Schutz gegen Russland: „Totale Verteidigung“ in Finnland als Vorbild für Europa

  1. Startseite
  2. Politik

KommentareDrucken

Finnland und Schweden stellen angesichts der wachsenden Bedrohung durch Russland ihre Gesellschaften auf den Verteidigungsmodus. Der Zivilschutz im hohen Norden ist auch ein Vorbild für Deutschland.

Jahrzehntelang galten die skandinavischen Länder als Vorbilder für tolerante Gesellschaften, modernes Design und großzügige Sozialsysteme. Die Zeiten haben sich geändert: Heute befassen sich westeuropäische Länder mit den „Total Defence“-Modellen der Nato-Neumitglieder Finnland und Schweden. Dieses Konzept setzt nicht nur aufs Militär, sondern auch auf Zivilschutz und eine gesamtgesellschaftliche Verteidigungsbereitschaft.

Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius etwa reiste Anfang März eigens nach Skandinavien, um sich vor Ort über die nordischen Zivilschutzmodelle zu informieren – und plädierte prompt für einen stärkeren Schutz der Zivilbevölkerung in Deutschland. In Helsinki besuchte Pistorius die Bunkeranlage Merihaka, die in Friedenszeiten als Sportzentrum genutzt wird. Nach Angaben des finnischen Innenministeriums besitzt das Land mehr als 50.000 sichere Schutzräume mit Platz für 4,8 Millionen Menschen, gut 85 Prozent der Bevölkerung. Deutschland habe dagegen selbst im Kalten Krieg nur Bunkerplätze für zehn Prozent der Bevölkerung gehabt, sagte Pistorius in Helsinki. Und selbst diese sind inzwischen zumeist verkauft oder verfallen.

Neumitglieder Finnland und Schweden sagen Nato-Ziel von zwei Prozent für Militärhaushalt zu

Finnland hat als einziges Land der Ostseeregion seine Verteidigungskapazitäten nie reduziert, auch nicht nach dem Ende des Kalten Kriegs. Das Land grenzt direkt an Russland, das Gespür für Bedrohung ist ausgeprägt. Im Falle einer akuten militärischen Bedrohung können die relativ kleinen finnischen Streitkräfte daher rasch eine Reservistenreserve von 280.000 Personen mobilisieren – und das bei nur 5,5 Millionen Einwohnern.

Schweden, einst Pionier der „Totalen Verteidigung“, stellte nach 1991 nur noch eine gut ausgebildete, aber kleine Berufsarmee auf, die eher für Spezialeinsätze konzipiert war als für die Landesverteidigung. Stockholm dachte allerdings früh wieder um. Schon 2017 führte Schweden die Wehrpflicht nach nur sieben Jahren Pause wieder ein, für Männer und Frauen. Im April 2023 legte die schwedische Verteidigungskommission Pläne zur Wiedereinführung des ausrangierten „Total Defence“-Programms vor.

Bis 2026 sollen Schwedens Verteidigungsausgaben auf das Nato-Ziel von zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) steigen, 2023 waren es 1,54 Prozent. Die Streitkräfte will Stockholm bis 2030 auf 90.000 Soldatinnen und Soldaten gegenüber 2022 mehr als verdreifachen. Auch Finnland sagte bei seinem Nato-Beitritt im April 2023 zu, mehr als zwei Prozent seines BIP für die Verteidigung aufzuwenden.

Bedrohung durch Russland: Zivilschutz in Schweden

Sollte der 2011 ausgesetzte Wehrdienst in Deutschland wieder eingeführt werden, will Pistorius sich am Modell Schwedens orientieren. Dort gibt es eine Musterungspflicht, bei der aber nicht gesamte Jahrgänge eingezogen werden. Das spart Geld und ist effizienter. Laut Verteidigungsminister Pal Jonson zieht das Militär etwa fünf bis zehn Prozent eines Jahrgangs ein.

Mit Carl-Oskar Bohlin hat die Regierung von Premierminister Ulf Kristersson zudem erstmals einen Minister nur für Zivilschutz eingesetzt. Der macht bereits Tempo, etwa beim Ausbau von Schutzräumen. „Sein Mandat besteht darin, die Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft in Zeiten erhöhter Alarmbereitschaft oder eines Krieges zu gewährleisten“, sagte Kristersson in einer Rede Anfang des Jahres. „Die Erfahrungen aus der Ukraine haben gezeigt, dass Resilienz von Grund auf aufgebaut werden muss.“ Kurz nach Kristerssons Rede reaktivierte Schweden auch den Zivildienst.

Verstärkte Infrastruktur und Notvorräte

Zur physischen Resilienz gehören nach einer aktuellen Studie der Denkfabrik Center for European Policy Analysis (CEPA) in Washington Energiesicherheit sowie Notvorräte an Lebensmitteln, Trinkwasser, medizinischen Ressourcen und Ersatzteilen. Die Infrastruktur – etwa öffentliche Verkehrsmittel, Stromnetze, Mobilfunknetz oder der Rundfunk – muss widerstandsfähig sein. Arbeiten etwa zur Verstärkung von Brücken oder Hafenanlagen haben laut der Studie in der Region allerdings gerade erst begonnen.

Finnlands gesetzlich verankerte Nationale Agentur für Notfallversorgung soll sicherstellen, dass die nötigen Funktionen für Wirtschaft, Landesverteidigung und Lebensunterhalt der Bevölkerung auch unter außergewöhnlichen Umständen gewährleistet sind.

Wichtig ist zudem laut CEPA eine gut informierte Öffentlichkeit, die die Lage richtig einschätzen kann. In Finnland stellen ausgefeilte staatliche Bildungsprogramme sicher, dass die Bürger die von Russland ausgehende Gefahr verstehen. Dazu gehören Kurse zur nationalen Sicherheit in Schulen bis hin zu Seminaren zur Landesverteidigung für Führungskräfte aus Wirtschaft oder Wissenschaft.

Männer der schwedischen Heimwehr in Tarnanzügen trainieren mit Gewehren den Häuserkampf.
Freiwillige des schwedischen Militärdienstes „Hemvärnet“ trainieren den Häuserkampf im Städtchen Ystad – Wohnort des fiktiven Kommissars Kurt Wallander © Johan Nilsson/TT/Imago

Großes Interesse an Schießtraining für Freiwillige seit Beginn des Ukraine-Kriegs

Finnland will nach einem lokalen TV-Bericht Hunderte neuer Schießstände errichten, an denen Reservisten und Zivilisten üben können. Das Interesse daran sei seit Beginn des Ukraine-Krieges enorm gestiegen, hieß es – was eine wachsende Bereitschaft zur Landesverteidigung unter Zivilisten zeigt, wie sie zu Kriegsbeginn auch in der Ukraine zu beobachten war.

In Schweden florieren derweil freiwillige Militärdienste: Die „Heimwehr“, auf Schwedisch „Hemvärnet“, hatte 2020 etwa 20.000 Mitglieder – nach 120.000 Mitte der 1980-er Jahre. Doch allein 2022 bewarben sich unter dem Eindruck des Ukraine-Kriegs laut dem US-Nachrichtenportal Politico 29.100 Schweden um eine Mitgliedschaft in der Hemvärnet. Das Interesse ist auch 2024 ungebrochen.

Auch interessant

Kommentare