Gastbeitrag von Thomas Druyen: Ostern als Zukunftsritual: Warum wir das Fest neu denken müssen

Die Bedeutung von Ostern neu denken

Ostern ist eines der ältesten Feste der Menschheit – ein Symbol für Tod und Auferstehung, für Übergang, Hoffnung und Neubeginn. Doch was tun wir heute damit? Wir suchen Eier im Garten, essen zu viel Schokolade, fliehen in Gewohnheiten oder ins Ausland. Es ist ein Fest des Rückzugs geworden, nicht der Erneuerung. Auch das religiöse Fundament des Osterfestes gerät bedauerlich in Vergessenheit. Dabei schreit unsere Gegenwart nach genau dem: einem Ritual, das uns wieder verbindet mit dem Mut zur Veränderung, mit der Idee des radikalen Reboots. Ostern hat das Zeug dazu – wenn wir es anders denken.

Der Kern von Ostern ist nichts Geringeres als ein mentaler Systemwechsel. Im religiösen Ursprung stirbt ein Mensch, um neu geboren zu werden – nicht im alten Zustand, sondern in transformierter Form. Es geht nicht um Rückkehr, sondern um Wandel. Nicht um Wiederholung, sondern um Zukunft. In einer Zeit, in der sich die Welt schneller verändert als unser Denken, brauchen wir genau solche Metaphern – aber nicht nur im sakralen Raum, sondern mitten im Leben.

Veränderung ist das neue Normal. Aber wir haben keine Rituale, die uns darauf vorbereiten. Was wäre, wenn Ostern zum Moment wird, in dem wir kollektiv innehalten, um uns neu auszurichten? Nicht nostalgisch – sondern visionär. Ein Übergangsritual für eine Gesellschaft im Umbruch.

Das Ei neu denken: Von biologisch zu kulturell

Das Ei ist das älteste Symbol für Ursprung, Potenzial und neues Leben. Es wartet nicht, es trägt in sich, was noch nicht sichtbar ist – eine Idee, eine Möglichkeit, eine Zukunft. Was, wenn wir dieses Symbol nicht länger biologisch, sondern kulturell denken? Jedes Ei, das wir suchen, könnte eine Frage in sich tragen: Was will durch dich geboren werden? Welche Idee wartest du, endlich umzusetzen?

Stellen wir uns vor: Kinder suchen keine Süßigkeiten, sondern kleine Botschaften, Zukunftsaufgaben, Denkanstöße. Ostern als Initialzündung für Zukunftsbildung. Familien diskutieren über das, was entstehen soll – nicht nur das, was war. Rituale, die uns in Bewegung bringen.

Wir leben in einer Zeit der Krisen. Klimawandel, Digitalisierung, künstliche Intelligenz, Kriege – all das verlangt ein anderes Denken, ein anderes Handeln. Doch wir verharren im Status quo, aus Angst vor dem Kontrollverlust. Dabei ist jeder gesellschaftliche Fortschritt immer auch ein Karfreitag: schmerzhaft, ungewiss, beängstigend. Die Auferstehung ist keine Belohnung, sondern ein radikales Ja zum Leben – jenseits des Alten.

 

Über den Experten Thomas Druyen

Thomas Druyen beschäftigt sich seit über drei Jahrzehnten mit den Auswirkungen von Veränderung auf die Psyche, die Gesellschaft und die Generationen. Er ist seit 2015 Direktor des Instituts für Zukunftspsychologie und Zukunftsmanagement sowie seit 2006 Direktor des Institutes für Vergleichende Vermögenskultur und Vermögenspsychologie an der Sigmund Freud Privat Universität in Wien. Sein aktuelles Buch heißt: „Aus der Zukunft lernen – der Leitfaden für konkrete Veränderung.“

Zukunft beginnt hier und jetzt

Was wir brauchen, ist eine neue Kultur des Scheiterns und Wiederbeginnens. Ostern könnte dafür stehen: Einmal im Jahr bewusst neu denken. Was darf sterben, damit etwas Neues entstehen kann? Welche Idee trage ich schon zu lange mit mir herum? Welche mentale Software müsste ich updaten, um zukunftsfähig zu sein?

