Die Restaurierung von Schloss Neuschwanstein hatte es in sich − Ein Interview über besondere Herausforderungen
Vor-Ort-Termin mit Heiko Oehme von der Bayerischen Schlösserverwaltung. Es geht um die Restaurierung der Prunkräume von Schloss Neuschwanstein. Ein Rundgang der besonderen Art.
Schwangau - Schloss Neuschwanstein, acht Uhr morgens: Ein Vor-Ort-Termin mit Heiko Oehme von der Bauabteilung der Bayerischen Schlösserverwaltung. Es geht um die erstmals seit rund 150 Jahren vollumfänglichen Restaurierungs- und Sanierungsarbeiten der Prunkräume von Schloss Neuschwanstein. Ein Rundgang der besonderen Art.
Herr Oehme – bevor wir das Schloss betreten: Was für ein Bauherr mag Ludwig II. gewesen sein?
Oehme: „Einer, der Ahnung von Architektur hatte, unwahrscheinlich kunstsinnig war und durch entsprechende Publikationen die weltweiten Baustile kannte. Baupläne konnte der König nicht nur lesen, sondern auch abändern – immer wieder hatte er neue Ideen. Auf der anderen Seite war er sehr ungeduldig und hat die Arbeiten ständig vorangetrieben. In diesem Torbau, der als erstes entstanden ist, hatte er übrigens eine Dachgeschosswohnung, von wo aus er den Baufortschritt verfolgen konnte. Letztlich war er seiner Zeit weit voraus – gewissermaßen ein Michael Jackson des 19. Jahrhunderts. Er hatte das Geld dazu, sich seine Traumwelten perfekt gestalten zu lassen.“
Wie ist die Bausubstanz des Gebäudes?
Oehme: „Nach all dieser Zeit immer noch hervorragend. Ludwig hat damals die besten Handwerker gehabt und nur hochwertige Materialien verbauen lassen.“
Kann man das Kunsthandwerk von damals mit dem in der heutigen Zeit vergleichen?
Oehme: „Kaum. Früher war es weitaus hochwertiger als heute. Durch unsere Industrialisierung ist vieles ins Hintertreffen geraten. Und man muss schon sehr weit gehen, um heute noch Vergleichbares zu finden. Sehen Sie sich zum Beispiel mal diesen aufwendig gearbeiteten Mosaikboden im Thronsaal an, bei dem die Restaurierungsarbeiten bald abgeschlossen sein werden.“
Was musste hier gemacht werden?
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Oehme: „Es ist ein extrem dünner Bodenaufbau, der bisher von über 70 Mio. Besuchern begangen wurde, dabei sind Risse entstanden. Weil man die Mosaikfliesen nicht einfach herausnehmen und richtig mit Mörtel hinterfüllen kann, war das ein ganz begrenztes Arbeiten. Außerdem hatte es sich herausgestellt, dass der darauf verlegte Schutzboden nicht zielführend ist: Es sind nämlich winzige Steinchen darunter gewandert, die das wertige Mosaik zerkratzt haben. Deshalb wird der restaurierte Boden jetzt nur noch regelmäßig gewachst. Und der Besucher kann sich nun fast im ganzen Thronsaalbereich bewegen und bekommt einen neuen, luftigeren Eindruck.“
Wie viele Besucher gehen aktuell hier durch?
Oehme: „In der Hochsaison sind es knapp 6.000 pro Tag. Früher waren es bis zu 8.000 Besucher täglich. Die Gruppen waren bis auf 60 Personen aufgeblasen, jetzt sind es maximal 45. Aber die Nachfrage hat sich nicht geändert.“
Es ist eine Gratwanderung zwischen Nachfrage und Erhalt.
Oehme: „Ja, es ist wichtig, dass wir von diesen Riesengruppen runterkommen. Erstens ist es für den Besucher höchst unangenehm, wenn er dichtgepresst steht und von der Führung nichts wirklich mitbekommt. Zweitens ist die Luftqualität deutlich schlechter. Die hohe Luftfeuchtigkeit hat uns früher echte Probleme bereitet; winters hatten wir in manchen Bereichen eine Raureifbildung, die uns die Originalbemalungen abgesprengt hat. Deshalb haben wir im Rahmen der Maßnahmen fünf Lüftungsanlagen eingebaut, mit denen wir eine entsprechend konditionierte Luft einbringen können und jetzt eine viel bessere Luftqualität haben.“
Und wie bringen Sie die Luft in die Räume?
