Die Mutter des Deserteurs - Ukrainerin versteckt ihren Sohn vor dem Krieg: „Haben sein Leben auf Eis gelegt“

Jeder Tag beginnt und endet für Tetyana Gromova auf dieselbe Weise. Frühmorgens, nach einer meistens schlaflosen Nacht, die sie im Klang von Luftschutzsirenen und dem Grollen von Raketeneinschlägen verbracht hat, versucht sich die 50-Jährige geräuschlos in die Küche zu schleichen.

Wenn sie am Zimmer des 25-jährigen Oleksiy vorbeikommt, bleibt sie stehen. Sie öffnet die Tür vorsichtig und bleibt ein paar Minuten reglos stehen, um das schlafende, friedliche Gesicht ihres Sohnes und sein zerzaustes, schlecht geschnittenes Haar zu betrachten. 

Dann schließt sie den Türspalt wieder, geht auf leisen Sohlen weiter, um ein belegtes Brot zu essen und löslichen Kaffee zu trinken.

„Mit Ausbruch des Krieges haben wir sein Leben auf Eis gelegt“

Während sich die OP-Schwester Gromova auf den Weg zur Frühschicht in einem Krankenhaus von Charkiw macht, schläft der Sohn weiter. Selbst, wenn er irgendwann gegen Mittag aufwacht, in die Küche schlurft, ist sein Alltag nicht von einer Art Schlaf zu unterscheiden. „Mit Ausbruch des Krieges haben wir sein Leben auf Eis gelegt“, sagt die OP-Schwester am Telefon.

Sie sagt „wir“, weil es der Zustimmung ihres Sohnes bedurfte, aber eigentlich war sie es, die das getan hat. Sie versteckt Oleksiy seit zweieinhalb Jahren, damit er leben bleibt, wie sie sagt. Dass sie damit gegen Gesetze verstößt, ist ihr bewusst. Deshalb bittet sie darum, ihren wahren Namen nicht zu nennen.

Tetyana Gromova steckt in einem Dilemma. Einerseits ist sie von der Richtigkeit dieses Krieges überzeugt. Und sie kennt viele Familien, die Söhne im selben Alter wie Oleksiy haben, und die mussten ihre Kinder ziehen lassen. 

Aber, sagt sie, „nicht alle Männer sind in der Lage, zu kämpfen und Menschen zu töten“. Ihr eigener Sohn sei es jedenfalls nicht. Deshalb behält sie ihn bei sich. In der Wohnung.

Was, wenn eine Rakete sie träfe?

Das ist nicht ungefährlich. Gromova lebt in einem der unsichersten Stadtteile von Charkiw, im Norden von Saltowka. Vor ihren Augen wurden Nachbarn durch Schrapnelle explodierender Granaten und Drohnen getötet. 

Freunde und Familienangehörige haben die Stadt längst verlassen. Um selbst zu gehen, ist es zu spät. Überall gibt es Kontrollpunkte, die ein Wehrpflichtiger ohne gültige Papiere nicht passieren kann. Wie sollte sie Oleksiy an einen anderen sicheren Ort schaffen?

Gromova ist dazu verdammt, jede Nacht mit dem Gedanken einzuschlafen, unter den Trümmern ihres Hauses begraben zu werden. Auf der Arbeit im Krankenhaus gilt ihre Sorge ebenfalls dem Bombardement. Was, wenn eine Rakete sie träfe und sie nicht nach Hause zurückkehren würde? Was würde aus ihrem Sohn werden, der dort auf sie wartet?

Seit März 2022 hat niemand anderes als Tetyana ihm die Haare geschnitten. Es sieht nicht eben schick aus, aber ordentlich. Auch bittet sie ihn, regelmäßig zu duschen, sich zu rasieren und seine Unterwäsche zu wechseln und überhört das Argument ihres Sohnes, dass er doch eh bloß in der Wohnung sei und außer seiner Mutter kaum jemanden sehen kann.

Die Strafen für Kriegsdienstverweigerung sind hart

„Wenn ich an meinen Sohn denke“, seufzt die Frau, „fällt es mir leichter, mit den Erinnerungen an mein Vorkriegsleben zu leben. Ich erinnere mich bis ins kleinste Detail an seine Kindheit. Ich denke oft daran, wie er laufen und lesen lernte, wie er zur Schule ging, seinen Abschluss mit Auszeichnung machte, an die Universität ging, um Wirtschaft zu studieren.“

Unter den Bedingungen des Kriegsrechts sind die Strafen für Kriegsdienstverweigerung hart, es drohen drei bis fünf Jahre Gefängnis. Zwischen dem 18. und 61. Lebensjahr müssen Männer bei der Militärkommission registriert sein und zumindest in der Reserve dienen. 

