Kevin Kühnert nach Solingen über Islamismus-Prävention: „Es muss härtere Daumenschrauben geben“

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SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert kündigt an: Auf das Migrationspaket folgen schärfere Maßnahmen gegen TikTok und Co. Auf die Sachsen- und Thüringen-Wahlen blickt er indes skeptisch.

Berlin – Es sind Tage, an denen streng durchgetaktete Politikerkalender einfach nichts mehr wert sind. Zwei Landtagswahlen, die ein außergewöhnlich hohes Brisanz-Risiko bergen, stehen kurz bevor. Und der Anschlag von Solingen erschüttert immer noch die Republik. Die Debatte überschlägt sich und der SPD-Generalsekretär muss seine Termine an diesem schwül-heißen Donnerstag gleich mehrfach kippen.

Dass die Ampel genau jetzt ein prall gefülltes Sicherheits- und Migrationspaket präsentiert, kam augenscheinlich auch für Kühnert überraschend. Der muss sich erst nochmal briefen lassen, das Maßnahmenpaket ist umfangreich und komplex. Dann kurz sammeln, noch ein Schluck aus der „Tennis Borussia“-Tasse und ab in den einzigen gut klimatisierten Raum im Willy-Brandt-Haus.

Nach Anschlag von Solingen: Kühnert widerspricht Merz

Als ehemaliger Juso-Chef, Parteilinker und vielleicht nicht immer größter Fan von Olaf Scholz trat Kevin Kühnert 2021 das Amt des Generalsekretärs bei den Sozialdemokraten an. Seitdem muss er die Politik des Bundeskanzlers nach Außen verteidigen und erklären. Beim Migrationspaket stärkt Kühnert dem Kanzler den Rücken und widerspricht der Erzählweise, Friedrich Merz und die CDU hätten die Ampel zu den Verschärfungen getrieben.

Trotzdem sieht Kühnert die Dinge im Interview mit IPPEN.MEDIA nicht nur rosig, spricht über dessen schlechte Zustimmungswerte und Luft nach oben in seiner Kommunikation. Kühnert gibt sich inmitten einer schweren Lage für die SPD kämpferisch, aber nicht illusorisch. Denn: Dass die SPD in Sachsen und Thüringen aus dem Landtag fliegen könnte, ist für den Generalsekretär kein unrealistisches Szenario.

Herr Kühnert, zwei Tage nach dem Treffen zwischen Olaf Scholz und Friedrich Merz präsentiert die Bundesregierung jetzt ein Sicherheits- und Migrationspaket. Diktiert Merz der Koalition seine Agenda? 

Treffen kurz nach der Einigung der Regierung auf ein Sicherheits- und Migrationspaket: SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert im Gespräch mit den Redakteuren Moritz Maier und Peter Sieben.
Treffen kurz nach der Einigung der Regierung auf ein Sicherheits- und Migrationspaket: SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert im Gespräch mit den Redakteuren Moritz Maier und Peter Sieben. © Dennis Yenmez

Das hätte er wohl gern. Aber das ist Unsinn, denn die jetzt beschlossenen Maßnahmen sind schon lange vorher in der Koalition diskutiert worden. Das Maßnahmenpaket, über das wir jetzt sprechen, ist seriös und durchdacht. Friedrich Merz wollte uns ja am vergangenen Wochenende das komplette CDU-Parteiprogramm als Antwort auf Solingen verkaufen, inklusive manch unausgegorener Parole. Merz‘ Eisblock aus Vorschlägen ist seither in der Sonne der Wirklichkeit ganz schön dahingeschmolzen.

Aber man könnte den Eindruck gewinnen, dass es nach dem Gespräch zwischen Scholz und Merz plötzlich sehr schnell gegangen ist.  

Das Treffen zwischen Olaf Scholz und Merz war seit Wochen geplant. Es gehört zum guten Ton, dass der Regierungschef und der Oppositionsführer von Zeit zu Zeit über aktuelle Themen sprechen. Drei Tage nach Solingen stand das Attentat und unsere Antwort darauf natürlich im Mittelpunkt. Es ist gut für unsere Demokratie, wenn Koalition und Opposition in den nächsten Tagen eng abgestimmt vorgehen. Dafür muss Friedrich Merz dann aber auch mal durchhalten und darf nicht wieder – wie bei den letzten Gipfeln mit dem Kanzler – aus Angst vor der Verantwortung weglaufen.

Im Maßnahmenpaket geht es an prominenter Stelle auch um verschärfte Messerverbote. Glauben Sie, ein potenzieller Terrorist lässt sich dadurch abschrecken? 