Oehme: „Über die historischen Warmluftkanäle. Dabei mussten wir schauen, welche davon noch frei sind, denn Anfang der 1960er wurden einige aus Brandschutzgründen verschlossen. Dass wir dabei Zugriff auf alle originalen Baupläne haben, ist unbezahlbar.“
Wir befinden uns jetzt im einstigen Schlafzimmer Ludwigs II. – was wurde hier restauriert?
Oehme: „Einfach alles (lacht). Wie im gesamten Gebäude wurden, über viele Jahre hinweg, alle Oberflächen mit einer Art Reinigungsöl überzogen. Man war der Meinung, dass man der Substanz damit etwas Gutes tut. Im Gegenteil: Das Öl blieb klebrig und der Staub hat sich über die Jahre darin festgesetzt. Mit jeder „Reinigung“ wurde immer mehr Staub konserviert. Dadurch hat sich die Farbigkeit geändert, es wurde dunkler. Hellhörig sind wir geworden, als wir in den Archiven eine Farbangabe fürs Schlafzimmer fanden, die einen „Zigarrenton“ erwähnte. Das Einzige, was diesem Ton entsprach, war der Ofen, der in dem dunklen Raum farblich hervorstach. „Das kann doch nicht so gewollt sein“ hatten wir uns gesagt, und erste Freilegungsmuster gemacht: Ein sehr schwieriges Unterfangen, weil man immer Gefahr läuft, dadurch die originale Farbigkeit darunter zu entfernen. Bis zur richtigen Rezeptur war es also ein sehr langes Probieren. Dann wurde Zentimeter für Zentimeter der schöne Untergrund freigelegt.“
Wie lange hat die Holzreinigung in diesem Raum gedauert?
Oehme: „2.500 Stunden, davon allein 500 Stunden nur für das Bett. Durch die Verwendung von Lösemitteln war auch ein Atemschutz unerlässlich. Man darf sich das also nicht als unbeschwertes, lockeres Arbeiten vorstellen. Beim Parkett gab es ein anderes Problem: Hier hatte man seinerzeit als Schutzboden einen Teppich verlegt, der mit beidseitigem Klebeband auf dem Parkett fixiert wurde. Über die Jahre sind aber die Weichmacher der Klebstoffe tief ins Holz eingedrungen. Unter dem aktuellen Teppich erkennt man noch leicht, wo einst die Klebebänder waren.“
Der neue Teppich trägt auch schon Kampfspuren…
Oehme: „Ja, der Besucher ist ein eigenes Wesen. Wir haben nicht wenige, die einfach ihren Kaugummi ausspucken, der sich dann festtritt. Es mussten auch viele Malereien restauriert werden, weil der Mensch immer den Drang hat, ein Objekt – im wahrsten Sinne des Wortes – zu „be-greifen“. Dafür habe ich noch Verständnis. Wofür ich kein Verständnis habe: Besucher, die mutwillig und brachial Ziernägel an den Beschlägen rausschrauben. Die wollten vielleicht ein Souvenir. In der frisch restaurierten Grotte sind auch wieder Stalaktiten abgebrochen. Das muss nicht mutwillig geschehen sein, aber wenn sich hier 45 Leute durchschieben, dann bleibt vielleicht der eine oder andere hängen.“
Wann ging es mit den Restaurierungsarbeiten los?
Oehme: „2017 wurde mit der Restaurierung begonnen. 2010 hatten wir (Museumsabteilung, Restaurierungszentrum, Bauabteilung) bei jedem Rundgang gemerkt, dass die Schäden zunehmen und Handlungsbedarf ist. Man geht tiefer in die Materie und überlegt, ob man das quasi nebenher umsetzen kann. Keine Chance – es musste eine große Maßnahme werden. Anfangs hatten wir mit fünf Millionen Euro gerechnet. Aber es kam einiges hinzu: die Restaurierung der Fenster, die statische Sicherung über dem Thronsaal, das neue Textildepot, die Erneuerung der Sicherheitstechnik. Dabei haben wir die genehmigten Kosten in Höhe von 20 Mio. Euro, die zwischen 2013 – 2015 ermittelt wurden, Stand 2024 gut eingehalten. Das ist schon erstaunlich. Da möchte ich von einer Punktlandung sprechen!“
Gab es weitere Überraschungen?