Das ukrainische Parlament hat Maßnahmen für jene beschlossen, die sich der militärischen Registrierung entziehen. Doch zehntausende von Wehrpflichtigen lassen sich davon nicht schrecken und suchen nach Möglichkeiten, sich der Teilnahme an Kampfhandlungen zu entziehen.

Einigen gelingt die Flucht ins Ausland und sie finden in EU-Ländern Aufnahme. Andere finden einen Weg, sich von der Armee zurückstellen zu lassen, was sich „vorübergehende Aussetzung der Mobilisierung“ nennt. Die Mehrheit der Wehrdienstverweigerer versteckt sich allerdings. 

Sie gehen nur in äußersten Notfällen auf die Straße, auf die Gefahr hin, von Polizeistreifen erwischt zu werden. In den meisten Fällen wird diesen Männern von nahen Verwandten, vor allem von ihren Müttern und Ehefrauen, die Möglichkeit geboten, „den Krieg abzuwarten“.

Manchmal weint Tetyana Gromova um die jungen Soldaten, die vor ihr tot auf dem Operationstisch liegen. Und sie bemitleidet deren Mütter. Aber den Gedanken, dass ihr Sohn im Krieg sein müsste, lässt sie nicht zu. Wie sollte einer wie er da überleben?, fragt sie.

„Das Militär behandelt Soldaten wie Kanonenfutter“

Oleksiy sei schon als Kind immer kränklich gewesen. Zunächst vermuteten die Ärzte, dass er Epilepsie habe. In der Pubertät bekam er Anfälle, bei denen er das Bewusstsein verlor. Außerdem ist er auf dem rechten Ohr schwerhörig. Das geht zwar nicht so weit, dass er behindert ist, aber im Krieg kann eine solche Beeinträchtigung gefährlich werden. 

Doch auf gesundheitliche Beeinträchtigungen nehme das Militär keine Rücksicht. „Die medizinische Kommission des Rekrutierungszentrums nimmt alle wahllos auf und behandelt sie wie Kanonenfutter. 

Man kümmert sich nicht darum, dass es sich bei einigen um Väter, Ehemänner und Kinder handelt. Für sie ist es wichtig, Soldaten in der Armee zu haben und die Anforderungen für die Einberufung zu erfüllen“, sagt Tetyana Gromova.

Noch Ende 2023 bezifferte der ukrainische Generalstab den Bedarf an neuen Soldaten auf 450.000 bis 500.000. Doch konnte diese Zahl durch eine Überarbeitung der internen Ressourcen und Klärung der Kampfzusammensetzung deutlich reduziert werden. Im Juni war die Rede von einem Mobilisierungsbedarf von 110.000 Mann im Jahr 2024.

Monatlich 30.000 neue Soldaten

Nach Angaben der „Financial Times“ mobilisiert die Ukraine seit Mai monatlich 30.000 Soldaten. Kommandeure vor Ort und Militäranalysten warnen jedoch, dass diese Männer nicht hoch motiviert und psychologisch und physisch unvorbereitet sind – und infolgedessen in alarmierendem Tempo sterben.

Ein ukrainischer Kommandeur sagte, dass zwischen 50 und 70 Prozent der neuen Infanteristen innerhalb weniger Tage getötet oder verwundet wurden. „Der Mangel an Erfahrung und körperlicher Ausbildung macht die neuen Rekruten besonders anfällig. 

Aufgrund der ineffektiven Ausbildung wissen die meisten Rekruten nicht einmal, wie man eine Waffe richtig hält. Die Ausbildung wird immer noch nach sowjetischem Vorbild von Ausbildern durchgeführt, die oft selbst keine Kampferfahrung haben. Infolgedessen sind die Einheiten an der Front mit schnellen Verlusten konfrontiert“, so die „Financial Times“.

„Für alle um mich herum ist mein Sohn in die West-Ukraine gegangen“

Das Kreiskrankenhaus liegt in einem benachbarten Bezirk und Gromova muss mit dem Bus dorthin fahren. Trotz der Luftangriffe verkehren die städtischen Verkehrsmittel weiter. Morgens gibt es nur wenige Fahrgäste, und sie hat immer einen Fensterplatz.

„Wenn ich hinausschaue, betrachte ich meine vom Krieg zerstörte Stadt, die verfallenen Häuser, die mit Sperrholzplatten vernagelten Fenster, die mürrischen Menschen, die auf der Straße umherwandern. In der Regel sind es Männer, Frauen und Kinder aus dem Militär. Männer in Zivilkleidung sind selten. Meistens sind es Rentner“, fährt Tetyana traurig fort.

