Mord ohne Leiche? Das rätselhafte Verschwinden der Mandy Müller

Selbstbewusst, fröhlich, offen. So beschreiben Sabine Müller und Richard Dettmer ihre Tochter Mandy. Wer sich Bilder der jungen Frau anschaut, sieht ein hübsches Mädchen mit langen, braunen Locken und Sommersprossen. Mandys Blick ist feurig. Sie wirkt wie jemand, der mit beiden Beinen fest im Leben steht. 

Das ist jetzt viele Jahre her. Mandy Müller verschwand am 13. September 2008 spurlos. Sie war damals 18 Jahre alt, 1,55 Meter groß und 50 Kilogramm schwer. Ihre Eltern wissen nicht, was in jener Nacht geschah. Sie wissen nur, dass sie ihre Tochter seitdem nicht mehr gesehen oder gehört haben. 

Knapp 17 Jahre später sitzen Richard Dettmer und Sabine Müller in einem Restaurant in Hannover Anderten-Misburg. Die Temperaturen sind mild. Das Ehepaar hat auf zwei großen, bunten Holzstühlen Platz genommen, drumherum stehen Pflanzen und anderes, farbenfrohes Mobiliar. Der Kontrast zum Gesprächsinhalt könnte kaum größer sein. 

Mandy Müllers Verschwinden ist bis heute rätselhaft 

Wieder über das Verschwinden ihrer Tochter zu reden, fällt den Eltern sichtlich schwer. Sie haben über die Jahre mit vielen Pressevertretern gesprochen, mit der Polizei, der Staatsanwaltschaft Lüneburg, Zweigstelle Celle, mit Anwälten, Hilfsorganisationen, einem Privatermittler. Sie haben Demos veranstaltet, Flyer verteilt, auf Social Media um Unterstützung gebeten. 

All diese Anstrengungen konnten Mandy nicht zurückbringen. Oder wenigstens aufklären, was mit der damals 18-Jährigen passiert ist. „Aber wir geben nicht auf“, sagt Dettmer im Gespräch mit FOCUS online. „Mandys Schicksal begleitet uns jeden Tag. Als sie verschwunden ist, hat sich für uns alles verändert.“ 

Sabine Müller erinnert sich noch gut an den Tag, an dem sie ihre Tochter zum letzten Mal sah. „Sie und ihr Mann waren in Celle und wollten ihr Haus weiter einrichten“, sagt sie. Die Familie gehört zur Minderheit der Sinti. Obwohl Mandy und ihr Partner erst etwa einen Monat zusammen waren, galten sie in dieser Kultur als verheiratet. 

Beide Familien, so erzählen es Dettmer und Müller, kannten sich schon seit vielen Jahren. Zusammen kamen Mandy und ihr Mann in einem gemeinsamen Camping-Urlaub. „Sie war sehr verliebt in ihn“, sagt Müller.  

Am Tag ihres Verschwindens rief die damals 18-Jährige ihre Mutter mehrmals an. Allerdings ohne besonderen Grund. „Es ging um Kleinigkeiten. Das letzte Gespräch drehte sich darum, was ich am Sonntag zum Mittagessen kochen würde. Mandy wollte vorbeikommen“, so Müller. Das war ihr zufolge abends, gegen halb neun. Danach hörte sie nichts mehr von ihrer Tochter.  

Eine seltsame SMS erreicht Mandys kleinen Bruder 

Der nächste Tag. Sabine Müller stand im Schlafzimmer und war dabei, die Betten frisch zu beziehen, erzählt sie. Plötzlich sagte ihr damals 13-jähriger Sohn, er habe eine SMS bekommen. Von Mandy. „An den genauen Wortlaut erinnere ich mich nicht mehr. Aber es stand sinngemäß drin, dass sie zu einem anderen Mann gezogen wäre und wir uns keine Sorgen machen sollen“, sagt Müller. Sie versuchte, Mandy anzurufen, erreichte aber weder ihre Tochter noch deren Ehemann. 

Richard Dettmer probierte es bei den Schwiegereltern. Auch da: keine Rückmeldung. Mandys Eltern waren sofort besorgt. So ein Verhalten passte nicht zu ihrer Tochter, die ihr Handy eigentlich nie ausschaltete. „Nicht mal zum Schlafen“, sagt Müller. 

