Moskau werde nicht verstanden - Militärexperte: „Die Ukraine hätte den Krieg vor einem Jahr locker gewinnen können“
Herr Melcher, vor 1000 Tagen hat Russland die Ukraine überfallen. Sie beobachten als militärischer Strategieberater den Konflikt. Wo steht der Krieg heute?
Es ist eine Pattsituation. Betrachtet man die gesamte Größe der Ukraine, sind die russischen Gewinne sehr gering. Man kann fast schon von einem eingefrorenen Konflikt sprechen. Natürlich konnte Russland zuletzt weiteren Boden gewinnen. Aber wenn ich Ihnen auf einer Karte zeige, wo der Frontverlauf zwischen der russischen und der ukrainischen Armee vor einem Jahr war und wo er heute ist, werden Sie kaum den Unterschied erkennen. Dafür opfert Moskau täglich 1000 bis 1500 Menschen. Größtenteils unwissende Landarbeiter aus ruralen Gebieten Russlands, die in ärmlichen Bedingungen leben. Neben den Kriegsverbrechen in der Ukraine begeht Putin damit auch ein Kriegsverbrechen an seiner eigenen Bevölkerung.
Verändern die nordkoreanischen Soldaten, die Russland nun einsetzt, die Dynamik?
Nein. Die heutige nordkoreanische Armee hat keine Kriegserfahrung, ihre Soldaten sind nicht kampferprobt. Putin vergrößert mit ihnen nur den Leichenberg. Ich glaube, dass er sie nur einsetzt, um die Frage der weiteren Mobilisierung in Russland so lange wie möglich aufzuschieben.
Zu Beginn der russischen Invasion gingen Deutschland und andere westliche Regierungen davon aus, dass die Ukraine innerhalb weniger Tage fallen würde. Zwischendurch ist es der ukrainischen Armee sogar gelungen, auf russisches Territorium vorzudringen. Derzeit ist Russland wieder auf dem Vormarsch. Wie erklären Sie diese Schwankungen?
Am Anfang stand der große Einmarsch der Russen, mit dem sie weit in die Ukraine vorgedrungen sind. Aber sie haben es nicht geschafft, viele der Gebiete zu halten und haben sich zurückgezogen. Die Ukraine hätte den Krieg bereits vor einem Jahr locker gewinnen können, hätte die Biden-Administration ihr die Ausrüstung zur Verfügung gestellt, als sie sie benötigten, und ihr die Befugnis erteilt, sie nach Bedarf zu nutzen.
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Wie hätte ein solcher Sieg denn genau ausgesehen?
Die Ukraine hätte die russische Armee komplett zurückschlagen können. Sie hätte den Nachschub aus Russland mit Langstreckenangriffen unterbinden können. Und sie hätten verhindern können, dass Russland ganze Landstriche vermint.
Wenn ich Ihnen auf einer Karte zeige, wo der Frontverlauf vor einem Jahr war und wo sie heute ist, werden Sie kaum den Unterschied erkennen. Dafür opfert Moskau täglich 1000 bis 1500 Menschen.
Woran ist es gescheitert?
Über jedes einzelne Waffensystem gab es im Westen lange Diskussionen. Erst sagte man nein, dann gab man es der Ukraine am Ende doch. Es gab viele unnötige Verzögerungen. Warum nicht gleich? So viele ukrainische Menschenleben sind dafür geopfert worden. Die Biden-Administration hat eine ziemlich dumme Politik verfolgt. Biden hat sich von Russland völlig kleinmachen lassen. Auch von Putins nuklearen Drohungen. Es zeigt, dass man in der US-Regierung den Gegner Russland nicht versteht. Die russische Strategie besteht darin, den Westen mit seinen Atomwaffen einzuschüchtern. Aber nicht, sie tatsächlich zum Einsatz zu bringen.
Im September hat Putin die russische Nukleardoktrin angepasst. Er hat dabei die Kriterien für einen russischen Atomschlag so definiert, dass sie für den Fall eines ukrainischen Schlags gegen Russland mit amerikanischer Unterstützung gelten könnten. Ist das nur heiße Luft?
Ja, es ist nur Show. Aber sie zeigt Wirkung. Biden hat der Ukraine nicht die Unterstützung gegeben, die sie brauchte. Und schlimmer noch: Die Administration hat sich in die ukrainische Kriegsführung eingemischt und damit in mehreren Situationen entscheidende Erfolge für die Ukraine verhindert.
Inwiefern?
Die US-Regierung hat Mikromanagement betrieben. Personen ohne militärischen Hintergrund und Kompetenz, allen voran der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan, haben der ukrainischen Führung diktiert, wie sie sich in bestimmten Situationen verhalten soll, und haben mehrfach verhindert, dass die Ukraine Gegenangriffe gegen Russland unternimmt.
