Analyse zur europäischen Sicherheit - Wegen Trump müssen wir nun über das Undenkbare nachdenken - auch über Atomwaffen
Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Aber im Moment konzentriert sich die Diskussion über eine mögliche Absprache zwischen den Präsidenten Donald Trump und Wladimir Putin fast ausschließlich auf die Beendigung der Kampfhandlungen in der Ukraine.
Trump stahl der Münchner Sicherheitskonferenz von Washington aus die Show, indem er ein „langes und sehr produktives“ Telefonat mit Putin zum unverzüglichen Beginn von Friedensverhandlungen verlautbarte.
Gleichgewicht der Kräfte und Gefühl von Legitimität
Es war der ehemalige amerikanische Außenminister und Großmeister der Diplomatie, Henry Kissinger, der mal gesagt hat: „Jedes internationale System, das funktionieren soll, fußt auf zwei entscheidenden Elementen. Zum einen bedarf es eines Gleichgewichts der Kräfte, einer Art Äquilibrium, welches es schwer macht, das System einfach aus den Angeln zu heben."
Und es brauche ein Gefühl von Legitimität bei den Staaten, die es betrifft. Diese müssten „davon überzeugt sein, dass die Ordnung, der sie sich verpflichtet fühlen sollen, im Prinzip gerecht ist“.
Europa soll Frieden sichern, aber nicht an den Verhandlungen teilnehmen
Wenig deutet bislang darauf hin, dass Trump diese beiden Elemente im Auge hat. Die Europäer sollen laut Washington den Frieden sichern, aber an den Verhandlungen nicht beteiligt werden.
Als Trumps Beauftragter Keith Kelloggs in München gefragt wurde, ob bei den Gesprächen zwischen den USA und Russland die Ukrainer am Verhandlungstisch sitzen würden und ebenso die Europäer, sagt er: „Die Antwort auf die letzte Frage ist Nein, die Antwort auf den ersten Teil ist Ja, natürlich werden die Ukrainer am Tisch sitzen.“
Großbritannien erklärt sich bereit, Truppen zu schicken
Stattdessen gingen in Europas Hauptstädten bereits Fragebögen aus Washington ein. Die Regierungen sollen angeben, welche militärischen Ressourcen sie zur Sicherung einer Nachkriegsordnung zur Verfügung stellen können.
Claudia Major, Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheit bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, schätzte die verfügbare Zahl in der „Welt am Sonntag“ für ganz Europa auf überschaubare 20.000 Soldaten, die in der Ukraine stationiert werden können. Benötigt würden aber mindestens 100.000 bis 150.000.
Der britische Premier Keir Starmer hat seine Bereitschaft bekundet, Truppen zu schicken. Zahlen nannte er nicht. Kanzler Olaf Scholz hingegen lehnte am Donnerstag gegenüber „Politico“ einen deutschen Beitrag für eine Friedenstruppe in der Ukraine ab: „Jeder weiß, dass das kein Thema jetzt ist.“
Präsident Selenskyj ist zunächst einsam
Präsident Wolodymyr Selenskyj ist also zunächst recht einsam. In München ließ er zudem deutliche Zweifel daran erkennen, dass er von den USA ähnlich respektiert wird wie Putin. Aber sollte das angegriffene Land in den Gesprächen eher am Katzentisch sitzen, liefe es nicht auf einen Verhandlungsfrieden hinaus, sondern auf ein Friedensdiktat.
Die Völker Mittel- und Osteuropas kennen das von Jalta, wo im Februar 1945 im Vorfeld der späteren Friedensabkommen US-Präsident Roosevelt und der britische Premier Churchill im Einvernehmen mit dem sowjetischen Diktator Stalin über ihr Schicksal entschieden, ohne deren Selbstbestimmung zu berücksichtigen. Wiederholt sich Jalta? Manche sprechen aktuell gar schon von einem „Trump-Putin-Pakt“ und rufen damit Erinnerungen an 1939 wach.