Die verschärften Messerverbote sind nicht zuvorderst eine Reaktion auf den Anschlag von Solingen. Ein Verbot allein hätte solch einen Täter nicht gestoppt. Es geht vielmehr nach Brokstedt, Duisburg und vielen anderen bundesweit diskutierten Beispielen um eine Stärkung des Sicherheitsempfindens im Alltag. 

In Brokstedt waren 2023 zwei Menschen durch Messerstiche getötet worden. Also wird es generell Messerverbote in Zügen geben?  

Es wird Messerverbote in Fernzügen und -bussen, bei Volksfesten und Sportveranstaltungen und vielfach auch an Bahnhöfen und anderen kriminalitätsbelasteten Orten geben.

Eine weitere Maßnahme soll mehr Prävention umfassen. 2022 hat die Ampel das Demokratiefördergesetz auf den Weg gebracht, in dem es genau darum geht. Verabschiedet hat die Regierung es aber bis heute nicht – wieso?

Das müssen Sie eher den FDP-Generalsekretär fragen, denn das Demokratiefördergesetz wird seit geraumer Zeit von der FDP blockiert. Leider.

Daran ändert auch das Migrationspaket nichts?

An diesem Gesetz wohl nicht. An verstärkten Investitionen in Prävention aber auf jeden Fall. Die Bundesregierung will im Kampf gegen Islamismus vielfältige Expertise aus Wissenschaft und Praxis an einen Tisch holen. Da geht es um Prävention, Dunkelfelder im Netz und auch um Deradikalisierung. Um den politischen Islam zu stoppen, müssen wir schneller sein als die Extremisten.

Einige Ihrer Parteigenossen haben zuletzt immer wieder ein Sondervermögen für die innere Sicherheit gefordert. Kommt das nun? 

Sondervermögen ist ein Reizwort, mit dem kann man die ganze Debatte schnell erschlagen. Das will ich nicht. Klar ist: Wir müssen sicherstellen, dass für innere Sicherheit auf der Höhe der Zeit immer ausreichend Mittel zur Verfügung stehen. Notfalls muss für den kommenden Haushalt nochmal nachgelegt werden. Die Sicherheit der Bundesrepublik und der Menschen, die hier leben, darf nicht von der Kassenlage abhängen. Sicherheit zu organisieren und zu garantieren ist so grundlegend wie saubere Luft, sauberes Wasser und ein Dach über dem Kopf. Die SPD wird nicht zulassen, dass die innere Sicherheit gegen andere Elemente der Grundversorgung ausgespielt wird.

Sachsen-Wahl und Thüringen-Wahl: „Druck war groß, weil die Tat in Solingen so widerwärtig ist“

War der Druck groß, das Paket noch vor den Landtagswahlen zu verkünden?  

Der Druck war groß, weil die Tat in Solingen so widerwärtig ist. Politik hat sich mit dem zu beschäftigen, was ist. Seit einer Woche war der Solingen-Anschlag überall das bestimmende Thema. Einen solchen Diskurs kann man nicht mit Verweis auf Landtagswahlen um zwei Wochen aufschieben. Das wäre weltfremd.

SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert verteidigt das Migrationspaket der Ampel. Positive Auswirkungen auf das SPD-Wahlergebnis in Sachsen und Thüringen erhoffe er sich damit nicht. Für die Landtagswahlen fällt es dem Sozialdemokraten schwer, Optimismus zu verbreiten.
SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert hält das Migrationspaket der Ampel für den richtigen Weg. © Dennis Yenmez

Solingen ist auch in Sachsen und Thüringen ein großes Thema. Glauben Sie, dass es der SPD bei den Landtagswahlen hilft, wenn die Bundesregierung jetzt Handlungsfähigkeit demonstriert?  

Das wäre zynisch. Kein Terroranschlag darf für Wahlkampfzwecke instrumentalisiert werden. Für uns Sozialdemokraten geht es schlicht und ergreifend darum, Maß und Mitte in der Diskussion zu wahren und das Nötige zu tun, um das Bedürfnis nach mehr Sicherheit zu gewährleisten. Und wir sorgen dafür, dass die Debatte nicht in einen Sumpf aus Ressentiments abrutscht. Es wäre doch absurd, wenn hinter Millionen unbescholtenen Migranten in unserer Gesellschaft künftig Gewalttäter vermutet würden. Populisten haben genau daran ein Interesse. Sie dürfen mit ihrer Masche nicht durchkommen.

Sie haben 2020 mal in einem Gastbeitrag gefordert, dass die politische Linke deutlicher gegen Islamismus vorgehen muss, damit das Feld nicht Rechtsextremen überlassen wird. Kam denn genug von Links aus Ihrer Sicht? 