Stellen wir uns ein anderes Osterwochenende vor. Nicht geprägt von Rückzug, sondern von Aufbruch. In Schulen, Firmen, Nachbarschaften, Familien, in Kirchen: Workshops, Gespräche, Ideenlabore. Jedes Jahr wird Ostern zum kollektiven Zukunftslabor. Keine stereotype Pflichtübung, sondern ein gesellschaftlicher Prototyp: Was wollen wir neu starten? Welche Systeme brauchen wir morgen? Welche Denkweisen dürfen wir verabschieden?

Ein „Global Reboot“-Tag. Keine konsumorientierte Hülle, sondern eine kulturelle Tiefenbohrung. Ein Ritual, das uns nicht vertröstet, sondern aktiviert. Ein Fest, das uns erinnert: Zukunft beginnt nicht irgendwann. Sie beginnt genau hier, in uns, in dem, was wir zu tun bereit sind.

Ostern hat das Potenzial, mehr zu sein als ein langes Wochenende mit alten Bräuchen. Es kann zu einem Zukunftsritual werden – einer Feier der menschlichen Fähigkeit, sich selbst zu übersteigen. Denn Zukunft entsteht nicht durch Techniken, sondern durch Denkweisen. Nicht durch Geschwindigkeit, sondern durch Richtung.

Und vielleicht ist das die eigentliche Botschaft von Ostern: Dass wir die Kraft haben, uns selbst neu zu erschaffen – nicht einmal, sondern immer wieder.

Für Europa: Ein Raum des Neuanfangs

Wenn Ostern dieses Symbol für den Neuanfang darstellt, dann ist Europa der Raum, in dem dieses Symbol eine politische, kulturelle und emotionale Kraft entfalten kann. Die europäische Idee – einst geboren aus den Trümmern zweier Weltkriege – war von Anfang an eine Art kollektive Auferstehung: Der Versuch, aus Schmerz, Schuld und Zerstörung eine neue Form des Zusammenlebens zu schaffen. Nicht durch Gleichmacherei, sondern durch Verbindung in Vielfalt. Diese Idee ist heute gefährdeter denn je.

Was wäre, wenn Europa Ostern neu denkt – nicht als kleinteiliges Ritual, sondern als strategischen Moment der gemeinschaftlichen Selbstvergewisserung? Als ein wiederkehrendes kollektives Innehalten, um zu fragen: Was hält uns zusammen? Was wollen wir gemeinsam erneuern? Was muss sterben, damit das europäische Projekt lebendig bleibt?

Europa braucht neue Rituale – keine künstlich erzeugten, sondern sinnstiftende, gemeinsame Übergänge. Ostern als paneuropäischer Zukunftstag könnte genau das sein: Ein Datum, an dem nicht nur einzelne Nationen, sondern die gesamte europäische Gemeinschaft sich dem Prinzip der Erneuerung verpflichtet. Ein kontinentweites Denkfest, dass Bürgerinnen und Bürger aller Generationen, aller Kulturen und aller Religionen dazu einlädt, die gemeinsame Zukunft Europas zu imaginieren, zu diskutieren und zu gestalten.

Europa ist mehr als ein Wirtschaftsraum. Es ist ein kollektiver Möglichkeitsraum. Aber ein solcher Raum lebt nicht von Verträgen allein, sondern vor allem von gemeinsamen Geschichten, Symbolen und Übergängen. Ostern bietet sich an, diesen Raum jedes Jahr neu zu öffnen – für das, was Europa sein könnte: eine Gemeinschaft der Auferstehenden, der Weiterdenkenden, der Weltgestalter.

Ein Startsignal für europäische Erneuerung

Ein gemeinsamer Tag des geistigen Aufbruchs – jährlich, verbindlich, sichtbar. Nicht als Pflichttermin, sondern als Einladung. Nicht als Inszenierung, sondern als kollektives Denken in Möglichkeiten.

Ostern – nicht mehr nur ein Fest der Vergangenheit, sondern ein Startsignal für das, was uns als Europäer verbindet: der Glaube daran, dass wir aus Krisen keine Angst, sondern Sinn schöpfen können. Dass wir eine Gemeinschaft sein können, nicht weil wir gleich sind, sondern weil wir gemeinsam aufbrechen wollen.

Dieser Content stammt aus unserem EXPERTS Circle. Unsere Experts verfügen über hohes Fachwissen in ihrem Bereich. Sie sind nicht Teil der Redaktion.