"Kein Befund und trotzdem krank" – das steckt hinter funktionellen neurologischen Störungen

Für Betroffene ist es eine andauernde Zermürbung: Sie klagen über Schwindel, haben Gangstörungen oder zittern – doch die Ärzte sind ratlos und finden für die Symptome keine körperliche Ursache, weder in bildgebenden Verfahren wie Computertomografien noch technischen Messungen. 

"Kein Befund und trotzdem krank", bezeichnet Frank Erbguth, Professor für Neurologie und Präsident der Deutschen Hirnstiftung, in einer Mitteilung diese Situation.

Doch woran leiden die Betroffenen tatsächlich? Häufig stecken funktionelle neurologische Störungen dahinter. Hierbei kommt es zu einer Fehlregulation der normalen Körperempfindungen und ihrer Verarbeitung im Gehirn.

Ähnlich wie beim Phantomschmerz, den Menschen in einem amputierten Körperteil fühlen, wird "bei den funktionellen Störungen […] auch dort etwas gespürt, wo eigentlich nichts ist, zumindest biologisch-organisch betrachtet", sagt der Präsident der Hirnstiftung.

Mindestens 80.000 Deutsche von funktionellen neurologischen Störungen betroffen 

Die Symptome treten in verschiedenen Organen auf, die vom Herzen bis zum Magen-Darm-System reichen können – ohne dass eine organische Ursache vorliegt. Sie können sowohl leicht und vorübergehend als auch schmerzhaft sowie langanhaltend sein.

Die Störungen können die Wahrnehmung betreffen und Beschwerden wie 

  • Sensibilitätsstörungen,
  • Schwindel
  • und Schmerzen

hervorrufen. 

Doch auch motorische Probleme wie 

  • Gangstörungen,
  • Zittern,
  • Lähmungen,
  • dissoziative Anfälle (Zucken in einzelnen/mehreren Körperbereichen, eingeschränktes Bewusstsein)
  • und Tremor

sind möglich.

Wie viele Menschen hierzulande an funktionellen neurologischen Störungen leiden, kann nur geschätzt werden. Das liegt unter anderem daran, dass die Zahl der Betroffenen nur an einem untersuchten Kollektiv mit verlässlich gestellter Diagnose identifiziert werden kann, erklärt Erbguth auf Anfrage von FOCUS online. In neurologischen Praxen und Kliniken machen die funktionellen neurologischen Störungen rund fünf bis zehn Prozent aller Fälle aus.

Hinzu kommt, dass sich die Terminologie für die Störungen verändert hat. Dadurch können Verzerrungen auftreten. "Aus diesen Gründen gibt es keine definitiven, qualitativ hochwertigen Studien über die Häufigkeit von FND (funktionellen neurologischen Störungen) in der Allgemeinbevölkerung", sagt Erbguth.

Konservativen Schätzungen zufolge gebe es mindestens 16.000 Neuerkrankungen pro Jahr in Deutschland. Die Prävalenz, also Anzahl der Fälle in einem ausgewählten Teil der Bevölkerung, liegt, unter Berücksichtigung der methodischen Einschränkungen, bei rund 80.000 Betroffenen in Deutschland.

"Betroffene sind oft auf einem schwierigen Weg, weil die Untersuchungen immer nur ergeben, dass nichts gefunden wird", sagt der Neurologe in der Pressemitteilung. Häufig fühlen sich die Patienten alleingelassen und nicht ernst genommen. 

Krisen und Belastungen durch Krankheiten können Störungen begünstigen

Ein Faktor, der funktionelle Störungen begünstigen kann, ist starker Stress. Insbesondere Krisen, Belastungen durch Krankheiten und Lebensereignisse, auch in der Kindheit, können dazu führen, dass der Körper diese Programmstörung produziert, erklärt Erbguth.

Um diese zu behandeln, begeben sich Betroffene am besten zunächst zum Hausarzt, der dann eine Überweisung zum Neurologen ausstellt. Im ersten Schritt hat der Ausschluss von körperlich-biologischen Ursachen Vorrang. Das Stellen der Diagnose "funktionelle neurologische Störung" allein kann den nach Antworten suchenden Patienten anfangs helfen.

Dann kommen psychotherapeutische Möglichkeiten, Physio- oder kognitive Verhaltenstherapien sowie körperbezogene Therapien in Betracht – mit dem Ziel, "das Zusammenwirken der Körpersignale wiederherzustellen", sagt Erbguth.

Frühe Diagnose und Behandlung entscheidend

Im Idealfall kann die Behandlung die Störungen beheben. Die Voraussetzung dafür ist allerdings eine frühe Diagnose und Behandlung. Werden sie erst später therapiert, sind die Aussichten schlechter: "Zwischen 50 und 70 Prozent der Störungen verlaufen leider chronisch", sagt der Präsident der Hirnstiftung. 

Das ist zum Beispiel bei dissoziativen Anfällen zu beobachten, die in ihrer Symptomatik körperlich begründeten epileptischen Anfällen ähneln, jedoch eine schlechtere Prognose als diese haben. 

Der Neurologe sagt: "Das wirft schon ein Licht darauf, dass es durchaus komplizierte Erkrankungen sind, die eine große Empathie der Behandler erfordern – aber doch die Chance haben, sich gut zu bessern und letztlich auch geheilt zu werden."