Sie glaubt, dass es in der Stadt noch mehrere tausend Männer im wehrpflichtigen Alter gibt, die sich vor der Einberufung drücken. Fahrgäste im Bus erzählen solche Geschichten. Der Gedanke, dass sie nicht allein ist, tröstet sie und weckt ein Gefühl der Solidarität.

Nach ihrer Schicht, die oft am späten Abend endet, eilt Tetyana in den Lebensmittelladen und dann direkt nach Hause. An den Tagen, an denen sie ihr Gehalt erhält, kauft sie ihrem Sohn neue Kleidung, T-Shirts und Sporthosen zum Beispiel. Außerdem bestellt sie online Bücher für ihn und bezahlt einen Xbox-Game-Pass.

„Ich rufe meinen Sohn fast nie vom Krankenhaus aus an – für den Fall, dass einer meiner Kollegen davon erfährt und das Einberufungsamt informiert. Für alle um mich herum ist mein Sohn in die West-Ukraine gegangen und wir haben kaum Kontakt. 

Selbst unsere wenigen Nachbarn wissen nichts von Oleksiy. Der Tag vergeht voller Furcht. Zu Hause angekommen, öffne ich die Tür mit meinem Schlüssel. Ich weiß, dass mein Sohn im Wohnzimmer auf mich wartet“, sagt die Frau.

Das Leben auf dem Dorf langweilte Oleksiy

Gleich zu Beginn des Krieges wurde Oleksiy Gromowoj zu entfernten Verwandten in der Region Iwano-Frankiwsk geschickt. Doch nach einigen Monaten kehrte der junge Mann nach Charkiw zurück. Das Leben im Dorf ohne Internet langweilte ihn zu sehr, und es gelang ihm nicht, Freunde zu finden. 

Ab Juli 2022 lebte Oleksiy in der Wohnung seiner Großeltern, wo er offiziell gemeldet ist. Aleksejs Großvater, ein Dozent der Universität Charkiw, gab ihm Einzelunterricht und achtete streng darauf, dass der junge Mann nicht auf die Straße ging.

Doch dann starben die Großeltern und für Tetyana brach eine finstere Zeit voller Nöte an. Sie musste ihren Sohn zu sich nehmen, obwohl kaum eine Stadt stärker mit Raketen attackiert wird als Charkiw im Nordosten des Landes.

Sie glaubt, dass der Krieg bald zu Ende sein werde

Die Isolation kompensiert Oleksiy mit Computerspielen. Strategiespiele. „Manchmal lasse ich Oleksiy abends sogar einen Freund treffen und im Park spazierengehen“, sagt sie.

Die Mutter glaubt, dass sie durchhalten können. Sie glaubt, dass der Krieg sehr bald zu Ende sein werde. Aber manchmal gibt es auch schwierige Momente. Etwa, wenn ihr Sohn mal wieder eine seiner Phasen kriegt und mit scharfer Stimme erklärt, dass er ein solches Leben nicht mehr ertragen könne und bereit sei, sich in die Selbstverteidigungseinheit von Charkiw einzuschreiben.

Von der phlegmatischen Persönlichkeit, die er normalerweise ist, verwandelt er sich in einen entschlossenen Mann. Dann beginnt das Herz der Frau schneller zu schlagen, in der Kehle wird es trocken und die Beine werden zu Watte.

„Ich schließe mich seinen patriotischen Äußerungen immer an“, erklärt sie. „Ich bin stolz auf unsere Kämpfer. Aber ich erinnere meinen Sohn daran, dass er nicht einer von ihnen ist. Wieder erzähle ich ihm von Kinderkrankheiten, körperlicher Schwäche und Untauglichkeit für das Militär. 

Dann sprechen wir über verwundete Soldaten, die auf dem Operationstisch an ihren Wunden sterben. Ich beschreibe ihm die Einzelheiten solcher Operationen mit Blutlachen auf dem Tisch.“

Man kann sich vorstellen, wie überzeugend Tetyana Gromova bei solchen Details sein kann. Jedenfalls beruhigt sich Oleksiy wieder, fährt mit den Händen durch sein struppiges Haar und schlurft in sein Zimmer.

„So leben wir.“

Von Yulia Valova

Das Original zu diesem Beitrag "Die Mutter des Deserteurs: Eine Ukrainerin versteckt ihren Sohn vor dem Krieg" stammt von Tagesspiegel.