Beziehen Sie sich darauf, dass die westlichen Unterstützer der Ukraine bislang Angriffe auf russisches Territorium mit ihren Waffen untersagen?
Genau. Der Westen verbietet der Ukraine in gleichem Maße gegen Russland vorzugehen, wie sie selbst angegriffen wird. Aus Angst vor einer möglichen Eskalation. Dabei müsste der Westen ein gewisses Risiko eingehen: Denn wir werden bedroht und müssen uns verteidigen. Aber wir wollen das nicht tun. Die Biden-Administration wollte diesen Krieg nie gewinnen. Sie wollte ihn nur nicht verlieren. Hätte der Westen der ukrainischen Regierung einfach gegeben, worum sie gebeten hatte, und hätte sie machen lassen, wäre der Krieg längst vorbei. Aktuell drängt das Weiße Haus darauf, so viel bewilligte Unterstützung wie möglich für die Ukraine auf den Weg zu bekommen, weil sie befürchten, dass Donald Trump sie stoppen könnte, sobald er im Amt ist.
Trump wird am 20. Januar ins Weiße Haus einziehen. Wird er den Krieg innerhalb von 24 Stunden beenden können, wie er angekündigt hat?
Natürlich wird es keine sofortige Lösung geben. Aber Trump wird auf jeden Fall versuchen, den Krieg schnell zu Ende zu bringen. Denn er möchte damit nichts zu tun haben. Sein Ziel ist es, dass die USA nicht mehr in Kriege im Ausland verwickelt sind. Darüber, wie er das genau bewerkstelligen will, kann man derzeit allerdings nur spekulieren.
Trump sendet er widersprüchliche Signale. Auf der einen Seite will er US-Truppen abziehen und nach Hause bringen – „America first“. Und er sagt, die Europäer müssen für ihre eigene Sicherheit sorgen. Auf der anderen Seite droht er Putin dann in dem Telefonat vor einigen Tagen, von dem die „Washington Post“ berichtete, mit der beträchtlichen Truppenstärke der Amerikaner in Europa.
Nicht zu vergessen, dass er Marco Rubio als Außenminister und Mike Waltz als Nationalen Sicherheitsberater ausgewählt hat. Beide sind in Sicherheitsfragen Hardliner und stehen nicht dafür, sich leichtfertig mit Putin auf einen Deal zu einigen. Rubio war als Senator Teil der Initiative, die US-Mitgliedschaft in der Nato „Trump-sicher“ zu machen, also einen Austritt formal zu erschweren.

Wie geht es jetzt weiter?
Ich gehe davon aus, dass Trump Rubio damit beauftragen wird, auszuloten, wie eine Verhandlungslösung aussehen könnte. Trump wird nicht zulassen, dass sich der Krieg ein weiteres Jahr hinzieht. Es wird harte Verhandlungen geben. Wahrscheinlich wird es auf umfassende Gebietsverzichte für die Ukraine hinauslaufen – im schlimmsten Fall auf sämtliche Gebiete, die Russland seit der Krim-Annexion 2014 erobert hat. Entscheidend wird sein, ob auf US-Seite Personen daran beteiligt sind, die die Denkweise der Russen wirklich verstehen.
Die Biden-Administration wollte diesen Krieg nie gewinnen. Sie wollte ihn nur nicht verlieren.
Trump ist nicht gerade dafür bekannt, fachliche Expertise besonders wertzuschätzen.
Das wäre in diesem Fall fatal. Putin hat seine imperialen Ambitionen im Sommer 2021 unmissverständlich angekündigt, nämlich dass er zu den Grenzen der Sowjetunion von 1991 zurückkehren möchte. Es gibt bislang keinerlei Hinweis darauf, dass er hiervon in irgendeiner Weise abrücken will. Der Westen müsste der Ukraine sehr starke Sicherheitsgarantien geben. Tut er das nicht, wird Putin nach einem Friedensdeal in der Ukraine vielleicht eine kleine Pause einlegen, um wieder zu Kräften zu kommen, und dann mit seiner Agenda weitermachen. Die Aufhebung von Sanktionen wird ihm das erleichtern.
Die heutige nordkoreanische Armee hat keine Kriegserfahrung, ihre Soldaten sind nicht kampferprobt. Putin vergrößert mit ihnen nur den Leichenberg.
Gehen Sie davon aus, dass die Sanktionen gegen Russland aufgehoben werden?
