Gespräch mit Landrat: Von Rücktrittsforderungen, Polizeischutz und einer mutigen Verwaltung
Von Asyl bis Krankenhausversorgung: Landrat Josef Niedermaier spricht im großen Jahresinterview über die größten Herausforderungen heuer und im kommenden Jahr.
Bad Tölz-Wolfratshausen – Josef Niedermaier (Freie Wähler) lenkt seit 16 Jahren als Landrat die Geschicke des Landkreises. Die Themen, die ihn derzeit umtreiben, sind Asyl, die Zukunft der Gesundheitsversorgung und die Finanzen. Im Interview spricht der Tölzer (61) über Rücktrittsforderungen, darüber, ob er erneut kandidiert, den unbedingten Willen zum ÖPNV-Ausbau und über die Momente, in denen er besonders stolz auf seine Mitarbeiter ist.
Herr Niedermaier, bei einigen Themen wirken Sie viel dünnhäutiger als früher. Macht es noch Freude, Landrat zu sein?
Ja, aber ich spüre schon auch, dass ich dünnhäutiger reagiere. Ich mache seit 30 Jahren kommunale Politik. Mit dieser Erfahrung weiß oder ahne ich bei vielen Themen, in welche Richtung es gehen wird. Das wollen aber die wenigsten hören. Dann denke ich mir: Mann, verdammt noch mal: Ich nenne euch die Argumente und sage aus Erfahrung, wenn das passiert, wird daraus jenes resultieren. Aber die Leute wollen nicht sehen, was tatsächlich kommt. Die Politik denkt oft zu kurzfristig. Ich versuche dann immer zu erklären, dass das jetzt vielleicht kurzfristig ein Erfolg ist, aber langfristig Probleme bereiten wird. Dass man die langfristigen Auswirkungen nicht sieht oder nicht sehen will – das macht mich wahnsinnig.
Was sind die Themen, die Sie am meisten aufregen?
Themen im Gesundheitswesen. Mir war vor 15 Jahren schon klar, was da passieren muss. Die Tölzer Klinik war eine der ersten, die die Fallpauschalen-Abrechnungen erprobt hat. Irgendwann war klar, dass das System eine Sackgasse ist. Die Kliniken sind in einen Wettbewerb hinein gerannt. Der war damals so gewollt, aber dann hat man die Kurve nicht gekriegt. Und nun steht man vor einem großen Strukturwandel im Gesundheitssystem.
Jetzt ist die Krankenhausfinanzierungsreform beschlossen. Das wird zwangsläufig Änderungen mit sich bringen für die Wolfratshauser Kreisklinik.
Nicht nur für die Kreisklinik, für die Tölzer Asklepios-Klinik genauso.
Was befürchten Sie für die Gesundheitsversorgung?
Wir sind eine mit stationären Betten überversorgte Region, die sich konsolidieren muss – das hat Gesundheitsminister Karl Lauterbach klar gesagt. Sonst gibt sie zu viel Geld pro Person aus. Es gibt aber keinen Anreiz für diese Konsolidierung. Vielmehr sagt die Krankenhausreform, auch mit bayerischer Unterstützung: Liebe Landräte oder auch Krankenhausträger, setzt euch zusammen, und macht aus, wer was vor Ort macht oder eben nicht mehr. Das ist jenseits jeder Realität. Denn jeder Landrat wird versuchen rauszuholen, was geht. Aber das führt zu nichts. Ich sage immer: Aufsichtsrat, filtere heraus, was das Alleinstellungsmerkmal ist. Und mit dem kämpfen wir. Vergleicht euch bitte mit den anderen, und schaut, wo ihr besser seid.
Eigentlich müsste der Freistaat erst einmal eine ordentliche Krankenhausplanung erstellen, also sagen: Wo brauche ich welche Versorgung, oder?
