Albaniens Ministerpräsident Rama im Interview: „Orbán hat Ungarn modernisiert und gestärkt“
Der Sozialist Edi Rama ist in Albanien umstritten. Im Zuge der Westbalkan-Konferenz spricht er mit IPPEN.MEDIA über seine Verbundenheit zu Melonis Italien und seine Ambitionen für einen EU-Beitritt.
Berlin – Nur einen Katzensprung entfernt vom Bundeskanzleramt, in dem Edi Rama noch wenige Minuten zuvor mit Olaf Scholz sprach, befindet sich das Hotel Château Royal. Dort lädt der albanische Ministerpräsident zum Gespräch ein. Seit elf Jahren ist Edi Rama Ministerpräsident des EU-Beitrittskandidaten Albanien. In Berlin fordert er den EU-Beitritt bis 2030. Gleichzeitig protestieren in der albanischen Hauptstadt Tausende Oppositionelle gegen ihn. Rama ist Sozialist – und pflegt dennoch ein gutes Verhältnis zur italienischen Rechtsaußen-Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, ebenso zu Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Für Deutschlands strauchelnde Wirtschaft hat er einen Tipp, der wohl Christian Lindner besonders freuen dürfte.
Herr Rama, Sie sind für die Westbalkan-Konferenz nach Deutschland gereist. Das Format soll die EU-Erweiterung und Aufnahme Albaniens sowie seiner Nachbarländer voranbringen. Funktioniert das wirklich?
Angela Merkel hatte vor über zehn Jahren die Idee dazu. Im Vergleich zu damals ist der Balkan heute in einer deutlich besseren Situation. Ein Grund dafür ist der Berliner Prozess, weil er ein Motor für den Dialog ist.

Die Annäherung des Westbalkans an die EU hat zuletzt deutliche Fortschritte gemacht. Woran liegt das?
Ein großer Faktor dafür ist Wladimir Putin. Er weckte die Europäische Union auf und machte ihnen klar, dass nette Worte für die Länder des Westbalkan allein nicht ausreichen. Russlands Krieg in der Ukraine hat den EU-Erweiterungsprozess unfreiwillig gestärkt.
Welche Ergebnisse brachte die Westbalkan-Konferenz?
Die vier Grundfreiheiten der EU sollen auch im Westbalkan gelten: der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital. Außerdem haben wir den sechs Milliarden Euro schweren Wachstumsplan zwischen der EU und dem Westbalkan konkretisiert. Das ist ein großer Schritt in Richtung EU-Integration.
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Umstrittener Flüchtlingsdeal mit Italien
In der EU wird Ihre Kooperation mit der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni genau beobachtet: Italien betreibt seit letzter Woche Lager in Albanien. Es bringt Bootsflüchtlinge dorthin, um sie vor der irregulären Einreise in die EU abzuhalten.
Das ist die Aufgabe Italiens, darin besteht unsere Einigung. Das betrifft sowohl die Registrierung und Versorgung der Geflüchteten als auch die Entscheidung über deren Status.
Innerhalb der Europäischen Union ist das Projekt umstritten. Einige haben Bedenken bezüglich der Menschenrechte bei drohenden Abschiebungen. Andere wiederum wollen diese Lager für alle EU-Mitgliedsstaaten. Was hat es mit dem Deal auf sich?
Italien und Albanien verbindet eine enge Partnerschaft. Viele Albaner leben dort, das Land ist unser wichtigster Handelspartner. Als Italien gefragt hat, ob wir ihnen bei der Migration helfen können, haben wir ja gesagt. Das Problem können einzelne Länder aber nicht lösen. Ich bin bei der Migration für eine Regelung zwischen dem Westbalkan und der gesamten EU, zu der es bisher nicht kam. Die ist aber unerlässlich: Die EU muss sich einigen, um Spaltung durch die Migrationsdebatten einzuhegen; und speziell Deutschland braucht Wege für reguläre Migration, für seine Arbeitsplätze und den Wohlstand.
