Gespräche mit Moskau? - Krieg in der Ukraine: Verhandlungsbereitschaft und Hoffnung auf Frieden
Die Ukraine hat ein schwieriges Jahr hinter sich. Nach der Offensive der ukrainischen Armee in der Region Kursk im Sommer intensivierte Russland seine Angriffe in den Regionen Donezk und Charkiw sowie auf Energieanlagen und Städte. Nach Schätzungen des US-Tageszeitung "Wall Street Journal" hat Moskau in diesem Herbst viermal mehr Drohnen und Raketen eingesetzt als im gleichen Zeitraum 2023.
Der Sieg des Republikaners Donald Trump bei den Präsidentschaftswahlen in den USA im November sorgt unterdessen für Unsicherheit unter den Ukrainerinnen und Ukrainern. Zwar hat Trump die Beendigung des Krieges in der Ukraine zu einer außenpolitischen Priorität erklärt, es bleibt aber unklar, wie Frieden erreicht werden soll.
Unklar ist auch der Umfang der weiteren US-Militärhilfe für Kiew. Doch gleichzeitig hoffen laut Experten immer mehr Menschen in der Ukraine auf einen gerechten Frieden durch Verhandlungen mit Russland.
Wolodymyr Fesenko vom Zentrum für angewandte Politikforschung "Penta", sagt, dass 2024, abgesehen von den ersten Kriegswochen im Frühjahr 2022, das bisher schwierigste Kriegsjahr war. "Hauptsache, wir haben standgehalten", betont er im DW-Gespräch.
"Die Ukraine hat schlicht nicht die Möglichkeit, ihre Waffen niederzulegen"
Trotz Müdigkeit würden die Menschen in der Ukraine ein zwar geringeres, aber weiterhin "überraschend hohes" Maß an Optimismus zeigen, findet Anton Hruschtschezkyj vom Kiewer Internationalen Institut für Soziologie (KIIS). Umfragen zufolge glauben zwischen 83 und 88 Prozent an einen Sieg.
"Aber es gibt auch Pessimismus - wegen Zukunftsängsten und dem frustrierenden Gefühl, zu wenig Unterstützung vom Westen zu bekommen", sagt er der Deutsche Welle, und fügt hinzu: "Auf große Worte folgten keine großen Taten. Hinzu kommt, dass die Ukrainer schlicht nicht die Möglichkeit haben, ihre Waffen niederzulegen. Sie wissen, dass es im Krieg ums Überleben geht", so der Experte. Der Anteil, der bereit sei, den Krieg so lange wie nötig zu ertragen, liege seit Oktober stabil bei etwa 60 Prozent.
Immer weniger Ukrainer lehnen Verhandlungen mit Russland ab
Gleichzeitig findet aber der Gedanke an Verhandlungen mit Russland zunehmend Akzeptanz. Im Vergleich zum Vorjahr ist der Anteil der Ukrainer, die sie kategorisch ablehnen, von einem Drittel auf 12 Prozent gesunken, wie aus einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts vom November hervorgeht.
Auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, wo die Zahl der Fähnchen mit Namen gefallener Ukrainer täglich zunimmt, konnte die Deutsche Welle mit Jewhen sprechen. Der Soldat hält Verhandlungen mit Russland für unvermeidlich.
Soldat Jewhen: "Alles hängt von der Lage an der Front ab"
Gleichzeitig hofft er, dass sie zugunsten der Ukraine ausfallen. "Alles hängt von der Lage an der Front ab. Wir brauchen die Hilfe unserer Partner, wir müssen den Kampf fortsetzen, die Armee unterstützen und alles für den Sieg tun", sagt er. Zugleich ist er skeptisch, was die Strategie angeht, so lange Krieg zu führen, bis alle besetzten Gebiete befreit sind.
Mychajlo Mischtschenko vom Rasumkow-Forschungszentrum findet, die Meinung der Menschen zu Verhandlungen werde vor allem von einer veränderten Rhetorik der ukrainischen Führung beeinflusst, die seit dem Sommer ein solches Szenario nicht mehr ausschließt.
"Aber wie die Regierung sagen die Menschen, dass sie zu Verhandlungen bereit sind, aber keine Gebiete aufgeben wollen", sagt Mischtschenko.
Die Mehrheit betrachte Gespräche als Weg, um ein für die Ukraine akzeptables Ergebnis zu erreichen, darunter die Rückgabe der besetzten Gebiete. Der Anteil der Ukrainer, die für Frieden besetzte Gebiete an Russlands abtreten würden, ist aber laut dem Forschungszentrum im Jahresverlauf von fünf auf neun Prozent leicht gestiegen.
