ukraine getötet worden seien. Mit den Verletzten und Vermissten seien es bis zu 500.000 Soldaten, gab der ukrainische Präsident bereits zum damaligen Zeitpunkt kund. Mit Angaben zu eigenen Verlusten hält sich die Ukraine seit Kriegsbeginn zurück. Unabhängig überprüfen lassen sich die Angaben beider Länder zu ihren Personalverlusten nicht.
Demografische Probleme in Russland – große Gender-Gap bei der Lebenserwartung
Schon vor der von Putin initiierten Invasion der Ukraine hatte es Russland mit markanten demografischen Gefällen zu tun. Wie der lettische Nachrichtendienst Meduza hinwies, ging schon aus dem russischen Zensus 2020 hervor, dass es mit 46 Prozent zu 54 Prozent deutlich weniger Männer als Frauen im Land gibt. Nachdem Hunderttausende Russen vom Kreml an die Fronten in der Ukraine geschickt worden waren, dürfte diese Diskrepanz dementsprechend angewachsen sein.
Im Jahr 2022 schließlich wurde Russland laut Meduza das Land mit dem weltweit größten Unterschied zwischen der Lebenserwartung von Männern und Frauen: So leben Männer in Russland durchschnittlich fast 11 Jahre kürzer als Frauen. Daneben steht als Ergebnis in Russland eine Bevölkerungslücke von etwa 10 Millionen Menschen: 68,4 Millionen männliche Bürger gegenüber 78,8 Millionen weiblichen. Und der anhaltende Ukraine-Krieg mit seinen zahlreichen Frontverläufen droht, die demografischen Brüche in Russland noch zu verschärfen.
Die Ukraine kämpft mit einem Einbruch der Geburtenrate und einer hiesigen Fluchtbewegung
Mit gewaltigen demografischen Problemen aufgrund des Kriegs hat es Russland jedoch nicht allein zu tun. Auch in der Ukraine sind die Auswirkungen des Kriegs auf die Bevölkerungsentwicklung seit Monaten deutlich spürbar. So berichtete etwa die französische Le Monde bereits zum zweiten Jahrestag des Kriegsbeginns (26. Februar 2024) von einem Kollaps der ukrainischen Geburtenrate.
Dazu haben Millionen die Ukraine verlassen, um Schutz vor dem Krieg im eigenen Land zu suchen, unter ihnen vornehmlich Frauen und Kinder. Wie die österreichische Zeitung Der Standard im Juli (10. Juli 2024) ausgehend von Daten des UN-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR) berichtete, waren allein bis Mitte 2023 5,9 Millionen Menschen aus der Ukraine in andere Staaten geflohen. Weitere 5,1 Millionen waren bis dahin innerhalb des Landes vertrieben worden.
Und auch der weitere Kriegsverlauf dürfte nichts viel Positives verheißen: Im Rahmen des aktuellen European Demographic Datasheets haben Experten Bevölkerungstrends für verschiedenartige Szenarien des Kriegsverlaufs in der Ukraine abgeleitet. Dem pessimistischsten Szenario nach, das von einem mehr als fünfjährigen Krieg, einer Rückkehrquote von nur 50 Prozent sowie einer schleppenden wirtschaftlichen Erholung ausgeht, wird der Ukraine gar ein Bevölkerungsrückgang von bis zu 31 Prozent bis zum Jahr 2052 prognostiziert. Hochgerechnet könnte dies einen Bevölkerungsrückgang von 43,3 Millionen Einwohnern im Jahr 2022 auf 29,9 Millionen im Jahr 2052 bedeuten. (fh)