Oehme: „Wir hatten hier über die ganzen Jahrzehnte keinen Lichtschutz. Und es gibt nicht Aggressiveres als Sonnenlicht. Durch die UV-Strahlung haben die Textilien Schaden genommen. Wir hatten noch Originaltextilien im Depot, die zwar vor Licht geschützt, aber relativ schlecht aufgehängt waren. Also haben wir im Rahmen der Restaurierungsmaßnahme ein neues Textildepot geschaffen, wo die Klimawerte und alles perfekt ist. Und wir haben die erste vollumfängliche Restaurierung aller Fenster und Außentüren gemacht, an die 660 Stück. Da kann man sich vorstellen, was das für ein Kraftakt war. Teilweise waren Industriekletterer am Werk – das sind Arbeiten, die es nicht von der Stange gibt. Beim Lichtschutz machen wir einen Spagat: Der Besucher will ja auch die alpine Szenerie draußen sehen. Wir versuchen, die Lichtschutzvorgaben einzuhalten, aber so, dass der Besucher noch nach draußen blicken kann.“
Wie haben die Besucher auf die Restaurierungsarbeiten reagiert?
Oehme: „Übers Internet wurde darauf hingewiesen, dass manches vielleicht nicht zu sehen ist, dass Gerüste da stehen und gearbeitet wird. Doch der Besucher hat die Restaurierung als überaus spannend wahrgenommen. Viele haben sich mit den Restauratoren unterhalten. Mancher hat sich nicht einmal im Thronsaal umgesehen, sondern ging direkt zu den Glasabschrankungen, um den Restauratoren beim Arbeiten zuzusehen. Das war für die Besucher ein Highlight und für uns eine positive Überraschung. Die Vorgabe vom Finanzministerium – dem wir unterstehen – war, die Restaurierung bei laufendem Betrieb durchzuführen. Es dauert dadurch natürlich etwas länger, aber im Nachhinein würde ich sagen: Es war der einzig richtige Schritt. Wir können ja nicht die ganze Hotellerie, Gastronomie und Privatpensionen für drei Jahre abschneiden – die Gegend lebt von Schloss Neuschwanstein! Schauen Sie mal hier: das Arbeitszimmer von Ludwig ist jetzt nicht mehr so dunkel wie es mal war. Die helleren Räume vermitteln nun auch ein anderes Bild vom Bauherren – alles ist lichter und luftiger; dadurch wirkt auch Ludwig II. offener.“
Warum hat die Sternenkuppel im Thronsaal eigentlich Flecken?
Oehme: „Das haben wir uns auch immer gefragt: „Warum ist die so fleckig?“ Auf historischen SW-Aufnahmen entdeckten wir, dass die schon relativ knapp nach Ludwigs Tod zu sehen waren. Aber wir konnten es uns nicht erklären. Das Ganze wurde chemisch untersucht und analysiert. Dabei hat sich herausgestellt, dass Ludwig seine Handwerker so zur Eile angehalten hat, dass der Farbauftrag keine Zeit zum Trocknen hatte. Dadurch gab es chemische Prozesse, die zu diesen Flecken geführt haben. Die Frage war, wie geht man damit um? Zeige ich jetzt ganz bewusst diese Fleckigkeit als ein Zeichen von Ludwigs Eile? Oder versuche ich das zu retuschieren, um den Himmel so zu zeigen, wie ihn sich Ludwig vorgestellt hatte? Wir haben uns für die erste Antwort entschieden, da es ein Zeichen der Zeit ist und es etwas über den König und die damaligen Arbeiten aussagt.“
Und hier im Sängersaal haben bis vor ein paar Jahren Schlosskonzerte stattgefunden?