US-Verteidigungsminister Hegseth und der „perfekte Deal-Maker“
Das wird befeuert durch Äußerungen des neuen US-Verteidigungsministers. Pete Hegseth mag inhaltlich richtig liegen mit der Einschätzung, Kiew müsse die Hoffnung aufgeben, sein gesamtes Territorium von Russland zurückzugewinnen, und eine Nato-Mitgliedschaft sei unrealistisch. In diese Richtung gehen die Spekulationen vieler Journalisten, zu denen Hegseth bis vor wenigen Tagen gehörte.
Aber jetzt ist Hegseth nicht mehr Fox-News-Moderator, sondern als US-Verteidigungsminister Teil der Verhandlungsmaschine Trumps, den er als den „perfekten Deal-Maker“ gefeiert hat.
Hegseth selbst, der vor seiner Berufung in die Trump-Administration kein politisches Amt oder Mandat inne hatte, scheint weit entfernt von jedem Verhandlungsgeschick.
Hegseth gesteht zentrale Forderungen Putins ohne Gegenleistung zu
Er gab mit seinen Äußerungen zentralen Forderungen Putins ohne jede Gegenleistung nach, anstatt am Verhandlungstisch hart um sie zu feilschen: Was wird dem Aggressor Moskau zugestanden? Wo muss Moskau im Gegenzug Konzessionen machen? Auch das Thema Nato-Mitgliedschaft bedarf einer Konkretisierung: Internationale Übereinkommen dieser Art sind mit einer Frist ausgestattet, und auch Kiew wird kaum „auf ewig“ auf einen Beitritt zur Allianz verzichten. Was aber wird stattdessen erwartet? Eine Stillhaltephase von fünf Jahren? Von zehn Jahren?
So etwas wird üblicherweise von Fachleuten hinter geschlossenen Türen oder über abhörsichere Leitungen vorverhandelt, nicht aber in Form eines nassforschen Pressestatements verkündet.
Keine US-Truppen in die Ukraine
„Um es klar zu sagen: Als Teil einer Sicherheitsgarantie werden keine US-Truppen in die Ukraine entsandt“, fügte der neue Pentagon-Chef noch hinzu.
Auch das ist Musik in Putins Ohren und lässt ihn verfrüht wissen, dass er es an der gefährlichsten Schnittkante zwischen Russland und dem Westen wohl nicht mehr lange mit den Militärs der Vereinigten Staaten zu tun haben wird. Dass die USA mit einem völlig Rückzug aus Europa weise handeln, darf man bezweifeln.
Putin träumt von einer russischen Dominanz über „Eurasien“
Putin träumt von einer russischen Dominanz über „Eurasien“, und diese Landmasse ist nach dem Begründer der Geopolitik, dem Briten Halford Mackinder, der Schlüssel zur Beherrschung der Welt.
Gerade angesichts der gewachsenen Bedeutung Asiens und der russisch-chinesischen Annährung wäre eine zunehmende Dominanz Russlands über Europa, selbst wenn diese ohne echten Waffengang erfolgen sollte, für die USA keine gute Perspektive.
Aber wenn sich Washington so entscheiden möchten, warum bereits jetzt Einzelheiten hinausposaunen? Nicht einmal Trump hatte das so klar und ohne Möglichkeit zur gesichtswahrenden Revision formuliert. Selbst nach diesem Vorstoß von Hegseth kommentierte der Präsident, darauf angesprochen, zurückhaltender: „Das stimmt wahrscheinlich.“
Das System von Versailles hat Hitlers Plan damals begünstigt
Das Zitat Kissingers betraf übrigens den ebenfalls in Form eines Diktats zustande gekommenen Friedensschluss von Versailles.