IIch habe den Beitrag nach dem Mord an dem französischen Lehrer Samuel Paty geschrieben. Und ich stehe zu jedem Wort, was ich damals geschrieben habe. Manches ist leider weiterhin aktuell. Die SPD ist mit Blick auf den Islamismus jedoch alles andere als naiv. Nancy Faeser hat, nachdem alle ihrer Amtsvorgänger nur hohle Reden geschwungen haben, das aus Iran gesteuerte IZH und die Blaue Moschee in Hamburg geschlossen. Der Leiter dieser Institution wird jetzt ausgewiesen. Sie hat nach dem 7. Oktober 2023 das Netzwerk Samidoun und den deutschen Ableger der Hamas verbieten lassen. Wir sind weit davon entfernt, den radikalen Islamismus beseitigt zu haben. Aber die Zeit der Tatenlosigkeit bei gleichzeitig großer Empörung, die ist nachweislich vorbei. Gut so.

Reichen solche restriktiven Maßnahmen allein? 

Sie sind notwendig, aber nicht hinreichend. Deutlich besser werden muss die Bündelung der Expertise, die wir in Deutschland in Politik, in Islamwissenschaften und in Sicherheitskreisen haben. Wissensmanagement hilft uns besser zu verstehen, wie wir die Soloradikalisierung von vornehmlich jungen Männern erkennen und bekämpfen können. Das ist eine große Achillesferse. Ich setze mich deshalb dafür ein, dass die von meinem Bundestagskollegen und Kriminalbeamten Sebastian Fiedler vorangetriebene Bundesakademie für Kriminalprävention in Deutschland Wirklichkeit wird.

Was soll dort passieren? 

Das ist eine Einrichtung, in der systematisch erforscht würde, welche Präventionsmethoden nachweislich zielführend sind und bundesweit Anwendungen finden können. Denn vieles, was wir vor zehn Jahren mal über Islamismus und seine Verbreitung im Fernsehen mitbekommen haben, passt nicht mehr in unsere Zeit. Wir haben es eher nicht mehr mit Pierre Vogel zu tun, der in irgendeiner Fußgängerzone den Koran verteilt. Die Radikalisierung passiert heute überwiegend in den sozialen Netzwerken und ist leider handwerklich sehr gut gemacht.

Vor allem bei TikTok. Welche regulatorischen Hebel haben Sie, um solche Netzwerke zu mehr Kontrolle zu bewegen? 

In dem Maßnahmenpaket ist jetzt enthalten, dass der Digital Service Act auf europäischer Ebene deutlich nachgeschärft werden soll.

Sie meinen die EU-Verordnung DSA, die die Verbreitung illegaler Inhalte verhindern soll. 

Genau, da sind viele gute Ansätze drin, aber der DSA ist derzeit ein recht zahnloser Tiger. Und da wird die Bundesregierung Verschärfungen fordern, um internationalen Plattform-Betreibern beikommen zu können, dass sie ihre Aufgaben erfüllen. Es muss wesentlich härtere Daumenschrauben geben.

Was heißt das konkret? 

Die Europäische Union arbeitet in anderen Fällen mit sehr hohen Strafzahlungen, wenn Unternehmen unsere Regeln nicht einhalten. Apple musste das in den letzten Jahren immer wieder erleben. In Frankreich wurde der Chef des Messengers Telegram kürzlich temporär inhaftiert. Wir werden schmerzhaftere Maßnahmen gegen Plattformen wie TikTok brauchen, müssen dafür aber auch die Straftatbestände konkreter definieren, um das Recht handhabbar zu machen.

Kevin Kühnert im Gespräch mit Moritz Maier und Peter Sieben
Kevin Kühnert will, dass entschiedener gegen Plattformen vorgegangen wird, auf denen Radikalisierungsvideos ausgespielt werden: „Es muss wesentlich härtere Daumenschrauben geben.“ © Dennis Yenmez

Die SPD hat 2021 ein Gerechtigkeitsversprechen abgegeben. Wenn man sich die Europawahlergebnisse anschaut, scheinen die Menschen da nicht mehr dran zu glauben. Woran liegt das?