Oehme: „Ja, dadurch sind aber immense Schäden entstanden. Die Bestuhlung z.B. hat immer die Wandflächen berieben; und sowohl in der Empore als auch Königsloge gab es eine Kinobestuhlung – ein Unding! Das konnte man in dieser Maßnahme alles bereinigen. Hier sehen Sie ostseitig wunderschöne Buntglasfenster, bei denen allerdings die Bleistege korrodiert waren, das wurde alles restauriert. Was man nicht sieht, ist das von außen angebrachte Schutzglas. Das Problem war: Es durfte nicht spiegeln, sonst hätte die Fassade moderner ausgesehen. Hierfür hat die Firma Schott, wie schon für den Kölner Dom, sehr aufwendig Spezialgläser produziert. Und so gibt es hier viele Dinge, deren Aufwand nach außen nicht gleich ersichtlich sind.“
Für so ein komplexes Projekt braucht es also unzählige Experten?
Oehme: „Natürlich. Es ist eine Restaurierungsmaßnahme, die sich im internationalen Vergleich so was von messen kann! Alle haben perfekt zusammengearbeitet: Wir hatten entsprechend installierte Fachbauleitungen, die alle Ausschreibungen und Arbeiten begleitet haben. Wir hatten Topleute von außen und, hier im Haus, das Restaurierungszentrum mit den besten Restauratoren. Dann hat uns ein extrem gut aufgestelltes Team vom Fraunhofer Institut über die Uni Bamberg unterstützt. Nicht zu vergessen: die Messbildstelle Dresden zum Aufnehmen dieser Wandflächen, es ist ja alles eingescannt. Das Ganze wird vom Bauamt Kempten gesteuert – auch hier Topleute. Und für die örtliche Verwaltung war es ebenfalls nicht einfach, bei laufender Baumaßnahme die Besucher zu steuern. Aber es war und ist ein optimales Zusammenspiel.“
Ich frage mich: Wie findet man da die „richtigen“ Handwerker?
Oehme: „Es werden Referenzen sehr genau abgefragt. Und es gibt vorher ein Bietergespräch, teilweise müssen auch Muster angelegt werden, damit man weiß, ob man dem Betreffenden das anvertrauen kann. Dann gibt es aber auch Überraschungen: Da bewirbt sich eine Firma aus dem Kölner Raum, von der man noch nie groß etwas gehört hat, die aber erstaunlich günstig ist, so dass man schon ins Zweifeln kommt. Aber die Firma war so engagiert und von ihrer Arbeitsleistung und Herangehensweise absolut überzeugend – das war wie ein Siebener im Lotto!“
Inwieweit ist Schloss Neuschwanstein behindertengerecht?
Oehme: „Wir würden uns sehr wünschen, dass wir mehr Behinderte pro Führung durchlaufen lassen könnten, aber es geht immer nur ein Rollstuhlfahrer. Im Brandfall muss der Behinderte über einen Escape Chair über eines der Treppenhäuser runtergetragen werden. Aber bei zwei oder drei Rollstuhlfahrern hätten wir ein zeitliches und personelles Problem. Ganz klassisch behindertengerecht ist es nicht, aber wir versuchen das Beste daraus zu machen. Bis hin zum Austausch des Bodenbelags im Tunnelausgang, wo wir vorher kleinteiliges Pflaster hatten – für jeden Rollstuhlfahrer der Horror. Wir wollen im Rahmen der Maßnahmen auch noch ein Tastmodell für unsere Sehbehinderten realisieren.“
Ist Schloss Neuschwanstein Ihr bislang größtes Projekt?
Oehme: „Auf jeden Fall. 1987 bin ich zur Bayerischen Schlösserverwaltung gekommen, ins damalige Bauamt in Nymphenburg. Ich durfte von Anfang an tolle Objekte betreuen, wie etwa die Schlosswirtschaft in Schleißheim oder den Ausbau einer Wohnung im Nymphenburger Schloss: Herzog Franz von Bayern hat ja dort Wohnrecht, und ich muss sagen, ich hatte noch nie so einen tollen Bauherren wie ihn. Drei Jahre war ich dann beim Bauamt in Weilheim für denkmalpflegerische Maßnahmen im Pfaffenwinkel zuständig und bin seit 2003 in der Bauabteilung der Schlösserverwaltung – wir sind als Mittelbehörde zwischen Finanzministerium und Bauamt angesiedelt.“
Sie sind also viel rumgekommen?
Oehme: „Ja, und es waren immer die tollsten Objekte darunter, auch die Wieskirche.“
Dann kann man fast von einem Traumberuf sprechen?
Oehme: „Nicht nur fast!“
(Von Elmar Schalk)