Sie sagen, Italien sei für das Projekt verantwortlich. Wie will Giorgia Meloni abgelehnte Asylbewerber zurück in die Herkunftsländer bringen?
Die Idee des Projekts ist es, schon vorher anzusetzen und Menschen ohne Bleibeperspektive durch das abschreckende Signal von der Überfahrt abzuhalten. Alles darüber hinaus kann man jetzt noch nicht sagen, weil der Prozess noch am Anfang steht.

Albanien bis 2030 in der EU – zu welchem Preis?
Ihr Ziel ist es, Albanien bis 2030 in die EU zu führen. Vor wenigen Tagen besuchten Sie Viktor Orbán, der derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat. In weiten Teilen der EU gilt Orbán als schwarzes Schaf – wie stehen Sie zu ihm und Ungarn?
Wir in Albanien und auch unsere Nachbarn haben durch unsere Geschichte keine Tradition eines funktionalen Staats im europäischen Sinne. Orbán hat Ungarn modernisiert und gestärkt. Es ist faszinierend, wie Orbán Ungarn und die Regierung umstrukturiert hat. Der Behördenapparat dort funktioniert, die Wirtschaft kommt gut voran. Außerdem dankte ich Orbán bei meinem Besuch für seine Bemühungen unseres EU-Beitritts.
Sehen Sie Orbáns Rolle – auch in der EU – nicht kritisch?
Debatten sind Teil des demokratischen Prozesses. Darüber hinaus ist es nicht an mir, darüber zu urteilen. Ich bin davon überzeugt, dass wir von vielen Ländern in der EU etwas lernen können. Und ich respektiere Viktor Orbán sehr.
Apropos voneinander lernen. Die deutsche Wirtschaft befindet sich in der Krise, die Stimmung bei den Menschen ist schlecht. Wie erleben Sie mit Ihrer Sicht von außen die momentane Lage Deutschlands?
Ich wünschte, dass ich einem Land mit den wirtschaftlichen Bedingungen Deutschlands leben könnte. Wenn Sie über eine Krise sprechen, müssen Sie die Dinge in Perspektive bringen. Ich weiß, was Armut bedeutet. Aber natürlich will ich den Deutschen nichts vorwerfen. Die junge Generation hier kennt diese Armut nicht mehr, kennt keinen Krieg mehr. Wenn man Champagner gewohnt ist und er dann einmal fehlt, fühlt sich das nach Krise an. Dafür ist Deutschland aber zu stark. Doch es braucht Veränderungen.
Kritik aus Albanien: „Deutschland hat sich zur Hochburg der Vorschriften entwickelt“
Welche Veränderungen?
Deutschland spricht nur noch über Migration, aber nicht über Deregulierung und Modernisierung. Deutschland hat sich zur Hochburg der Vorschriften entwickelt, es fühlt sich fast an, als würde demnächst das Atmen reguliert werden. Das schadet der Wirtschaft. Ich wünsche mir für Deutschland mehr Deregulierung sowie Innovation und will das Land wieder an der Spitze Europas sehen.
Während Sie in Berlin über einen EU-Beitritt sprechen, demonstrieren in der albanischen Hauptstadt Tirana Tausende Oppositionelle gegen die Regierung, gegen Sie, und werfen Ihnen unter anderem Beeinflussung der Justiz vor. Der wegen Korruption angeklagte Oppositionsführer steht unter Hausarrest.
Es geht um eine Reform unserer Justiz, um den Kampf gegen Korruption. Diese Reform hat das System grundlegend verändert. Alle Menschen müssen sich nun vor Staatsanwälten und Richtern verantworten. Diese Prozesse werden auch von der EU überwacht. Wir haben zum ersten Mal seit langer Zeit unabhängige Gerichte und Prozesse in Albanien. Die Proteste der Opposition erkennen diese Gerichtsurteile nicht an. Sie bereiten mir aber keine Sorgen.