Das Elend sichtbar machen: Wie Zeitzeugen über die Geschehnisse in Seeshaupt 1945 berichteten
In Zeitzeugenberichten beschrieben Einwohner von Seeshaupt die dramatischen Ereignisse am Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Ankunft der US-Truppen und die Unterbringung von KZ-Häftlingen prägten das Dorf.
Seeshaupt – Unter den Folgen des Zweiten Weltkriegs hatte Seeshaupt und die Altgemeinde Magnetsried sehr zu leiden: 119 junge Männer kehrten nicht zurück, Evakuierte und Flüchtlinge ließen die Bevölkerungszahl von 1357 (1939) auf 3123 (1945) explodieren und verursachten eine Wohnungsnot ohnegleichen. Und dann strandete am 30. April 1945 am Bahnhof ein Güterzug mit fast 2000 KZ-Häftlingen, die von den einrückenden US-Soldaten befreit wurden und kurzerhand in beschlagnahmten öffentlichen und privaten Häusern einquartiert wurden.
Vor allem die schweren Plünderungen, die die Besatzer erst nach gut einer Woche unterbanden, hinterließen bei den Dorfbewohnern traumatische Erinnerungen. Das ist auch der Hauptgrund für die anfängliche Ablehnung zahlreicher Seeshaupter gegen das Mahnmal, das seit 1995 an die dramatischen Ereignisse erinnert und an die etwa 90 Toten, die die fünftägige Irrfahrt vom KZ-Außenlager Mühldorfer Hart nicht überlebt hatten.
Im Folgenden Auszüge aus offiziellen und privaten Aufzeichnungen, die diese Zeiten eindrucksvoll schildern.
Gemeinde-Protokolle
30. April 1945: Die amerikanischen Truppen sind am 30. April 1945 vormittags um 9.30 Uhr in Seeshaupt kampflos einmarschiert. Bei Überwindung der Panzersperre beim Lido wurden drei Häuser beschädigt. Gefallen sind 1 SS-Mann und ein amerikanischer Soldat.
Am 30. 4. 1945 vormittags gegen 8 Uhr traf am Bahnhof Seeshaupt ein Zug mit ca. 2000 KZ-Häftlingen ein, die auf Befehl des Ortskommandanten in Seeshaupt untergebracht werden mussten. … Ferner gab er den Befehl, dass sich um 1 Uhr mittags 250 Ortseinwohner zur Besichtigung von Leichen getöteter KZ-Häftlinge am Bahnhof Seeshaupt einzufinden haben.
Aus der Dorfchronik von Anton Sterff
Am Montag, 30. April, vormittags ca. 9 Uhr, marschierten die Kampftruppen der 7. amerikanischen Armee mit unzähligen Panzern, Infanterie auf gepanzerten Wagen, viel leichter und schwerer Artillerie, von Weilheim und Tutzing kommend, in Seeshaupt ein. An der Kreuzung Penzberger Straße teilten sie sich, ein Teil fuhr gegen Penzberg, ein Teil gegen St. Heinrich. Ich stand beim Café Hirn und wollte diese historische Szene im Bilde festhalten. Ich hatte schon fünf Aufnahmen gemacht, darunter einen schweren Panzer, der auf dem kleinen Kirchplatz vor Musselmann wendete. Dann ging ich um die Ecke zum Hotel Post. Dutzende von Fahrzeugen zogen an mir vorbei und mir gelangen noch drei Aufnahmen. Da sprang aus einem leichten Schützenpanzer ein Offizier, lief auf mich zu, gab mir einen Stoß auf die Brust, schimpfte und entriss mir meine Kamera. Weniger die Kamera, als meine acht Aufnahmen reuten mich.

Gegen 7 Uhr früh traf ein Güterzug mit etwa 2000 Gefangenen aus Konzentrationslagern am Bahnhof ein. … Die Bevölkerung wurde von den Amis auf den Bahnhof getrieben, um sich dieses Elend anzuschauen. Viele Tote waren aus den Waggons schon auf dem Bahnsteig ausgebreitet, viele lagen im Sterben in den Waggons, ein Wagen war mit toten, halb verwesten Leichen ca. einen Meter hoch vollgeladen. Insgesamt wurden von den „Parteigenossen“ 64 Leichen in den Friedhof gefahren und beerdigt.
Aus dem Tagebuch von Rasso Vogl, Besitzer vom Gasthof zur Post
1.5.1945: Nur etwas Bettwäsche konnten wir mitnehmen und Arbeitskleidung, alles andere mussten wir auf Befehl der Besatzer zurücklassen, da bereits nach 10 Minuten Hunderte von KZlern (Anm.d.Red.: das war damals die gängige Bezeichnung für die KZ-Häftlinge) unter amerikanischer Aufsicht das ganze Haus belegten. Die Belegungsdauer dauerte vom 1.5. bis 15.5.1945, also 16 Tage. Ihre Verpflegung raubten sie aus meinem Gutshof und schlachteten in meiner Metzgerei. Die in der Kühlanlage aufbewahrten Vorräte an Fleisch, Wurst und Bier wurden ebenso verbraucht. In der Zeit vom 10.5. bis 15.5. wurden die KZler auf Befehl der Besatzungsmacht mit Lastkraftwagen abtransportiert.
