US-Wahl „verloren“ und doch im Weißen Haus: Wann das passiert – und warum die USA am System festhalten

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Für einen Sieg bei der US-Wahl braucht es nicht zwingend eine Mehrheit der Stimmen. Trump und Bush Jr. profitierten davon. Ein Experte erwartet keine Änderung.

„The winner takes it all“ ist an vielen Stellen der US-Wahl ein Kernsatz. Und doch kann in der Schlussabrechnung das Gegenteil stehen: „The loser takes it all.“ Denn zweimal in den vergangenen 25 Jahren ist jener Kandidat US-Präsident geworden, der nur die zweitmeisten Stimmen erhielt. Ganz ohne vermeintliche Manipulationen oder „gestohlene Wahlen“. Das mag skurril wirken – und doch bleibt es ein Szenario auch für kommende Präsidentschaftswahlen, wie der Politologe Stephan Bierling im Gespräch mit IPPEN.MEDIA meint.

US-Wahl paradox: Republikaner gewinnen einmal die Stimmmehrheit – und erobern dreimal das Weiße Haus

Hinter dem Phänomen steckt das Wahlleute-System. Ein Lied von den Konsequenzen können vor allem die Demokraten singen. Im Jahr 2016 gewann Hillary Clinton die Mehrheit der Stimmen; 48,2 Prozent zu 46,1 Prozent stand es am Ende gegen Donald Trump. Doch gut 56 Prozent der Wahlmänner und -frauen gingen an Donald Trump. Im Jahr 2000 hatte Al Gore eine hauchdünne Mehrheit der abgegebenen Stimmen gegen George W. Bush errungen – und im Wahlleute-Kollegium doch das Nachsehen.

Mehr noch: Nur ein einziges Mal in den zurückliegenden 30 Jahren holte ein Kandidat der Republikaner die Mehrheit der Stimmen; Bush im Jahr 2004 gegen den Demokraten John Kerry. Dreimal aber zogen in Person von Bush Junior und Trump Republikaner ins Weiße Haus ein.

Das Gesamtergebnis der abgegebenen Stimmen firmiert als „Popular Vote“. Und ist doch nur eine statistische Größe. 2020 etwa hatte Joe Biden 51,3 Prozent aller Stimmen erhalten, Donald Trump 46,9 Prozent. Trotz des recht eindeutigen Vorsprungs von fünf Prozentpunkten zählten und bangten die Wähler in den USA tagelang. Denn entscheidend sind allein die Wahlleute, die die Bundesstaaten je nach ihrem örtlichen Ergebnis zur Wahl des Präsidenten entsenden.

US-Wahlmänner: Jeder noch so kleine Staat schickt mindestens drei „Elektoren“

Insgesamt 538 Wahlmänner und -frauen gibt es. Wie viele die Bundesstaaten entsenden dürfen, hängt aber nicht eins zu eins von ihrer Einwohnerzahl ab – sie entspricht vielmehr der jeweiligen Zahl der Abgeordneten und Senatoren der Bundesstaaten im Kongress. Jeder Staat hat zwei Senatoren. Die Zahl der Abgeordneten im Repräsentantenhaus wird alle zehn Jahre aufgrund eines Zensus neu berechnet, ein Mandat hat aber jeder Staat. Das heißt: Mindestens drei Wahlleute hat jeder noch so kleine Staat.

Al Gore (li.) und Hillary Clinton wurden nicht US-Präsidenten – trotz Stimmmehrheit im „Popular Vote“. © [M] Sok Eng Lim; Foto: Mary Evans/Imago/Allstar, D. Van Tine/Imago/Future Image, Gary He/picture alliance/dpa

„In Wyoming kommt ein Wahlmann auf knapp 200.000 Einwohner, in den bevölkerungsreichsten Staaten Kalifornien, Texas, Florida und New York auf mehr als 700.000“, erläutert Bierling in seinem Buch „Die Unvereinigten Staaten“. In Deutschland etwa gibt es im Bundeswahlgesetz Regeln, die solche Abweichungen verhindern: Die Größe eines Wahlkreises darf nicht mehr als 25 Prozent vom Durchschnitt abweichen. So soll die Gleichheit der Stimmen gewahrt bleiben.

In den USA erklärt noch ein zweiter Faktor Abweichungen zwischen „Popular Vote“ und Wahlergebnis: In fast allen Staaten gehen alle Wahlleute an den Präsidentschaftskandidaten mit der relativen Mehrheit; „the winner takes it all“. In der überwältigenden Mehrzahl der Bundesstaaten scheint das Ergebnis sogar schon vorab klar. Die Stimmen für Zweitplatzierte in den einzelnen Staaten verfallen indes für das Gesamtergebnis – unabhängig davon, ob es 49 oder beispielsweise 15 Prozent sind. Dieses System kennen in ähnlicher Form freilich auch andere Nationen mit Mehrheitswahlrecht; Großbritannien etwa. Aber warum die zusätzliche Verzerrung durch Wahlleute?

US-Wahl: Wahlmänner-System seit 1787 in Kraft – „Wirft man nicht einfach aus dem Fenster“

Schon seit 1787 ist der Modus in Kraft. „Niemand würde heute mehr so ein Wahlsystem in die Verfassung schreiben“, sagt Bierling. „Aber das entsprang einem politischen Kompromiss und der Kompromiss hat sich eigentlich als sehr beständig und belastbar erwiesen.“ Die Tradition sei also stark.

„Die Amerikaner wählen seit 1788 an jedem ersten Dienstag nach dem ersten Montag im November alle zwei Jahre ein Drittel des Senats, das Repräsentantenhaus und alle vier Jahre dann noch den Präsidenten dazu“, betont Bierling: „Jeden ersten Dienstag nach dem ersten Montag im Zwei-Jahres-Rhythmus und das bald über 230 Jahre.“ Selbst in Bürger- und Weltkriegen, in Wirtschaftskrisen hätten die USA dieses System und ihre Regierungsform im Kern beibehalten.

Wohl genau deshalb wird es wahrscheinlich auch dabei bleiben. Allen möglichen Verzerrungen zum Trotz. „Es ist nicht so leicht, jemanden in den USA davon zu überzeugen, dass man dieses System einfach aus dem Fenster wirft, weil es jetzt mal nicht den Popular Vote der gesamten USA abbildet“, sagt Bierling. (fn)

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