Mychajlo findet, dass nur die Mitgliedschaft in der Nato eine Garantie für Sicherheit wäre
Auch Anton Hruschtschezkyj vom KIIS bestätigt, dass mehr als die Hälfte der Ukrainerinnen und Ukrainer um des Friedens willen bereit sind, eine Befreiung der Gebiete zu vertagen, jedoch nur im Tausch für wirksame Sicherheitsgarantien.
"Sie wollen kein zweites Budapester Memorandum", sagt der Experte. Mit diesem hatten im Jahr 1994 Russland, die USA und Großbritannien der Ukraine zugesichert, ihre Souveränität und territoriale Integrität zu achten - und Kyjiw erklärte sich in Verbindung mit einem Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag zur Beseitigung aller ehemals sowjetischen Atomwaffen auf ukrainischem Territorium bereit.
Laut einer Studie von Info Sapiens lehnen 64 Prozent der Ukrainer Gespräche mit Moskau ohne echte westliche Sicherheitsgarantien ab.
Mychajlo, ein Bürger, den die Deutsche Welle auf dem Unabhängigkeitsplatz trifft, findet, dass eine Mitgliedschaft in der Nato, selbst wenn Kiew dafür einige Gebiete aufgeben würde, die einzige Garantie wäre, nicht erneut angegriffen zu werden.
"Wenn wir aber überredet werden, den Konflikt einzufrieren, und wir nicht in die Nato kommen, dann wird sich das nicht von jenem Papier unterscheiden, das wir in Budapest unterschrieben haben", sagt der Ukrainer.
Drei Optionen sind für die Ukrainer denkbar
Serhij Solodkyj von der Kiewer Denkfabrik New Europe Center sieht in der Ukraine zwei Tendenzen und drei Optionen: entweder auf eigene Kräfte oder auf eine kollektive Verteidigung zu setzen.
Ihm zufolge betrachten rund 31 Prozent der ukrainischen Bevölkerung eigene Atomwaffen als beste Sicherheitsgarantie, gefolgt von der Idee einer "schrittweisen Integration" in die Nato. Dies wird von rund 29 Prozent befürwortet. Demnach soll eine Einladung in die Allianz für den gesamten ukrainischen Staat in seinen international anerkannten Grenzen erfolgen, doch der Artikel der kollektiven Verteidigung würde vorerst - bis zur Befreiung der besetzten Gebiete - nur für das von Kiew kontrollierte Territorium gelten.
Die drittbeliebteste Option ist mit etwa elf Prozent ein Verteidigungsbündnis mit den USA mit der Möglichkeit der Entsendung von US-Truppen. Friedenstruppen der Vereinten Nationen halten 8,9 Prozent für die beste Sicherheitsgarantie und Truppen aus europäischen Ländern nur 6,4 Prozent.
"Die wichtigste Aufgabe ist daher, den Schlüssel zu Trump zu finden"
Der Politologe Wolodymyr Fesenko glaubt, dass sich mit Donald Trumps Amtsantritt für Kiew viel ändern wird. Während die bisherige US-Administration unter dem Demokraten Joe Biden immer betont habe, Kiew müsse den Zeitpunkt für Verhandlungen selbst bestimmen, sei Trump fest zu ihnen entschlossen.
Doch er habe keine klare Strategie für einen nachhaltigen Frieden, bemängelt Fesenko und betont: "Die wichtigste Aufgabe ist daher, den Schlüssel zu Trump zu finden, um aus einer Position der Stärke in Verhandlungen einsteigen zu können."
Trotz widersprüchlicher Aussagen Trumps, was den Krieg in der Ukraine angeht, genießt er laut Info Sapiens in der Ukraine mit fast 45 Prozent das größte Vertrauen in Europa. Das New Europe Center führt dies auf die Erwartung zurück, Trump werde eine entschiedene Ukraine-Politik betreiben und für Frieden sorgen.
"Ich wünsche mir, dass er alles schnell und zu unseren Gunsten erledigt, aber wir werden sehen", sagt Veronika aus Kiew der Deutschen Welle.
Der Rentner Oleksij meint, Trump sei zwar unberechenbar, aber der Ukraine werde es trotzdem gelingen, mit ihm zusammenzuarbeiten. "Sollte Russland zu keinen Vereinbarungen bereit sein, dann wird Trump keine andere Wahl bleiben, als der Ukraine zu helfen", glaubt er.
Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk
Von Anastasia Shepeleva