Nach rund 20 Minuten, so erzählen es die Eltern, meldete sich Mandys Mann bei ihnen. Er reichte das Telefon weiter an seinen Vater, der dann mit Mandys Vater telefonierte. „Ich habe am Gesicht meines Mannes gesehen, dass etwas nicht stimmt“, sagt Müller. Sie zündet sich eine Zigarette an. Das Gesprächsthema ist auch nach 17 Jahren ein schwieriges.   

Gespräch
Eigentlich ist die Umgebung viel zu bunt für das ernste Thema, über das Mandys Eltern sprechen möchten. Anna Schmid/FOCUS online

„Dass sie niemandem persönlich Bescheid gegeben hat, war ungewöhnlich“ 

Auch die Schwiegereltern sagten, Mandy sei mit einem anderen Mann in Richtung Mannheim durchgebrannt. „Aber dass sie uns nicht persönlich Bescheid gegeben hat, auch ihren Freunden nicht, das war ungewöhnlich“, sagt Müller. „Mandy erzählte mir immer, wo sie war. Selbst, wenn sie ins Nagelstudio ging. Das war bei uns normal.“ 

Die Eltern gingen am Sonntag, den 14. September 2008, zur Polizei und gaben eine Vermisstenanzeige auf. Sie erzählen, dass sie sich nicht ernst genommen fühlten. Ihnen wurde gesagt, Mandy sei über 18, da könne sie selbst bestimmen, wo sie sich aufhalte.  

Das Bundeskriminalamt (BKA) teilt auf FOCUS-online-Nachfrage mit, dass vom 1. Januar bis 31.Dezember 2024 insgesamt 130.313 Person „im Fahndungssystem der deutschen Polizei INPOL“ als vermisst erfasst wurden. 126.808 Fälle erledigten sich noch im selben Jahr. Nur sehr wenige Menschen bleiben länger als ein Jahr verschwunden. So wie Mandy. 

Verhalten des Ehemannes wirkt merkwürdig 

Merkwürdig fanden Sabine Müller und Richard Dettmer damals das Verhalten des Ehemannes ihrer Tochter. „Er fuhr am folgenden Sonntag durch die Ortschaft und es wirkte, als hätte Mandy nie existiert“, sagt Müller.  

Auch die Schwiegereltern schienen sich kaum für das Verschwinden der 18-Jährigen zu interessieren. „Sie kamen am Nachmittag zu uns. Die Schwiegermutter schob die Möbel-Bestellung, die wir für Mandy und ihren Mann getätigt hatten, über den Tisch und sagte: ‚Den Zettel brauchen wir jetzt ja nicht mehr.‘“  

Müller fand das Verhalten kalt und abgebrüht. Und die Geschichte, Mandy sei mit einem anderen Mann durchgebrannt, widersprüchlich. „Warum hätte sie das tun sollen? Sie und ihr Mann waren erst knapp einen Monat ein Paar. Und sie hatte eine Arbeit, die sie liebte, plus Freunde und Familie, die ihr wichtig waren.“ Die Eltern sind sich sicher: Ihre Tochter verschwand nicht freiwillig von heute auf morgen. 

Mandy Müllers Mann stand unter Verdacht 

Ein bloßer Vermisstenfall ist die Akte Mandy Müller schon lange nicht mehr. Seit einigen Jahren steht ein Tötungsdelikt im Raum. Die Lokalpresse berichtete umfassend über den Fall und damit einhergehende Verdächtigungen.

Tatsache ist: In der Vergangenheit gab es bereits ein Ermittlungsverfahren gegen Mandy Müllers Partner. Es wurde jedoch nach einigen Monaten wieder eingestellt.

Die Staatsanwaltschaft Lüneburg versuchte, den Kontakt zum Anwalt des Ehemanns herzustellen, damit FOCUS online ihn zur Akte Mandy Müller befragen kann. Eine Rückmeldung erhielt unsere Redaktion auch nach mehreren Tagen nicht. 

Fest steht: Mandy Müllers Ehemann gilt bis heute als unschuldig. Und der Fall der 18-Jährigen, die von heute auf morgen verschwand, weiterhin als ungelöst. Für die Eltern, die endlich wissen wollen, was mit ihrer Tochter passiert ist, wo sie ist, ob sie noch lebt oder nicht, eine unerträgliche Situation.

Manchmal stecken hinter Vermisstenfällen Gewalttaten

Peter Jamin, der sich seit mehr als 30 Jahren mit Vermisstenfällen beschäftigt und ehrenamtlich Angehörige berät, kennt Mandys Familie. „Hinter der Vermisstenstatistik verbergen sich viele nicht entdeckte Verbrechen. Wenn die Polizei bei der Aufnahme einer Vermisstenanzeige nicht aufpasst, gelingen die perfekten Verbrechen“, sagt er zu FOCUS online.  

