Ukraine-Krieg wird zum„Produktionskrieg“: Angriffe auf Munitionslager zeigen langfristig Wirkung

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Russlands Rüstung läuft auf Hochtouren; allerdings scheinbar auf Pump. Nun gibt es im Ukraine-Krieg gezielte Angriffe gegen Russlands Anlagen.

Moskau – „Wir haben die ganze Zeit darüber gesprochen: ‚Was machen wir, wenn es hier zu einem Krieg kommt? Wir können das nicht einfach über Nacht hochfahren. Wir sind in einer schlimmen Lage‘“, sagt Joe Amadee. Der ehemalige leitende Berater der US-Armee wird zitiert von der Nachrichtenagentur Reuters. Der Agentur zufolge habe jahrelange Fehlkalkulation der Nato und der USA in der Ukraine zu einem gravierenden Mangel an Granaten geführt. Wladimir Putins Invasionsarmee soll weit besser dastehen – möglicherweise sogar ungeachtet der wiederholten Bombardements von russischen Munitionsdepots im russischen Kernland.

Die Ukraine habe laut eigenen Angaben im Süden und Westen Russlands zwei Munitionsdepots zerstört. Das vernichtete Depot nahe der Stadt Tichorezk sei eines der „drei größten Munitionslager“ Moskaus, teilte die ukrainische Armee mit. Das Feuer durch herabfallende Trümmer hätte Explosivstoffe entzündet und habe sich dann auch auf umliegende Siedlungen ausgebreitet, weshalb daraus mehr als 1000 Bewohner hätten evakuiert werden müssen, wie der Gouverneur der russischen Region Krasnodar, Wenjamin Kondratjew, erklärte. Später sollen auf online publizierten Bildern in der Nähe der 50.000-Einwohner-Stadt Tichorezk Rauchwolken am Himmel zu sehen und heulende Sirenen zu hören gewesen sein.

Drohnen-Angriffe im Ukraine-Krieg auf Depots hilfreich? Kurzfristig vermutlich eine Fehleinschätzung

Laut der ukrainischen Armee wurde in dem Dorf Oktjabrski in der westlichen Region Twer ein weiteres Munitionsdepot getroffen. Auch dort sei ein Feuer ausgebrochen. Möglicherweise hatten die Drohnen aber auch andere Ziele als die Depots. So oder so bleibt die Frage, inwieweit die Ukraine von diesen Angriffen oder Kollateralschäden wird profitieren können. Kurzfristig eher wenig, vermuten Analysten.

„Soldatensold, Munition, Panzer, Flugzeuge und Entschädigungen für gefallene und verwundete Soldaten tragen allesamt zum BIP bei. Vereinfacht ausgedrückt ist der Krieg gegen die Ukraine heute der Hauptmotor des russischen Wirtschaftswachstums.“

Allerdings geht der estnische Geheimdienstchef ohnehin von einem Versiegen der russischen Vorräte am Ende dieses Jahres aus – jedenfalls hatte Oberst Ants Kiviselg Ende vergangenen Jahres gegenüber dem estnischen Rundfunk gemutmaßt, „dass Russland noch immer über etwa vier Millionen Artilleriegeschosse verfüge, die noch ein weiteres Jahr für Kriege geringer Intensität eingesetzt werden könnten“, wie er sagte. Gleichzeitig beweise ihm die Lieferung von weiteren 350.000 Artilleriegeschossen aus Nordkorea, dass Russland plane, seinen Krieg gegen die Ukraine noch lange fortzusetzen.

Russland schießt Raketen im Ukraine-Krieg
Das letzte Pulver verschossen? Russische Soldaten feuern einen schweren Mörser auf ukrainische Stellungen ab – Ökonomen behaupten, Russland könne sich weder einen Sieg im Ukraine-Krieg leisten, noch eine Niederlage. © Sergey Bobylev/IMAGO

Alex Orlow hält das für zu vorsichtig geschätzt: Die von der russischen militärischen und politischen Führung zwischen 2014 und 2022 ergriffenen Maßnahmen ließen ihn eher darauf schließen, dass ein langwieriger Konflikt wahrscheinlich eines der Szenarien war, die die russische militärische und politische Führung bereits Anfang der 2010er-Jahre in Betracht gezogen habe, schreibt der Autor des Magazins European Security & Defence.

Rüstungsproduktion wegen Ukraine-Krieg am Ende? Putins Regime hat drei Vorteile gegenüber dem Westen

Parallel zur Annexion der Krim sollen 2014 verschiedene Vorbereitungen getroffen worden sein, um die Wirtschaft auf einen ausufernden militärischen Konflikt vorzubereiten, behauptet Orlow – beispielsweise die technische Umrüstung der Rüstungsindustrie, politische Abkommen mit verbündeten oder neutralen Ländern sowie wirtschaftliche Maßnahmen zur Steigerung der Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit, wie er schreibt. Ihm zufolge habe die russische Rüstungsindustrie drei „entscheidende Vorteile“ gegenüber dem Westen.

Neben den scheinbar unerschöpflichen Reserven vor allem eine zentralisierte Verwaltung und die Priorisierung der Rüstung gegenüber anderen wirtschaftlichen Sektoren. „Russland produziert Artilleriegeschosse etwa drei Mal schneller als die westlichen Verbündeten der Ukraine und zu etwa einem Viertel der Kosten“, hat der britische Sender Sky News im Mai behauptet und bezieht sich auf Zahlen der in Boston ansässigen Unternehmensberatung Bain & Company.

