Gastbeitrag von Aret Demirci - Imamoğlu verhaftet – Türkei in Aufruhr: Wer wird sein Nachfolger?
„Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei.“ Es wird allgemein angenommen, dass kein Geringerer als der türkische Präsident Erdogan diesen Satz irgendwann in seiner langen und erfolgreichen politischen Karriere geprägt haben soll. Ungeachtet dessen ob dies der Wahrheit entsprecht oder nicht, ist diese Binsenweisheit in diesen Tagen in aller Munde – denn sein schärfster Konkurrent, der Istanbul gleich zwei Mal gewonnen hat, wurde am Mittwoch verhaftet. Ist das der Grund für die Verhaftung von Ekrem Imamoğlu?
Erst die Annullierung des Diploms, dann die Verhaftung
Dem Oberbürgermeister der türkischen Metropole, der seit 2019 die Stadt regiert, werden Korruption und Unterstützung des Terrorismus vorgeworfen. In einer breit angelegten Polizeiaktion wurden er und fast hundert weitere Weggefährten – darunter Mitarbeiter der Stadtverwaltung, Berater, Journalisten und sogar Künstler – festgenommen. Die Annullierung seines Hochschulabschlusses durch die Istanbuler Universität am Vorabend ließ bereits ahnen, dass etwas Größeres bevorstehen könnte. Keine zwölf Stunden später folgte dann die Razzia in seinem Amtssitz und schließlich die Verhaftung. Sollte Imamoğlu tatsächlich angeklagt und verurteilt werden, drohen ihm womöglich mehrere Jahre Haft. Wäre das das Ende seiner politischen Karriere?
Der 19. März 2025 wird zweifellos seinen Platz in der an politischen Disruptionen nicht armen Geschichte der Türkei einnehmen. Nach der Verhaftung Imamoğlus und fast hundert weiterer Vertrauter in den frühen Morgenstunden wurden zentrale U-Bahn-Stationen geschlossen, Straßen gesperrt, das Internet verlangsamt und ein mehrtägiges Demonstrations- und Versammlungsverbot verhängt.
Aret Demirci ist Politikwissenschaftler und derzeit Leiter der liberalen Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Istanbul. Davor war er Leiter des Büros in Beirut und stellvertretender Leiter in Sofia. Er hat Regionalwissenschaften Lateinamerika an der Universität zu Köln und der Universidad Cátolica Argentina in Buenos Aires studiert. Neben seiner Muttersprache Deutsch spricht er Türkisch, Englisch und Spanisch. In seiner Funktion als Büroleiter in der Türkei versucht er in Zusammenarbeit mit lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen liberale Werte in der Türkei zu stärken.
Menschen gehen trotz Verbot auf die Straße
Doch viele Menschen, vor allem die jungen, lassen sich nicht einschüchtern. Sie umgehen die Zensur mithilfe von VPNs, versammeln sich trotz des Verbots auf den zentralen Plätzen der Stadt und zeigen so ihre Solidarität mit dem inhaftierten Imamoğlu. Seine Partei, die säkular-nationalistische CHP, ruft die Bürger zu einer täglichen "Demokratiewache" vor dem Rathaus auf. Tausende folgen dem Aufruf. Auch an mehreren Universitäten des Landes gibt es organisierte oder spontane Kundgebungen von Studierenden, die jedoch von der Polizei mit Tränengas niedergeschlagen werden.
Noch immer prangen auf den Werbetafeln der Stadt Bilder von Imamoğlu mit dem Aufruf seiner CHP zu den allabendlichen Demokratiewachen. Doch das könnte bald vorbei sein: Sollte Imamoğlu wegen Terrorunterstützung verurteilt werden, würde er offiziell als Oberbürgermeister abgesetzt und die Stadtverwaltung unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt – ein Schicksal, das bereits zahlreiche andere türkische Städte ereilt hat.
Seit November vergangenen Jahres, nur wenige Monate nach den Kommunalwahlen, in denen die CHP zur stärksten Partei vor Erdogans AKP wurde, geht die Justiz gezielt gegen oppositionelle Kommunalverwaltungen vor. Bereits mehrere Bürgermeister, darunter auch von Großstädten, wurden abgesetzt, teils inhaftiert und durch regierungstreue Verwalter ersetzt. Droht nun auch Istanbul, der 16-Millionen-Metropole, dieses Schicksal?