Ich sage selbstbewusst: Wir haben genau das geliefert, was wir versprochen haben. Der Niedriglohnsektor ist so klein wie seit der Wiedervereinigung nicht. Der Mindestlohn ist wie versprochen auf zwölf Euro erhöht worden. Wir haben die Midijobgrenze ausgeweitet, ebenso das Wohngeld und den Kinderzuschlag. Allesamt Maßnahmen für fleißige Leute mit kleinen Einkommen. Die Inflation ist bei unter zwei Prozent angekommen, die Reallöhne steigen das fünfte Quartal in Folge. Das sind Fakten. Aber das Gefühl ist ein anderes, ja. Die Unsicherheit hat sich vom Hier und Jetzt in die nahe Zukunft verlagert.

Was heißt das?

Die meisten Leute sagen: im Hier und Jetzt geht es mir gut, meine Einkommenssituation ist in Ordnung. Aber die Leute machen sich Sorgen, wie lange das noch gut geht in dieser verrückten Welt, wo wir zuletzt Pandemie, Kriege, Energiekrisen erlebt haben. Alles Sachen, die wir nicht per Gesetz verhindern können. Zukunftsoptimismus zu entwickeln, während die Abendnachrichten andauernd Krisen zeigen, ist eine Herausforderung.D

„Sie dürfen davon ausgehen, dass Olaf Scholz seine und die SPD ihre Zustimmungswerte steigern möchte“

Aber ein Bundeskanzler könnte mehr Zuversicht vermitteln. Ist Olaf Scholz der falsche Mann dafür? 

Ich bin der Letzte, der behaupten würde, dass aus der Regierung nicht besser kommuniziert werden kann. Uns fallen da allen Beispiele ein, mir auch. Aber die Wirklichkeit bleibt am Ende die Wirklichkeit. Man kann den Krieg in unserer Nachbarschaft und das, was wir an Teuerung in den letzten Jahren erlebt haben, in noch so schöne und markige Worte kleiden. Es bleibt etwas, was Menschen ängstigt. Ich finde, erwachsenen Menschen darf Politik auch einen realistischen Blick auf die Herausforderungen der Zeit zumuten. Das versuchen wir zu tun.

Die Beliebtheitswerte von Olaf Scholz sind zuletzt ziemlich abgesackt. Wird das 2025 bei der Bundestagswahl ein Problem? 

Sie dürfen davon ausgehen, dass Olaf Scholz seine und die SPD ihre Zustimmungswerte steigern möchte. Ich bin übrigens davon überzeugt, dass sich beide Ziele gegenseitig bedingen. Nur so werden wir unseren Erfolg wiederholen können.

Boris Pistorius ist jetzt schon ziemlich beliebt. Wäre der nicht vielleicht auch ein guter Kandidat? 

Ist doch toll, wenn eine Partei gleich mehrere fähige Leute hat.

Wenn es um die Frage geht, wer Kanzlerkandidat wird, muss man sich für einen entscheiden.

Das stimmt. Und für uns ist klar, dass der Kanzler auch der Kanzlerkandidat ist. Das sieht übrigens auch Boris Pistorius so. Und wir Sozis wissen besser als viele andere, dass persönliche Zustimmungswerte allein nicht reichen, um eine Wahl zu gewinnen. Rufen Sie mal bei Martin Schulz in Würselen an und fragen ihn, was er von der These hält.

Vor der Landtagswahl in Thüringen ist eine Koalition aus CDU, SPD und BSW denkbar. Was halten Sie davon? 

Soll ich mal etwas machen, das für einen SPD-Generalsekretär sehr ungewöhnlich ist?

Unbedingt.

Ich spreche direkt über den Elefanten im Raum: Die SPD muss überhaupt erst mal in beide Landtage einziehen. Das ist nicht selbstverständlich, wenn man sich die Umfragen anschaut. Ich treffe andauernd Leute, die sagen, dass sie die SPD als Teil der nächsten Landesregierung sehen wollen, damit es stabile und demokratische Mehrheiten gibt. Und dass sie unsere Minister dort hervorragend bewerten. Stimmt alles. Aber an einem politischen Gesetz kommen wir nicht vorbei: Die SPD kann man nicht in Landtag hoffen, man kann sie nur in den Landtag wählen. Dann muss man ihr aber auch die Stimme geben. So einfach ist das.

Und dann wäre eine Koalition mit BSW aus Ihrer Sicht in Ordnung? 

Das BSW ist die Katze im Sack, es gibt kaum ein Programm. Das ist ein Politik-Start-up aus dem Saarland, finanziert von Millionen-Spenden von Leuten, von denen wir nichts Genaues wissen. Man kann das BSW wählen, wenn man der Bundespolitik eins auswischen will. Das nehme ich schon so wahr. Aber man sollte sich vorher die Frage stellen, ob es die kurze Freude am Wahlsonntag wert ist, dass man danach vielleicht fünf Jahre lang von einer Black Box regiert wird.

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