Das ist der Punkt. Es gibt eine Krankenhausplanung, aber die ist nach Beliebigkeit entwickelt worden. Und was macht der Freistaat jetzt bei uns? Er nimmt Murnau mit 240 Betten in den Krankenhausplan auf, dort war der Standort als BG-Klinik vorher nicht drinnen. Das ist ein zusätzliches Krankenhaus – größer als Wolfratshausen oder Penzberg – im Krankenhausplan. Das sagt er uns aber nicht, sondern macht das hinter unserem Rücken. Murnau wird in einer regionalen Strategie eine wesentliche Rolle spielen müssen. Aber dann muss der Freistaat halt den anderen Beteiligten sagen: Dort ist unser Schwerpunkt und jetzt einigt euch, wer von euch was dazu liefert.
Jetzt ist man in den Fängen der Reform und muss schauen, was passiert
Der Landkreis trägt ein dauerhaftes Defizit der Kreisklinik – ohne Aussicht auf eine schwarze Null. Wie soll das weitergehen, in finanziell schlechter werdenden Zeiten?
Wir hatten vor vier Jahren Vorschläge, wie man dem begegnen und die Kreisklinik erhalten könnte. Denn das ist oberstes Gebot. Das wollte die Politik nicht hören. Jetzt ist man in den Fängen der Reform und muss schauen, was passiert.
Aber irgendwie drückt sich die Politik schon vor der Debatte über das Defizit der Kreisklinik.
Ich wundere mich halt über Aussagen der Wolfratshauser Stadträte. Da werden der Alpenbus und der ÖPNV gebasht, aber über das Klinikdefizit sagt keiner ein Wort. Und wenn ich was sage, heißt es gleich, ich rede die Klinik schlecht. Das will ich nicht. Ich will die Klinik nicht schlecht, sondern zukunftsfähig machen. Dazu muss man aber Dinge infrage stellen, die immer so waren. Und: Die Politik in der Region ist nicht fähig, Krankenhaus in der Region zu organisieren.
Ein guter ÖPNV ist eine Grundvoraussetzung für den Erhalt des Wohlstands in der Region
Während das Klinik-Defizit einfach so hingenommen wird, wird über die ÖPNV-Ausgaben praktisch ständig diskutiert. Nervt das?
Ja, weil ein Teil der Kreispolitik hier an der Lebenswirklichkeit der Bevölkerung und der Wirtschaft vorbei diskutiert. Wo haben die Leute ihr Ohr, die das jetzt hinterfragen? Die Forderungen nach besseren Verbindungen kommen unter anderem von der IHK. Viele können sich kein Auto mehr leisten, kommen aber ohne nicht zu ihrem Arbeitsplatz. Ich kämpfe weiter dafür, dass wir den Nahverkehrsplan umsetzen. Ein guter ÖPNV ist eine Grundvoraussetzung für den Erhalt des Wohlstands in der Region. Hier müssen wir Geld investieren.
Viel Geld gibt es aber nicht mehr zu verteilen. Das liegt auch daran, dass die Sozialausgaben und die Kosten im Jugendhilfebereich immer weiter steigen.
Das liegt daran, dass die Pflichtaufgaben immer mehr werden. Allein die aktuellen Beschlüsse des Bunds zum SGB VIII machen 15 neue Stellen im Jugendbereich aus. Hier hat der Landkreis keinen Einfluss, sondern muss das umsetzen. Das Personal dafür gibt es nicht – auch weil man in vielen Bereichen zu hohe Standards gesetzt hat und man Erzieher oder Pädagogen einstellen muss. Wobei man sagen muss, dass bei uns die Kosten im Jugendhilfebereich bei Weitem nicht so schnell steigen wie bei anderen, weil wir sozialräumlich arbeiten und mit den Trägern gute Konzepte entwickelt haben. Aber die große Politik muss aufhören, Wohltaten zu verteilen, ohne die zu hören, die am Ende dafür bezahlen. Das sind im Sozialbereich fast immer die Kommunen.
Nächstes schwieriges Thema: Asyl. Nach dem VGH-Entscheid kann die Unterkunft am Tölzer Isarleitenweg nicht belegt werden. Gegen andere Unterkünfte wird geklagt.
