Prognose für 2025: Ukraine steht mit dem Rücken zur Wand – bleibt aber optmistisch
Die verfeindeten Parteien versuchen sich vielerorts weiterhin gegenseitig auszuradieren. In der Ukraine herrschen Mangel und Zuversicht gleichermaßen.
Welyka Nowosilka – „Alle Aktionen zielen darauf ab, unsere eigenen Verluste zu minimieren und dem Feind maximalen Schaden zuzufügen“, meldet die 110. Motorisierte Schützenbrigade der Ukraine über Kämpfe in der Stadt Welyka Nowosilka in Donezk. Wie die Kiew Post berichtet, würden Wladimir Putins Invasionstruppen behaupten, die Kleinstadt Welyka Nowosilka eingenommen zu haben, während die Ukraine dementiert, und ihrerseits meldet, ohne große Verluste die Front habe zurücknehmen können. Wie so oft, bemühen sich beide Seiten, einander so erfolgreich wie möglich zu dezimieren.
Welyka Nowosilka liegt im südwestlichsten Frontabschnitt im Gebiet Donezk, dicht an der Grenze zum Gebiet Saporischschja. Die Ukraine will glauben machen, dass die eigenen Truppen die Situation einigermaßen unter Kontrolle hätten; das war vorher bezweifelt worden, weil die Russen zwar minimale, aber stetige Geländegewinne machten und die ukrainischen Streitkräfte einzukesseln drohten. Wie die Kyiv Post nahelegt, scheint der Schlagabtausch offen zu sein.
Putin obenauf: An der russischen Widerstandsfähigkeit von 2023 kaum etwas geändert
„Lassen Sie uns gleich festhalten, dass für unsere Einheiten keine Gefahr einer Einkesselung besteht“, lautet die Botschaft der 110. Motorisierte Schützenbrigade der Ukraine; dennoch ist keine Rede davon, dass die Verteidiger eine Chance sehen, dieses Gefecht zu gewinnen und die Russen zurückzudrängen. Der Verdacht liegt nahe, dass sie sie lediglich aufhalten könnten; bis wann sie das müssten, bleibt offen. Obwohl immer wieder kolportiert wird, dass die russischen Truppen am Stock gingen, ist in den Offensiven wenig davon zu merken.
„Wir werden diesen Krieg verlieren, wenn sich die derzeitige Entwicklung nicht ändert.“
„Dies ist keine echte Armee mehr“, sagt Thomas Theiner gegenüber der Welt. Der ehemalige italienische Offizier und Analyst hält Russlands Streitkräfte für quantitativ überragend und qualitativ unterirdisch. „Die Ausbildung ist miserabel und es gibt kaum mehr erfahrene Offiziere, da die längst getötet wurden“. Allerdings hat Theiner seine Expertise gegenüber dem Medium bereits Anfang 2024 gegeben, seitdem hat sich die totgesagte russische Armee weiterhin als quicklebendig gezeigt.
Im Oktober vergangenen Jahres hat der Wissenschaftliche Dienst des US-Kongresses klargestellt, dass sich an der russischen Widerstandsfähigkeit von 2023 an kaum etwas geändert hat. Nach mehreren Niederlagen im Frühling 2023 hätten die russischen Kräfte im Süden der Ukraine ihre Verteidigungslinien ausbauen und ihre militärische Führung stabilisieren können, schreiben die Analysten. Gleichzeitig hätten sie ihre Offensiven im Osten weiter beibehalten. „Russische Offensiven zeigen weiterhin die gleiche Charakteristik wie die vorherigen Operationen, die geendet haben in hohen Opferzahlen und beschränkten Geländegewinnen“, resümiert das Papier.
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Russland bleibt vorn: Grundsätzlich haben die russischen Kräfte dazugelernt und ihre Taktik angepasst
Grundsätzlich hätten die russischen Kräfte aber dazugelernt und ihre Taktik angepasst. Sie hätten demnach umgestellt auf Angriffe von vereinzelten Trupps, sie hätten ihre Kommunikation optimiert, und ihre Artillerie hätte treffsicherer geschossen. Die Russen hätten neues Material nachgeschoben und ihre Verteidigung den ukrainischen Operationen angepasst – vor allem bezüglich deren elektronischer Kriegsführung oder deren Einsatz von Drohnen. Darüber hinaus sollen sich die Russen besser angepasst haben an Langstrecken-Schläge der Ukraine, die mittels Waffen aus den USA oder anderer westlicher Länder möglich geworden waren.
Am Beispiel der Eroberung der Stadt Wuhledar Anfang Oktober 2024 haben alle Faktoren dazu beigetragen, dass den Russen gelungen sei, die Bemühungen der ukrainischen Truppen abzunützen, legen die US-Wissenschaftler dar. Im Endeffekt fehlen also die Indizien dafür, dass die Ukraine in der Lage ist, diesen Krieg für sich zu einem guten Ende zu bringen. „Wir werden diesen Krieg verlieren, wenn sich die derzeitige Entwicklung nicht ändert“, sagt denn auch Dmytro Kuleba. Den ehemaligen ukrainischen Außenminister zitiert aktuell der US-Thinktank European Council on Foreign Relations (ECFR). Für den macht sich Timothy Garton Ash Gedanken, was wäre, wenn Wladimir Putin diesen Krieg gewinne.