Aus dem Tagebuch von Gertrud H. aus der Dall`Armi Straße…
Am 30. April 1945 fing das Martyrium für Seeshaupt an. Um 10 Uhr früh kamen die Amerikaner in endlosen Mengen von Riesenkraftfahrzeugen durchs Dorf. Das Dorf wurde zum Glück kampflos übergeben. ...Fast zugleich mit dem Einzug der Amerikaner, der sicher ganz reibungslos vonstatten hätte gehen können, nahte das furchtbarste Schicksal unseres armen Dorfes: Auf dem Bahnhof erschien ein langer Zug, gefüllt mit Sträflingen aus den Konzentrationslagern von Dachau und Mühldorf. Dieser Zug sollte nach Tirol über die Grenze kommen und durch einen unglückseligen Zufall blieb er hier stehen. Nun ergoss sich der Häftlingsstrom in blaugrauen dreckigen Häftlingskleidern, meist Juden und Rumänen, Bulgaren, Russen und auch Deutsche etc. über das Dorf. Bei mir kamen – wie überall – Scharen entsetzlich ausgehungerter Gestalten, bettelten zunächst mal um Brot – Brot – ich gab meinen letzten Knust her … man traute sich nicht aus dem Hause, es war sehr unheimlich.
Auszüge aus der Magnetsrieder Schulchronik, verfasst von Lehrerin Martina Fieger
Schuljahr 1944/1945: Am 26. März wurde das Schulzimmer beschlagnahmt und innerhalb einer Stunde geräumt für Flüchtlinge, die aus Oberschlesien eintreffen sollten. Am 10. April 1945 trafen die 130 Flüchtlinge ein. Mit sechs Fuhrwerken wurden sie am Bahnhof in Seeshaupt abgeholt und noch am selben Abend auf Privatquartiere verteilt. 52 Personen konnten nicht mehr untergebracht werden und kamen ins Massenlager im Schulzimmer: auf blankem Stroh, ohne Wasch- und Kochgelegenheit, ohne Tisch und Stuhl.

In der Woche vom 22. bis 29. April 1945 zogen auf ihrem Rück㈠zug deutsche Truppen durch Magnetsried. Es gab Einquartierungen von Militär mit fast täglichem Wechsel. 28. April, abends um 10 Uhr war Feueralarm: Amerikanische Panzer standen, von Peißenberg kommend, vor Weilheim. Am 30. April 1945, morgens um 7 Uhr, erschien der 1. amerikanische Panzer in Magnetsried. Bürgermeister Seemüller übergab die weiße Flagge. Die Amerikaner zogen in Marschrichtung von der Dorflinde nach Wolfetsried in ununterbrochenem Zug von 7 bis 11 Uhr, ab mittags auf der Landstraße nach Seeshaupt. Die erste schwarze Truppe erregte großes Aufsehen, vor allem bei den Kindern. Zahlreiche Einwohner traten aus ihren Häusern und schauten gespannt wie einem Schauspiel zu.
Der Tag verlief ruhig. War ja kein (deutsches) Militär und keine SS im Dorf. Am 30. April mittags um 12.30 Uhr musste der Bürgermeister 4 total geräumte Häuser von Zivilpersonen den amerikanischen Truppen als Quartier übergeben: Schulhaus, Pfarrhof, Bauer Johann Gerg, Dr. Eucker. Die Flüchtlinge des Schulhauses kamen in Heustadl, später in Privatquartiere. Innerhalb einer halben Stunde zogen die Amerikaner mit 150 Mann in die geräumten Häuser ein und blieben bis Donnerstag. Am 1. Mai 1945 wurde das Schuhlager im Saal des Gasthauses Klöck (heute „Quelle“) von den Amerikanern für die KZ-Leute sowie Ausländer freigegeben. Es gab Plünderungen der KZ-Leute in Seeshaupt und Umgebung, auch in Oppenried, Schmitten, Kreutberg, Wolfetsried. Eine Dorfwehr wurde aufgestellt. …
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Gedenkfeier
Der Journalist und Schriftsteller Gert Heidenreich ist am 30. April der Hauptredner bei der Gedenkfeier am Mahnmal an der Bahnhofstraße. Er hat sich in vielen seiner Romane, Theaterstücke und Zeitungsessays mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Selbst wenn man keine seiner Veröffentlichungen kennt – Heidenreichs markante Stimme hat bestimmt schon jeder gehört, sei es als Rundfunksprecher oder in Hörbüchern.
Neben Gert Heidenreich spricht auch Bürgermeister Fritz Egold. Die Pfarrer Konrad Bestle und Julian Lademann sowie James Cohen von der liberalen jüdischen Gemeinde Beth Shalom in München halten eine kurze Andacht.
Zum ersten Mal werden – soweit sie bekannt sind – die Namen der Toten aus dem KZ-Zug verlesen, der vor genau 80 Jahren am Seeshaupter Bahnhof steckenblieb, und dazu das eindringliche Gedicht „A Zeit aussa da Zeid“ der Seeshaupter Mundartdichterin Emmi Wörle. Musikalische Umrahmung der Gedenkfeier: David Schuster.