Solidarität von den Gemeinden spüre ich nur noch bedingt. Die Bürgermeister sind sehr indifferent, weil sie alle wissen, dass die Kommunen natürlich die Last tragen müssen. Und wenn ihr eigener Stadtrat sagt, jetzt klagen wir dagegen, dann verstehe ich den Bürgermeister, wenn er sagt: Soll ich gegen meinen Stadtrat agieren und dem Landrat helfen? Sie sagen mir dann immer: Du wirst das schon aushalten.
Aber halten Sie es denn noch aus?
Momentan schon noch. Ich bin eher ein zuversichtlicher Mensch und sage: Da ist ein Problem, das müssen wir lösen, und ich sitze an der Stelle, an der man das lösen kann. Was würde passieren, wenn ich das tue, was viele fordern? Wenn ich Busse zurückschicke? Dann kommen sie doppelt wieder. Irgendwann müssen wir dann weitere Turnhalle belegen.
Das Problem ist, dass noch keine Turnhalle freigeräumt, kein Hotel freigegeben und auch keine dezentrale Wohnung gekündigt ist.
Durch das Aus für den Isarleitenweg fehlen jetzt 100 Plätze.
Ja, aber es wird auch nicht gegen jede Unterkunft geklagt: Münsing wird belegt, der Kranzer geht Anfang 2025 in Betrieb, Benediktbeuern im Februar. Lenggries ist bezogen, und für die Ökoakademie in Linden schaut es ganz gut aus. Das Problem ist, dass noch keine Turnhalle freigeräumt, kein Hotel freigegeben und auch keine dezentrale Wohnung gekündigt ist. Das alles muss aber nach der Entscheidung der bayerischen Staatsregierung passieren, weil die Kosten runter müssen.
Kosten entstehen auch für den Isarleitenweg. Das Gebäude ist auf Jahre angepachtet, kann aber nicht als Asyl-Unterkunft genutzt werden.
Das VGH-Urteil sorgt für Stirnrunzeln in der Bayerischen Staatsverwaltung, weil es in dieser Form keiner erwartet hat. Wir sind da nicht einfach blauäugig reingelaufen. Wir haben das gemeinsam lange abgewogen, dann kam das erste VG-Urteil, das zu unseren Gunsten ausgefallen ist – und da haben wir natürlich gedacht, wir sind auf dem richtigen Weg und haben angefangen zu bauen.
Was passiert denn jetzt mit dem Gebäude?
Ich weiß es nicht. Wohnnutzungen werden an der Stellplatzfrage scheitern und daran, dass das Gebäude nicht so gebaut ist, dass da morgen gerne eine Assistenzärztin oder eine Pflegerin einzieht. Unter anderem gibt es nur Gemeinschaftsduschen. Wir sind natürlich in Gesprächen mit der Stadt. Aber das VGH-Urteil ist ein Dilemma.
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In dieser Sache wurde von Einzelnen Ihr Rücktritt gefordert. Gab es das in dieser Deutlichkeit schon vorher mal?
In der ersten Krankenhausdebatte war es ähnlich – auch massiv persönlich. Aber das gehört bei mir zur Jobbeschreibung. In Transformationsprozessen, für die Teile der Bevölkerung kein Verständnis hat, braucht man einen Schuldigen.
Aber es nervt schon, oder?
Ja, es nervt. Aber wenn ich das nicht aushalten kann, kann ich den Job nicht machen. Schockiert war ich nur vor der Dietramszeller Bürgerversammlung, als mich die Polizei angerufen und gesagt hat, sie seien vor Ort und wir sollen bitte noch zwei Mann vom Sicherheitsdienst mitbringen. Da habe ich gedacht, okay, jetzt ist irgendwas schiefgelaufen. Am Ende gab es null Bedarf, auch weil Bürgermeister Hauser die Bürgerversammlung stringent geführt hat. Es war für mich nicht angenehm, aber es war ein demokratischer Diskurs zum Thema Asyl. Das ist das, was wir brauchen.
Apropos Diskurs. Am Anfang hatte es der Kreistag recht schwer, weil die Tagungen während Corona losgingen. Ist das Gremium denn mittlerweile zusammengewachsen?