Kissinger sagte mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg: „Die Hauptverantwortung für den Krieg liegt bei Hitler. Aber das System von Versailles hat seinen Plan begünstigt.“
Hinsichtlich der von ihm genannten beiden Elemente jeder funktionierenden Friedensordnung sagte er: „Versailles war in beiden Punkten ein Missgriff.“
Was heißt das den Ukraine-Krieg?
Was heißt das für eine Beilegung des Ukraine-Krieges? Wenn Kiew und die Menschen in den umstrittenen Territorien den Eindruck gewinnen, ungerecht behandelt worden zu sein, ist der Keim für den nächsten Konflikt gelegt.
Man bedenke: Deutschland musste rund 14 Prozent seines Gebietes an Frankreich, Belgien, Polen und den Völkerbund abtreten, und diese Wunde schmerzte, bis Hitler sie zu heilen versprach – und stattdessen die Welt in den Abgrund steuerte. Von der Ukraine würde gar ein Verzicht auf 20 Prozent des Territoriums erwartet. Das soll zu einer stabilen Nachbarschaft führen?
Russland wird weitere Forderungen stellen
Noch wahrscheinlicher ist indes, dass ein Verzicht auf das von Kissinger geforderte Gleichgewicht das deutlich gestärkte Russland ermuntern wird, mittelfristig weitere Begehrlichkeiten zu entwickeln – in Richtung der übrigen Ukraine (die Putin ja bei Beginn der Invasion insgesamt erobern wollte), in Richtung Georgiens und Moldawiens.
Und wenn Washington aus bisherigen Andeutungen eine Strategie macht, sich künftig der Beistandsklausel, auf der das Nato-Bündnis beruht, nicht mehr verpflichtet zu sehen, geraten auch Estland, Lettland, Litauen oder Polen ins Visier Russlands – und danach Deutschland.
Weltgeschichte erlebt zahlreiche Diktatfrieden
Neben vielen Diktatfrieden in der Weltgeschichte, darunter Nanking (1842; zwischen China und Großbritannien), Brest-Litowsk (1918; zwischen dem Deutschen Reich und Sowjet-Russland) oder Versailles (1919), gab es auch Friedensschlüsse auf Augenhöhe. Etwa das Camp-David-Abkommen (1978; Israel und Ägypten) oder Dayton (1995; zur Beendigung des Bosnien-Krieges).
Die „Mutter aller Friedensschlüsse“ bleibt aber der Westfälische Friede (1648) am Ende des Dreißigjährigen Krieges, der als multilaterale Verständigungslösung die Machtgleichgewichte Europas respektierte.
Vance: Trump-Administration will dauerhaften Frieden
Immerhin: In München sprach Vance 40 Minuten mit Selenskyj. Danach versicherte er, die Trump-Administration wolle einen dauerhaften Frieden zwischen der Ukraine und Russland finden. „Wir wollen, dass das Töten aufhört. Wir wollen keinen Frieden, der Osteuropa in ein paar Jahren wieder in einen Konflikt stürzt.“
Eine solche längerfristige Perspektive wäre der richtige Ansatz – und würde gleichwohl Europa, Deutschland eingeschlossen, vor gewaltige Herausforderungen stellen.
Der Verteidigungsetat müsste massiv aufgestockt werden, nicht nur wegen der Ukraine, sondern auch zum Zweck der schlichten Landesverteidigung. Benötigt werden Absprachen mit allen europäischen Nachbarn.
Ein eigenes Atomwaffenarsenal für Europa
Ließe sich angesichts der latenten Drohung durch die Atommacht Russland, der dann in Europa keine Atommacht USA mehr entgegenstünde, der britische oder der französische Atomschutzschirm auf den gesamten Kontinent ausweiten? Realistischer wäre mutmaßlich ein eigenes Atomwaffenarsenal für Europa.
Auch das sollte zu den Themen gehören, über die sich die europäischen Regierungschefs heute in Paris bei ihrem Ad-hoc-Treffen zur geopolitischen Zeitenwende austauschen.