Die Wal-Verwandtschaft: „Moby Dick“ hatte Premiere am Münchner Residenztheater
Stefan Pucher inszenierte „Moby Dick“ nach dem Roman von Herman Melville am Münchner Residenztheater. Unsere Premierenkritik:
Klar, „Moby Dick“ ist so etwas wie der Endgegner. Für Kapitän Ahab, der die Feindschaft zum weißen Wal zu seinem Lebenssinn erkoren hat, aber auch für die Welt der Literatur. Schließlich hat Herman Melville (1819-1891), der als junger Mann selbst für einige Jahre auf einem Walfänger anheuerte, mit diesem Werk einen Koloss geschaffen: Abenteuerroman trifft hier auf wissenschaftliche Betrachtung, philosophische und religiöse Reflexionen lösen handwerkliches „To do“ ab, auf hoher See wogen Satire, Realistisches, Lieder und Porträts munter ineinander. Eingeleitet wird diese Takelage gerne mit Sätzen wie diesem: „So lasst uns denn der Sache auf den Grund gehen und gleichzeitig einiges Interessante genau anschauen, das mit ihr in Verbindung steht.“ Der Text, der da 1851 erstmals erschien, ist also weit und offen wie die Ozeane.
„Moby Dick“ ist Stefan Puchers erste Regie am Münchner Residenztheater
Für seine erste Inszenierung am Staatsschauspiel hat Stefan Pucher, der in München bislang durch seine Arbeit an den Kammerspielen bekannt war, das Buch gemeinsam mit Malte Ubenauf und Ewald Palmets㈠hofer für die Bühne adaptiert; am Freitag (19. April 2024) hatte der 135 Minuten lange Abend Premiere im Residenztheater.
Wo sich die legendäre Verfilmung des Stoffs durch John Huston aus dem Jahr 1956 mit Gregory Peck als Ahab ganz auf die Rache-Erzählung konzentriert, weitet der Regisseur nun den Blick. Pucher nimmt sich – um im Bild zu bleiben – aus „Moby Dick“ einige zarte Filetstücke, manch zähes Fischstäbchen und viele satte Kellen Waltran, jenen Brennstoff, der den Reichtum der US-Walfangstädte im 19. Jahrhundert befeuerte. Auch Melville schickt seine „Pequod“ und deren Mannschaft los, damit die Fässer gefüllt werden und die Kasse klingelt. Doch nicht die Gier nach Dollars treibt seinen Ahab an, sondern die Vernichtung des weißen Wals, der ihm einst Leid zugefügt und damit seine Herrschsucht über die Natur als absurd entlarvt hat.
Pucher also hält sich eng an den Roman, scheut auch vor dessen Ausflügen ins „Sendung mit der Maus“-Format nicht zurück. So beginnt seine Inszenierung nicht mit dem berühmten ersten Satz „Nennt mich Ismael“, sondern in der Knotenschule: „Der Palstek wird als Festmacher verwendet. Dazu wird die Leine als feste Schlaufe über den Poller gelegt oder an einem festen Punkt an Land festgebunden.“ Das hat Witz, vor allem weil Simon Zagermann und Max Mayer diese Erläuterungen mit enormem Ernst ausführen.

Die beiden seien stellvertretend genannt für ein Ensemble, das absolut seetauglich ist und dem die raschen Wechsel in Stil und Tonfall wunderbar glücken – sei’s nun bei der Erregung der Jagd oder jener homoerotischen beim „Drücken des Walrats“. Ein weiterer Hauptdarsteller in dieser Produktion ist indes das eindrucksvolle Bühnenbild von Barbara Ehnes, die seit vielen Jahren mit Pucher arbeitet: Sie zeigt die enge Verwandtschaft zwischen der Maschinerie des Theaters und der Schiffsmechanik. Dazu hat sie aus Seilen, Winden, Zügen, Planen und Netzen ein Gebilde geschaffen, das zu leben scheint. Irgendetwas ist auf diesem Schiff permanent in Bewegung – ein Ort, der das Geworfensein des Menschen in die Natur spürbar macht. Und dies so sehr, dass es die Videos von Chris Kondek, der mithilfe von Künstlicher Intelligenz das Animalische im Zweibeiner (und umgekehrt) freilegt, in dieser Fülle nicht gebraucht hätte.
Denn das ist vor allem im Mittelteil des Abends ein Problem: Zwischen allen Menschen, Tieren, Sensationen verliert die Produktion ihre Stringenz, weil der Fokus fehlt. Der Kompass rotiert einige Zeit orientierungslos und beruhigt sich erst dann allmählich, als in der zweiten Hälfte Ahab auftaucht. Der ist bei Barbara Horvath weniger manisch als vielmehr ein getriebener Grübler, weniger tyrannisch als ausgebrannt.
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Eine bedenkenswerte Figurenzeichnung, die konsequent darin widerhallt, dass die Vernichtung der „Pequod“ zu einem leisen Albtraum wird. Pucher hat ein sehr viel überzeugenderes Ende gefunden: Da fällt dann auch der berühmte erste Satz, als Felicia Chin-Malenski, Linda Blümchen und Nicola Kirsch über die Wal-Verwandtschaft des Menschen sinnieren. Mit einem Mal ist die Inszenierung wieder ganz bei sich.