Es war zäh und könnte nach wie vor besser sein. Denn das, was man normalerweise macht, eine Anfangsveranstaltung, gemeinsame Treffen – auch mit dem Partner –, das fehlt einfach. Denn da hat man sonst miteinander geredet, hat sich kennengelernt und den anderen verstanden. Das geht komplett ab. Bei nur vier Kreistagssitzungen im Jahr und einer immens komplexen Kreispolitik – wenn ich die verstehen will, muss ich zu Hause wirklich viel tun, viel lesen, bis man die Zusammenhänge verstehen kann.
Dabei gibt es gar nicht mehr so viel Gestaltungsspielraum im Haushalt zwischen all den Pflichtaufgaben, oder?
Wir sind mit sehr wenigen Mitteln sehr kreativ, finde ich. Gestalten können wir noch beim ÖPNV, wo man die Bedürfnisse der Wirtschaft bedienen kann – wir können ja keine Förderprogramme auflegen. Das ist die einzige Kreativität, die wir noch haben.
Wobei Ihr Hauptamt sehr kreativ ist. Die bekommen mit guten Ideen eine Wasserschaden-Sanierung in der Tölzer Realschule für kleines Geld hin.
Wenn ich sehe, was Hauptamtsleiter Christoph Bauer durch geschickte Verhandlungstaktik Geld gespart hat... Hut ab, mit welchem Mut er an die Sachen herangeht. Wenn der Trocknungsversuch in der Realschule schiefgeht, wer ist dann der Schuldige? Ich habe ihm aber vorher gesagt: Wenn es schiefgeht, dann waren wir das gemeinsam. Das sage ich zu allen: Trefft mutige Entscheidungen, wir stellen uns vor Euch. Das sind die Momente, in denen ich sehr stolz auf meine Leute bin, weil sie das so gut hinbringen. Das interessiert halt draußen oft keinen, weil das für selbstverständlich angesehen wird.
Ich wünsche mir, dass sie bei ihren Entscheidungen aus der Blase, die es im Landtag und im Bund gibt, rauskommen und uns zuhören.
Mehr Gestaltungsspielraum im Haushalt gäbe es, wenn der Freistaat endlich mal sein Personal selber bezahlen würde. Wie viel schuldet er dem Kreis?
7 Millionen Euro.
Das ist ärgerlich, oder?
Das ist deswegen ärgerlich, weil der Finanzminister natürlich sagt, ihr habt überlassenes Kostenaufkommen durch die Gebühren. Ihr dürft erst jammern, wenn die Gebühren ausgeschöpft sind. Dann schafft der Freistaat einige Gebühren ganz ab und schlägt die Ordnungswidrigkeitsverfahren aus der Coronazeit nieder. Wenn wir sagen: Wenn du das niederschlägst, musst du uns die entgangenen Einnahmen ersetzen, dann lachen alle. Die lachen wirklich.
Was würden Sie sich vom Bund und vom Freistaat wünschen?
Ich wünsche mir, dass sie bei ihren Entscheidungen aus der Blase, die es im Landtag und im Bund gibt, rauskommen und uns zuhören. Dass sie erkennen, was die Lebenswirklichkeit hier ist. Das war auch der Grund, warum alle bayerischen Landräte nach Berlin gefahren sind. Die Gespräche waren ernüchternd. Was bei der Bevölkerung notwendig ist oder was die Leute umtreibt, das wissen die leider nicht mehr.
Was werden die schmerzhaften Entscheidungen nächstes Jahr sein?
Zuerst einmal den Haushalt durchzubringen. Der ist aber noch einfach, gegenüber dem, was 2026 auf uns zukommt. Und die Frage ist natürlich: Verfolgen wir unseren Nahverkehrsplan oder nicht? Und der Rest ist sowieso vorgegeben.
Wollen Sie sich das sechs weitere Jahre antun?
Das ist die Frage, auf die ich keine Antwort habe. Das Herz sagt ja, der Verstand hat noch ein paar größere Fragen.