Mützenich-Rede: Scholz, der Weltenretter – ein ungerechtfertigtes Lob?
Mützenich-Rede: Scholz, der Weltenretter – ein ungerechtfertigtes Lob?
„Das war eine große Leistung“, lobt der SPD-Fraktionschef vor der Vertrauensfrage im Parlament. Was Olaf Scholz geleistet haben soll, bleibt fraglich.
Berlin – „Bidens Armageddon-Moment“ nennt David E. Sanger die Zeit, „als eine Atomexplosion in der Ukraine möglich schien“, wie er schreibt. Der Autor der New York Times (NYT) verweist darauf, das Wladimir Putin Ende 2022 mit dem Gedanken gespielt haben soll, einen taktischen Atomschlag auszuführen, weil ihm der Ukraine-Krieg aus den Händen zu gleiten drohte. Der amtierende Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) soll seinen Teil zur Verhinderung der atomaren Eskalation beigetragen haben – wird behauptet.
Vor der Abstimmung des Bundestages zur Vertrauensfrage gegenüber dem Kanzler hat SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich wiederholt, was er bereits im März angedeutet hatte – verbunden mit einem Dank an den Kanzler, „dass Sie diese Krise durch Ihre Reise nach Peking abgewendet haben“.
SPD-Entspannungspolitik: Scholz länge in einer Linie mit den Friedenskanzlern Brandt und Schmidt
Ohne Details zu nennen, sei ein drohender Atomschlag Russlands Teil der Gespräche zwischen Chinas Staatschef Xi Jinping und Olaf Scholz gewesen, wie Mützenich andeutet. Tatsächlich läge Olaf Scholz damit in einer Linie mit den beiden sozialdemokratischen Friedenskanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt. Der Lübecker Brandt war zwischen 1969 und 1974 Bundeskanzler und zeichnete sich vor allem durch eine ausgewogene, auf Entspannung ausgelegte Ostpolitik aus. Sein Nachfolger aus Hamburg, Helmut Schmidt, regierte das Land von 1974 bis 1982 und verfolgte eine Entspannungspolitik durch Abschreckung.
„Doch da der Westen hinsichtlich ihres Bündnisses immer ungeduldiger wird und Xi Jinpings Hoffnungen, den Friedensstifter zu spielen, bislang erfolglos blieben, wird er das Risiko abwägen, weiterhin ,Schulter an Schulter‘ mit einem internationalen Paria zu stehen, den er einst sowohl einen Kameraden als auch einen ,lieben Freund‘ nannte.“
Ihn entzweite von Willy Brandt die Zustimmung zum Nato-Doppelbeschluss mit der Stationierung US-amerikanischer Pershing II-Mittelstreckenraketen als Ausgleich zur russischen Bedrohung durch deren SS-20. Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion stand die Welt jahrelang am Rande eines Atomkrieges. Was sich jetzt offenbar für einen kurzen Moment wiederholt hatte – wie David Sanger in der NYT schreibt; angekündigt an einem Abend, als US-Präsident Joe Biden vor viel Publikum seine Agenda der kommenden Jahre ausbreiten wollte.
„Es war der 6. Oktober 2022, doch stattdessen hörten sie an diesem Abend eine beunruhigende Botschaft. Diese stammte – obwohl Biden dies nicht sagte – direkt aus streng geheimen abgefangenen Nachrichten, über die er erst kürzlich informiert worden war. Sie deutete darauf hin, dass sich Präsident Wladimir Putins Drohungen, in der Ukraine eine Atomwaffe einzusetzen, möglicherweise in einen Operationsplan verwandeln könnten.“
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Mützenich betonte in seiner Rede vor dem Bundestag, dass Scholz mit seinem Einsatz und dem nachfolgenden Verdikt Xis gegenüber Russland zum Verzicht auf Atomwaffen „möglicherweise Schlimmeres verhindert“ habe. Obwohl die Sozialdemokratie in ihrer gesamten Geschichte gegen innerparteiliche gegenläufige Fliehkräfte zu kämpfen hatte, ist Mützenichs Rückendeckung für Scholz als „Friedenskanzler“ lobenswert – von anderer Seite dagegen wurde Scholz in seiner Haltung zu Deutschlands Rolle im Ukraine-Krieg angegriffen. Als „Anmaßung“ hat die Welt kritisiert, wie sich Scholz als „Friedenskanzler“ brüste.
China bezog öffentlich Position: Fraglich ist, „was er, wenn überhaupt, privat signalisierte“
Um einen Atomwaffen-Einsatz zu verhindern, sollen die US-Verantwortlichen auch den russischen Außenminister Sergej Lawrow angerufen haben – dass der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz auf einem geplanten Besuch in Peking gewesen war, mag als günstige Fügung erscheinen. Laut Sanger sei er darauf vorbereitet gewesen, „den chinesischen Präsidenten Xi Jinping über die Geheimdienstinformationen zu informieren und ihn zu drängen, sowohl öffentliche als auch private Erklärungen gegenüber Russland abzugeben, in denen er warnt, dass es im Ukraine-Konflikt keinen Platz für den Einsatz von Atomwaffen gebe“, wie die NYT schreibt.
Klar ist, dass Xi öffentlich Stellung bezogen hat. Fraglich ist, „was er, wenn überhaupt, privat signalisierte“, wie die NYT anfügt. Fraglich ist auch, wodurch sich ein chinesischer Staatschef von einem deutschen Kanzler „drängen“ lässt. Wer sich mit der Ostpolitik durch Willy Brandt und Helmut Schmidt beschäftigt, wird nirgendwo finden, dass sich eine Großmacht von einem Nachkriegsdeutschland hat drängen lassen. Beschwichtigen vielleicht, überzeugen ganz sicher. Drängen wohl kaum.
