Von der Leyen muss zittern: Trotz Wahlerfolg ist eine zweite Amtszeit unsicher
Ursula von der Leyen und die siegreiche EVP sehen einen Regierungsauftrag. Doch noch ist nicht sicher, ob die Politikerin nach der EU-Wahl an Europas Spitze bleibt.
Frankfurt – Bleibt Ursula von der Leyen im Amt? Die 65-Jährige will für weitere fünf Jahre EU-Kommissionspräsidentin in Brüssel bleiben. Der Sieg ihrer Europäischen Volkspartei (EVP) bei der Europawahl hat ihr neuen Schub verliehen, doch es ist nicht gesichert, dass sie Europäische Union (EU) auch weiterhin anführen darf.
EVP als „Stabilitätsanker“: Von der Leyen ist erste Anwärterin auf die Kommissionsspitze
Nach der Wahl präsentierte sich von der Leyen gut gelaunt. Das bürgerliche Lager habe die Wahlen klar gewonnen und bleibe „Stabilitätsanker“ in Europa, sagte sie. Die konservative EVP-Fraktion kommt nach vorläufigen Ergebnissen auf rund 185 Sitze im neuen Europaparlament. Damit ist sie mit deutlichem Abstand stärkste Kraft unter den 720 Abgeordneten – und von der Leyen als EVP-Spitzenkandidatin legitime Anwärterin für die Kommissionsspitze.
Hürden für eine zweite Amtszeit gibt es dennoch. Da sind zum Beispiel die Staats- und Regierungschefs der EU. Sie wollen spätestens am 27. und 28. Juni bei ihrem regulären Sommergipfel entscheiden, wen sie dem Europaparlament für die Kommissionsspitze vorschlagen.
Die Zukunft der EU nach der Europawahl: 15 Staatschefs müssen von der Leyen ihre Stimmen geben
Hierbei braucht von der Leyen die Stimmen von mindestens 15 Staats- und Regierungschefs, die zusammen 65 Prozent der europäischen Bevölkerung vertreten – ohne Deutschland ein schwieriges Unterfangen. CDU-Chef Merz und EVP-Chef Manfred Weber (CSU) machen deshalb Druck auf Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), von der Leyen zu unterstützen. Ansonsten drohten „unsichere Zeiten und Instabilität“, warnte Weber im Deutschlandfunk.
Auch das Europaparlament ist eine Hürde, eine sogar noch größere. Hier braucht sie eine absolute Mehrheit von mindestens 361 der 720 Abgeordneten, um als Kommissionschefin wiedergewählt zu werden. Auf den ersten Blick scheint dies eine leichte Übung. Denn mit Sozialdemokraten und Liberalen gemeinsam verfügt das Mitte-Lager um die EVP im neu gewählten Europaparlament über eine Mehrheit von gut 400 Sitzen.
In Europa gibt es keine Koalitionsbildung oder Koaltionsverträge
Bündnisse wie in Deutschland gibt es aber nicht: In Europas Volksvertretung gibt es, wie von der Leyen selbst betonte, „keine Koalitionsbildung und auch keine Koalitionsverträge“, sondern eine Zusammenarbeit auf „lockerer Basis“. Mangels Fraktionszwang ist bei Abstimmungen regelmäßig mit zehn bis 15 Prozent Abweichlern zu rechnen. Damit stünde die Mehrheit womöglich in Frage.
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Dass sie dennoch diesen Weg wählt, gilt als gesichert. „Sie wird das Risiko vermutlich nicht eingehen und sich absichern“, sagt die Europaexpertin Thu Nguyen von der Denkfabrik Jacques Delors Centre in Berlin. Dafür könnte von der Leyen auf die Grünen zugehen, die allerdings massiv geschwächt sind, wie auch auf die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), in der unter anderem die Partei der ultrarechten italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni sitzt.

Merz nach Europawahl unwirsch: „Wahlverlierer haben uns keine Bedingungen zu diktieren“
Das Problem: Kanzler Scholz und andere SPD-Politiker hatten bereits vor der Wahl verlangt, von der Leyen dürfe nicht mit „Rechtsextremen“ zusammenarbeiten. Darauf reagierte die 65-Jährige nun mit der Aussage, sie wolle eine „Bastion gegen die Extremen von links und rechts bilden“. Eine klare Absage an die EKR ist dies indes nicht.
Die FDP formulierte sogar gleich drei Forderungen: keine neuen Gemeinschaftsschulden wie zuletzt in der Corona-Pandemie, eine verschärfte Migrationspolitik und eine Rücknahme des Verbrenner-Aus ab 2035. Darauf reagierte Merz unwirsch: „Die Wahlverlierer haben uns keine Bedingungen zu diktieren,“ sagte er. Auch aus dem konservativen Lager gibt es allerdings schon seit Monaten Druck auf von der Leyen, weniger für das Klima und mehr für die Industrie und gegen Zuwanderung zu tun.
Von der Leyen will nach Europawahl zuerst mit Sozialdemokraten und Liberalen sprechen
Ob die „Mitte hält“, wie von der Leyen es verspricht, muss sich noch herausstellen. Ob sie dann das Rennen als Kommissionspräsidentin macht, steht womöglich schon nach der ersten Sitzung des neu gewählten EU-Parlaments fest. Es tagt vom 16. bis 19. Juli in Straßburg.
Von der Leyen hat Sozialdemokraten und Liberale nach dem Wahlsieg zu einer Fortsetzung der bisherigen informellen Zusammenarbeit aufgefordert. „In diesen turbulenten Zeiten brauchen wir Stabilität, wir brauchen Verantwortlichkeit und wir brauchen Kontinuität“, sagte sie. Man habe in den vergangenen fünf Jahren „gut und vertrauensvoll konstruktiv zusammengearbeitet“. Dies habe ein Fundament geschaffen, an das man nun anknüpfen könne.
Orbán und PiS verhalfen von der Leyen zuletzt nach der letzten Europawahl zu ihrem Amt
Von der Leyen beantwortete auch die Frage, warum sie zunächst keine Gespräche mit den europäischen Grünen führen werde. Sie erklärte, die Gespräche mit den Sozialdemokraten und Liberalen seien der erste Schritt, auf den theoretisch weitere folgen könnten.
Bei der letzten Wahl im Jahr 2019 gelang von der Leyen nur ein knapper Erfolg, der aber zum Schritt zur neuen Kommissionspräsidentin reichte: Sie bekam im EU-Parlament 383 Stimmen, nur neun mehr als nötig. Dabei unterstützten sie aber Rechtspopulisten wie die polnische PiS-Partei und die Fidesz von Ungarns illiberalem Regierungschef Viktor Orbán. Auf diese Stimmen kann sie diesmal definitiv nicht mehr zählen. (cgsc mit dpa)