Ja. Die Aufhebung oder zumindest die deutliche Reduzierung des Sanktionsregimes sehe ich als gegeben, egal welche Art von Deal die USA mit Russland eingehen. Und es wird folgenreich sein. Mehrere Thinktanks haben Studien dazu erstellt, wie sich die militärischen Kapazitäten Russlands in den kommenden Jahren entwickeln werden – selbst mit den bestehenden Sanktionen. Ein Analyst des Atlantic Council hat vor kurzem prognostiziert, dass Russland bis 2026 weit über tausend Panzer pro Jahr produzieren können wird. Und dieser Sprung betrifft nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität. Wir werden künftig sehr viel bessere Technologie von russischer Seite sehen.
Sie sind Experte für „Wargaming“ und simulieren mit den militärischen Führungen etlicher Länder unterschiedliche Szenarien für den weiteren Kriegsverlauf. Lassen Sie uns ein paar Varianten durchspielen.
Szenario eins: Die amerikanische Unterstützung der Ukraine geht zurück oder endet. Die Europäer schaffen es nicht, das aufzufangen. Der Westen gibt der Ukraine keine Sicherheitsgarantien. Dann müsste sich die Ukraine zu umfassenden Gebietsverzichten bereiterklären, um den Krieg zu beenden. Und wir würden in Kürze sehen, wie ein gestärkter Putin seinen imperialen Feldzug fortsetzt.
Sähen Sie die Europäer denn dazu in der Lage, einen möglichen Rückzug der USA aufzufangen?
Entscheidend sind zwei Komponenten. Die erste ist die Bereitstellung der Waffen, die die Ukraine benötigt. Die zweite ist das Geld, das Kiew braucht, um die Staatsausgaben zu tätigen und zu überleben. Europa bezahlt im Moment mehr an die Ukraine als die USA. Mein Eindruck ist, dass viele Menschen das gar nicht wahrnehmen. Europa kann es sich auf jeden Fall leisten, die Ukraine umfangreich zu unterstützen. Aber dafür braucht es politischen Willen. Und genau da sehe ich perspektivisch ein Problem – ähnlich wie in den USA. Ein wachsender Teil der Bevölkerung sieht die Unterstützung der Ukraine kritisch. Eine weitere Hürde betrifft Waffen und Munition. Europa hat derzeit viel zu geringe Kapazitäten zur eigenen Herstellung.
Kommen wir zu Szenario zwei.
Es wäre ähnlich wie Szenario eins, allerdings mit Sicherheitsgarantien. Das hieße zum Beispiel, dass die Ukraine bestimmte Gebiete an Russland abtreten müsste, im Gegenzug aber eine Schutzzusage durch die USA erhielte. Ähnlich wie Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Sprich: Würde Putin einen neuen Angriff unternehmen, stünde er amerikanischen Streitkräften gegenüber.
Noch ein drittes?
Trump – oder sogar noch Biden – hebt die Beschränkungen für die amerikanischen Waffen auf, um die Ukraine vor Verhandlungsbeginn in eine bessere Position zu bringen. Dann könnte die ukrainische Armee massiv russische Ziele angreifen. Zusätzlich könnte Trump der Ukraine auch Darlehen anbieten, um auf dem Weltmarkt beliebig viele Waffen ohne Einschränkungen zu kaufen.
Aber ich sehe auch noch ein ganz anderes Szenario, nämlich durch die enormen Fortschritte, die die Ukraine derzeit im Bereich der autonomen Waffensysteme macht.
Könnten die zum Gamechanger werden?
Wenn man Menschen in eine Situation solch existenzieller Bedrohung bringt, wachsen sie über sich hinaus. In der Ukraine arbeiten derzeit mehrere hundert einheimische Firmen auf dem Gebiet der autonomen Waffensysteme. Sie sind der Welt voraus. Sie werden Dinge entwickeln, von denen wir uns wünschen, dass sie nicht erfunden worden wären. Lassen Sie Ihren Terminator-Fantasien freien Lauf. In der aktuellen Situation in der Ukraine gibt es keine Leitplanken, denn es geht um das Überleben des Landes – ethische Aspekte haben keine Priorität. In weniger als einem Jahr werden autonome Tötungsmaschinen entwickelt worden sein. Und der Krieg mit Russland wird zum Test für diese Technik werden. Mit dieser Technologie könnte sich das Blatt wenden.
Arbeitet Russland nicht an ähnlichen Entwicklungen?
Doch. Aber die Ukrainer sind auf diesem Gebiet besser, schneller und agiler als das riesige und oft schwerfällige russische System. Und Russland hat zwar auf Kriegswirtschaft umgestellt. Es gibt dort natürlich finanzielle Anreize für die Entwickler. Aber die Russen verspüren nicht die existenzielle Bedrohung wie die Ukrainer. Das macht bei solchen Prozessen einen enormen Unterschied.
Von Anja Wehler-Schöck
Das Original zu diesem Beitrag "Militärexperte Greg Melcher im Interview: „Die Ukraine hätte den Krieg bereits vor einem Jahr locker gewinnen können“" stammt von Tagesspiegel.