Wie sieht die Reaktion der Opposition aus?
Gegen Imamoğlu wurden bereits mehrfach Anklagen erhoben, doch seit dem 19. März wiegt der Vorwurf schwer, dass die Annullierung seines Uni-Diploms sowie seine Verhaftung politisch motiviert seien. Dies lässt sich natürlich schwer beweisen oder widerlegen, doch der Zeitpunkt ist mehr als auffällig: Am Sonntag, dem 23. März, sollte Imamoğlu bei einer Vorwahl als offizieller Präsidentschaftskandidat der CHP nominiert werden. Wird hier der stärkste Konkurrent Erdogans mithilfe der Justiz aus dem Weg geräumt?
Seit Wochen tourte Imamoğlu durchs Land und bereitete sich auf die Vorwahlen vor. Schon während seiner gesamten Amtszeit war er kein typischer Bürgermeister, sondern vielmehr eine politische Figur mit nationalem Einfluss. Dass er 2019 fast das Unmögliche schaffte, indem er Istanbul eroberte, machte ihn zum zweitpopulärsten Politiker des Landes. Istanbul, eine Stadt, die seit 1994 von islamisch-konservativen Bürgermeistern regiert worden war, hatte damit einen politischen Wandel erlebt – und genau dort hatte auch Erdogans Karriere begonnen, als er 1994 zum Bürgermeister gewählt worden war. Ist es gerade diese Parallele im politischen Werdegang, die Imamoğlu so gefährlich macht?
Die CHP hat angekündigt, die Vorwahl am Sonntag trotz aller Widrigkeiten abzuhalten und Imamoğlu zu nominieren. Doch welche Optionen bleiben ihr, falls die Annullierung seines Hochschulabschlusses juristisch bestätigt wird? Oder noch gravierender: Falls er verurteilt und inhaftiert wird?
Es wird spekuliert, dass Mansur Yavaş, der Bürgermeister von Ankara, einspringen könnte. Doch Yavaş hat eine nationalistische Vergangenheit, was Befürchtungen weckt, dass er bei den Präsidentschaftswahlen nicht genügend kurdische Stimmen gewinnen könnte. Zudem ist keineswegs sicher, dass er überhaupt antreten darf – wer kann heute ausschließen, dass auch er mit juristischen Vorwürfen aus dem Rennen ausgeschlossen wird? Eine regierungsnahe Zeitung titelte bereits: „Jetzt ist Mansur an der Reihe.“
Wie wird das Volk darauf antworten?
Entgegen einer in Deutschland weit verbreiteten Annahme sind türkische Wähler politisch nicht dogmatisch oder ideologisch festgelegt. Vielmehr sind sie für ihren Pragmatismus und ihre ausgeprägte Empathie gegenüber politisch unfair behandelten Personen bekannt. Anders ließe sich Erdogans eigene Erfolgsgeschichte kaum erklären. In den Anfangsjahren seiner Karriere wurde er immer wieder von kemalistischen Eliten, Justiz und Militär bekämpft. Dank der Mehrheit der Bürger, die eine Aversion gegen unfaire Machenschaften haben und die seine erfolgreiche Wirtschafts- und Sozialpolitik unterstützten, konnte er trotz aller Widerstände aus dem militärisch-bürokratischen Establishment dennoch aufsteigen und das Land mehr als zwanzig Jahre regieren.
Ein ähnlicher Mechanismus war bereits 2019 zu beobachten: Nachdem Imamoğlu die Wahl mit nur 13.000 Stimmen Vorsprung gewonnen hatte, wurde sie seitens der Wahlkommission aus fadenscheinigen Gründen annulliert – bei der Neuwahl stieg sein Vorsprung auf mehr als 800.000 Stimmen an, eine historische Niederlage für die AKP, die bis dahin Istanbul regiert hatte.
Es bleibt abzuwarten, in welche Richtung sich die Türkei entwickelt. Doch Erdogan, der sein Volk wie kein anderer versteht, müsste es am besten wissen: Die Menschen tolerieren keine unfaire Behandlung politischer Gegner – und zeigen ihren Unmut spätestens bei der nächsten Wahl.
Dieser Content stammt aus unserem EXPERTS Circle. Unsere Experts verfügen über hohes Fachwissen in ihrem Bereich. Sie sind nicht Teil der Redaktion.