„Äpfel mit Birnen verglichen“? Über Russlands Nachschub im Ukraine-Krieg nur Schätzungen möglich

Deren Untersuchung, die sich auf öffentlich zugängliche Informationen stützt, kommt zum Ergebnis „dass russische Fabriken in diesem Jahr voraussichtlich etwa 4,5 Millionen Artilleriegeschosse herstellen oder überholen werden“, wie Sky berichtet. Demgegenüber kämen die Nato-Länder inklusive der USA auf rund 1,3 Millionen Geschosse. Auch die Kosten variieren demnach wohl deutlich: Laut Bain & Company kostete ein Standard-Nato-Artilleriegeschoss im Kaliber 155 Millimeter umgerechnet rund 3.600 Euro. In Russland betrügen die Produktionskosten für ein Standard-Artilleriegeschoss der dortigen Streitkräfte im Kaliber 152 Millimeter zum Vergleich umgerechnet etwa 900 Euro.

Der US-Sender CNN hatte im März berichtet, dass Russland etwa drei Millionen Artilleriegranaten pro Jahr produzieren könne, also etwa 250.000 Stück pro Monat. Diese Zahlen stammen aus Schätzungen von Nato-Geheimdiensten. Allerdings versuchte die russische Nachrichtenseite The Insider, die Zahlen wieder geradezurücken. Demnach hätten die US-amerikanischen Unternehmensberater neben den 152-Millimeter-Geschossen auch andere Kaliber mit hineingerechnet, was zu einer Verzerrung der Zahlen geführt habe. Der Insider behauptete insofern, Bain & Company hätten „Äpfel mit Birnen“ verglichen, wie die Kiew Post berichtete.

Offensiven am Ende? Russland benötigt pro Jahr mindestens vier Millionen Artilleriegranaten

Nach Berechnungen des Thinktank Royal United Service Institutes (RUSI) benötigt Russland permanent 5,6 Millionen Artillerie-Granaten, um seinen bisherigen Angriffsschwung beizubehalten und ein schnelles Ende des Ukraine-Krieges zu erzwingen: „Um sein Ziel zu erreichen, im Jahr 2025 erhebliche Gebietsgewinne zu erzielen, hat das russische Verteidigungsministerium einen industriellen Bedarf zur Herstellung oder Beschaffung von etwa vier Millionen 152-mm- und 1,6 Millionen 122-mm-Artilleriegeschossen im Jahr 2024 ermittelt“, schreiben die RUSI-Autoren Jack Watling und Nick Reynolds.

Von einer wirtschaftlichen Erschöpfung vor allem der russischen Seite ist kaum etwas zu merken. Auch die Ökonomen sind in dieser Frage gespalten. Im April hatte das Meinungsmagazin The Conversation berichtet, die russische Wirtschaft werde so vollständig vom Krieg in der Ukraine dominiert, dass sich dessen Regime weder einen Sieg noch eine Niederlage leisten könne.

Ökonomische Verluste tragbar? Putin hat konsequent auf Kriegswirtschaft umgestellt

Wie Renaud Foucart im Conversation veröffentlicht hat, hätten zwar Russlands öffentliche Ausgaben ein Rekord-Niveau erreicht, allerdings verschlinge der Krieg rund 40 Prozent des Staatshaushalts. Im vergangenen Jahr hätten demnach die gesamten Militärausgaben zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausgemacht. „Soldatensold, Munition, Panzer, Flugzeuge und Entschädigungen für gefallene und verwundete Soldaten tragen allesamt zum BIP bei. Vereinfacht ausgedrückt ist der Krieg gegen die Ukraine heute der Hauptmotor des russischen Wirtschaftswachstums“, schreibt Foucart.

Im Vergleich dazu streiten die Nato-Länder seit Jahren um eine verlässliche Größe des Verteidigungshaltes der jeweiligen Partner von zwei Prozent des BIP – selbst Deutschland hatte die lange Zeit unterschritten. Klassenprimus des nordatlantischen Verteidigungsbündnisses ist Polen mit rund vier Prozent, gefolgt von den USA.

Ist der Produktionskrieg mit Putin zu gewinnen? Der Ausgang ist ungewiss

Laut CNN gehe die Nato davon aus, dass die russische Kriegsmaschinerie der der Nato uneinholbar voraus liege; einer hochrangigen Nato-Quelle zufolge betreibe Russland seine Artilleriefabriken „rund um die Uhr“ in wechselnden Zwölf-Stunden-Schichten, wie CNN schreibt. Geschätzte 3,5 Millionen Russen arbeiteten derzeit im Rüstungssektor, vor dem Krieg sollen das mindestens eine Million Menschen weniger gewesen sein. Daneben importiere Russland auch Munition: Der Iran lieferte demzufolge im vergangenen Jahr mindestens 300.000 Artilleriegeschosse – „wahrscheinlich sogar mehr“, sagte der Militär laut CNN – und Nordkorea lieferte mindestens 6.700 Munitionscontainer mit Millionen von Geschossen.

Russland habe demnach „alles ins Spiel gebracht, was es hat“, zitiert CNN den Geheimdienstler. Demnach sei der Bedarf der russischen Kriegführung dennoch höher als der Ausstoß der Fabriken, vermuten Analysten. Demzufolge würden effektive Erfolge für Russland auf dem Schlachtfeld auch voraussichtlich weiterhin ausbleiben. Und darüber hinaus sei die Produktionskapazität der russischen Fabriken begrenzt und würden im Laufe des Jahres 2025 an ihre Grenzen stoßen.

Demnach hätten die wiederholten Bombardierungen von Depots letztendlich doch eine Wirkung auf die Reichweite der russischen Invasionsarmee, wie CNN nahelegt durch eine Aussage eines Nato-Militärs: „Wir befinden uns derzeit in einem Produktionskrieg.“

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