„Auch im Fall des mutmaßlichen Verbrechens an Mandy Müller hätte die Polizei nicht ermittelt, wenn die Angehörigen nicht so hartnäckig auf Mordermittlungen gedrängt hätten.“ 

Er weist auf die vielen Tausend Menschen hin, die pro Jahr als vermisst registriert werden. In einem Prozent aller Fälle stecken dahinter Gewalttaten wie Entführungen, Mord oder Totschlag, sagt Jamin. Auch Mandy Müller könnte dazu gehören. Allerdings wurde ihre Leiche nie gefunden.

Die zuständige Staatsanwaltschaft Lüneburg, Zweigstelle Celle, hat bisher weder einen Antrag auf Erlass eines Haftbefehls gestellt noch Anklage erhoben. Auf eine Anfrage von FOCUS online heißt es, der zunächst „in Verdacht geratene Freund der Vermissten hatte bestritten, etwas mit ihrem Verschwinden zu tun zu haben“.  

Warum gibt es keine Anklage?

Nach "intensiven Ermittlungen" sei das Verfahren 2011 eingestellt worden. „Durchgreifende Anhaltspunkte für eine konkrete Straftat hatten sich nicht ergeben. Aufgrund neuer Hinweise der Polizei in Nienburg wurden die Ermittlungen im Jahr 2017 wiederaufgenommen.“  

Die Strafverfolgungsbehörden bemühen sich demnach um eine Klärung der Ereignisse. Der dringende Tatverdacht „gegen eine bestimmte Person“ sei aber, so steht es im Statement, weiterhin „nicht zu begründen“. Soweit wenig Neues. Dann wird es interessant. 

„Eine nicht ausreichend fundierte Anklageerhebung führt zur Nichteröffnung eines Strafverfahrens oder zu einem Freispruch bei Gericht. Danach ist eine erneute Befassung mit der Sache in der Regel ausgeschlossen“, schreibt die zuständige Staatsanwaltschaft.

„Deshalb ist es so wichtig, gerade im Falle eines allein auf Indizien beruhenden Tatverdachts, alle in Betracht kommenden Erkenntnismöglichkeiten aufzuspüren und, sofern die bisher bekannten für eine Verurteilung nicht ausreichen, Chancen auszuloten, um weitere zu finden.“ Das gelte umso mehr, als dass Mandy Müllers Leichnam bis heute nicht aufgetaucht sei.

Mandys Eltern wollen Gerechtigkeit 

Ihre Eltern wollen letztlich nur eines: Gerechtigkeit. Wenigstens in dem Rahmen, der noch möglich ist. „Wir wollen, dass der Täter zur Rechenschaft gezogen wird. Und dass er uns sagt, wo Mandy ist.“ Mandys Mutter hofft immer noch jeden Tag darauf, dass ihre Tochter vor der Tür steht. Auch wenn sie weiß, dass die Chancen dafür gering sind. 

Vermisstenexperte Jamin sagt, dass manche Menschen zwar auch nach Jahrzehnten heimkehren. „Im Fall Mandy Müller ist allerdings davon nicht auszugehen. Zu viele Ermittlungsergebnisse der Polizei deuten darauf hin, dass die junge Frau einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist.“ Darum findet er es wichtig, „dass die Staatsanwaltschaft endlich handelt und den mutmaßlichen Täter vor Gericht bringt“. 

Mandys Eltern führen seit dem Tag, an dem ihre Tochter verschwand, kein normales Leben mehr. Ihr Engagement hat sie sogar selbst in Gefahr gebracht. In der Nacht zum 9. Januar 2023 schossen Unbekannte auf ihr Haus, als Richard Dettmer es gerade verlassen wollte. Wie durch ein Wunder blieb er unverletzt. „Mein Mann hatte tausend Schutzengel“, sagt Müller. 

Seitdem ist das Paar vorsichtig geworden, was öffentliche Aktionen betrifft. Aufgeben wollen Dettmer und Müller aber nicht. Sie sprechen weiterhin über ihre Tochter und versuchen, den Druck auf die Behörden hoch zu halten. „Es ist das Einzige, was wir jetzt noch für Mandy tun können.“

Lesen Sie weitere Teile der "Tatort: mein Leben"-Reihe:

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