„Um es klar zu sagen: Dies ist noch immer vermeidbar“, behaupter der Historiker Ash. Ihm zufolge werde der Krieg aber im Westen entschieden, anstatt in der Ukraine. In diese Richtung hatte sich im Februar 2024 Joshua Posaner ganz weit hervorgewagt: „Die Kriegsstrategie der Ukraine: 2024 überleben, 2025 siegen“, überschrieb das Magazin Politico seinen Artikel, der dieses Jahr zum entscheidenden für den Ukraine-Krieg erkoren hat – aufgrund schierer Prognosen mehrerer Analysten. Dieses Jahr werde auf beiden Seiten ein Jahr der „Erholung und Vorbereitung sein, wie 1916 und 1941–42 in den letzten Weltkriegen“, sagte beispielsweise Marc Thys. Der ehemalige stellvertretende Verteidigungsminister Belgiens sah in 2024 für beide Seiten also das Jahr des Ausholens für den ultimativen Schlag.
Chance für Ukraine: Entscheidend ist die Fähigkeit, günstige Verteidigungspositionen einzunehmen
„Der entscheidende Faktor ist die Fähigkeit der Ukraine, günstige Verteidigungspositionen einzunehmen“, zitierte Politico zudem einen deutschen Offizier, der aber anonym bleibt. Laut den aktuellen Meldungen aus Welyka Nowosilka sollte die Ukraine die jetzt gefunden haben. Und tatsächlich hat sich die Ukraine in das dritte Kriegsjahr gerettet. Das ist unumstößlich – und eröffnet einem Analysten wie Timothy Garton Ash den Blick auf einen Silberstreif am Horizont.
Für ihn sei lediglich ein Fünftel des ukrainischen Territoriums unter russischer Knute – und das auch nur unter wackeligen Bedingungen. Um die Front der Ukraine zu stabilisieren und Russland abzuschrecken, fehlten weitere militärische Zusagen des Westens sowie der Mut der in den Westen geflüchteten Ukrainer zur Rückkehr. Laut Ash schwinde die russische Offensivkraft mit dem Grad der Zunahme der Stabilisierung einer proeuropäischen Politik sowie entsprechender Reformen.
Der Blick auf den Silberstreif kann Oleksandr Syrskyj allerdings lediglich mit Mühe erkennen. Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte hat gegenüber dem TV-Sender TSN zugegeben, was längst öffentlich diskutiert worden war, wie die Kiew Post berichtet: existenzielle militärische Schwierigkeiten: Ihm fehlten fähige Kommandeure und mehr Personal. Die Bildung frischer Einheiten hätte sich als Fehler erwiesen, weshalb die Umwidmung von unterstützenden Kräften wie Ärzten oder Logistikern zu Infanteristen fortgesetzt würde. Syrskyj kündigte an, künftig die bestehenden Brigaden weiter zu verstärken, anstatt sie auszudünnen.
Ukraine lernt: Ob das für ein erfolgreiches viertes Kriegsjahr ausreichen sollte, bleibt abzuwarten
Offensichtlich also hat die Ukraine das vergangene Jahr genutzt, um taktische sowie operative Fehler auszubügeln. Ob das für ein erfolgreiches viertes Kriegsjahr ausreichen sollte, bleibt abzuwarten. Allerdings ist der Beginn des vierten Kriegsjahres im Februar ein „Erfolg“ an sich, gemessen am Gebaren der gesamten Kreml-Führung. Trotz dessen sind viele hoffnungsfrohe Prognose auch schnell zerstoben: „Bis 2025 könnte die Ukraine über ausreichende Fähigkeiten und Mittel verfügen, um Russland zu besiegen“, hatte Hanno Pevkur im vergangenen Jahr gegenüber Politico geäußert. Aber auch Estlands Verteidigungsminister hat sich letztendlich getäuscht – oder vielleicht doch nicht?
Aktuelle Berichte von verschiedenen Frontabschnitten durch den US-Thinktank Institute for the Study of War (ISW) lauten erstaunlich gleich: „Am 24. und 25. Januar setzten die russischen Streitkräfte ihre Bodenangriffe nordöstlich von Charkiw in der Nähe von Wowtschansk und Tyche fort, kamen jedoch nicht weiter.“ „Am 25. Januar setzten die russischen Streitkräfte ihre Offensive in Richtung Borova fort, rückten jedoch nicht vor.“ „Am 25. Januar setzten die russischen Streitkräfte ihre Bodenangriffe in Richtung Tschassiw Jar fort, konnten jedoch keine bestätigten Vorstöße erzielen.“
Lediglich rund um Pokrowsk herum fressen sich die Russen meterweise voran. Und in Welyka Nowosilka sollen sie zwei Drittel des Stadtgebietes beherrschen und würden die ukrainische Darstellung insofern Lügen strafen, wie das ISW einen Militär-Blogger zitiert: „Scharfschützen und Drohnenpiloten der russischen 5. Panzerbrigade sind Berichten zufolge weiterhin im Einsatz und räumen ukrainische Stellungen im südlichen Teil von Welyka Nowosilka.“