Sollte der SPD-Fraktionsvorsitzende dennoch recht haben damit, dass Olaf Scholz einen drängenden Einfluss auf den Regierungschef eines 1,5 Milliarden Menschen zählenden Volkes gehabt habe, dann rückt die Frage des Entscheidungs-Tempos eines Olaf Scholz im eigenen Land wieder in den Fokus. „Zur Tradition unseres Landes gehört das Wissen um die dramatischen Konsequenzen zweier von Deutschland ausgehender Weltkriege, das den Rahmen unserer Politik bildet“, hat Olaf Scholz zwei Monate nach Ausbruch des Ukraine-Krieges im Februar 2022 gegenüber dem Spiegel geäußert.
Deutsche Hilfe im Ukraine-Krieg: Scholz haftet immer etwas an von „zu wenig, zu spät“
Wie Klaus Wittmann in der Welt kürzlich kommentiert hat, trage er Scholz immer noch übel nach, wie er die Ukraine mit Waffen –vielleicht darf man so formulieren – hat hängen lassen; Wittmanns Beispiel: „deutsche Panzer, deren Lieferung der Bundestag Ende April 2022 gefordert hatte. Bundeskanzler Olaf Scholz habe kurz darauf im Auswärtigen Ausschuss gewarnt, die Lieferung von Schützenpanzern Marder an die Ukraine werde ,eine furchtbare Eskalation‘ bewirken‘“, so Wittmann. Scholz haftet immer etwas an von „zu wenig, zu spät“, wie der Welt-Autor nahelegt.
Anders als Parteigenosse Mützenich wertet auch Henning Hoff Scholz‘ Reise nach China Ende 2022 als „verpasste Chance“. „Die Entscheidung, allein nach China zu reisen, zeugt davon, dass Scholz eine besondere Vorstellung von der Rolle eines deutschen Bundeskanzlers hat – eine Vorstellung, die er selten teilt, geschweige denn erklärt. Er weiß es einfach“, kritisiert Hoff in Internationale Politik Quarterly. Möglicherweise hatte Scholz gute Karten bei Xi Jinping, weil er die Minderheitsbeteiligung der chinesischen Schifffahrtsgesellschaft COSCO Shipping Lines am Hamburger Hafen wider den Protest einiger Ministerien und Politiker hat „durchdrücken“ wollen, wie Zeit Online Ende 2022 formuliert hat.
Tatsächlich scheint in den Beziehungen Deutschlands zu China das Reich der Mitte mehr und mehr an den Drücker zu kommen. Das jedenfalls legt nahe, was Janka Oertel unter dem Titel „Das Ende der deutschen China-Illusion“ zusammengetragen hat: das Ende der Vorstellung, dass sich Deutschland durch Handel einen Wandel in Chinas Haltung gegenüber dem Westen erkaufen könnte, wie die Analystin des Thinktanks Europan Council on Foreign Relations (ECFR) Ende 2023 veröffentlicht hat.
Verkehrte Welt: Chinas Elektrofahrzeuge die teutonische Dominanz nun aggressiv heraus
China drängt auf Kontrolle; auf Kontrolle über Taiwan, auf Kontrolle über seine Vasallen Russland und Nordkorea sowie auf Kontrolle bezüglich des globalen Marktes. Als Helmut Schmidt am 28. Oktober 1975 als erster Bundeskanzler die Volksrepublik China besucht hatte, war Deng Xiaoping der Parteiführer eines Entwicklungslandes. Auch Schmidt hatte sich gesehen als Scharnier zwischen Russen, US-Amerikanern und Chinesen, um einen Dritten Weltkrieg zu verhindern. „Was müssen wir tun, und was unterlassen, um das zu erreichen?“, hatte er sich gefragt: „Dies sind Fragen, die immer wieder zwischen Europäern und Chinesen erörtern werden; anders als zur Zeit Maos sprechen die Chinesen darüber heutzutage weit pragmatischer und weniger dogmatisch“, schrieb Schmidt resümierend in seinem Buch „Menschen und Mächte“.
Tatsächlich diskutieren die Chinesen ein halbes Jahrhundert später mit Deutschland aufgrund deren Marktmacht über sensible Entwicklungsgüter: „Sogar in Sektoren, auf die die Deutschen ganz besonders stolz sind, wie etwa der Automobilindustrie, fordern chinesische Elektrofahrzeuge die teutonische Dominanz nun aggressiv heraus“, schreibt Janka Oertel. Die Rollen haben sich umgekehrt, aber Rolf Mützenich hat qua Amt die Verpflichtung, den Kanzler in den Himmel zu heben. Des Kanzlers Gespräche mit Xi aufzuwerten als „Das war eine große Leistung“ ist ein klassischer Blumenstrauß – auch am Ende einer diskussionswürdigen Regierungsperiode.
Das Verhältnis zwischen den Partnerländern Russland und China wird durch den Überfall auf die Ukraine ohnehin erschüttert, wie Laura Bicker für die britische BBC im April geschrieben hatte: „Doch da der Westen hinsichtlich ihres Bündnisses immer ungeduldiger wird und Xi Jinpings Hoffnungen, den Friedensstifter zu spielen, bislang erfolglos blieben, wird er das Risiko abwägen, weiterhin ,Schulter an Schulter‘ mit einem internationalen Paria zu stehen, den er einst sowohl einen Kameraden als auch einen ,lieben Freund‘ nannte.“