„Zaun allein keine Lösung“: Frontex-Chef sieht Schwächen im neuen europäischen Asylsystem

Die Koalitionspartner einigen sich auf den Umgang mit Migranten; gewichtige Entscheidungen fallen aber an Europas Außengrenzen; der Frust ist groß.
Brüssel – „Es ist offensichtlich, dass das europäische Migrationssystem Mängel aufweist. Wir müssen besser werden“, sagt Hans Leijtens, Gegenüber dem Nachrichtenmagazin Spiegel äußerte sich der Chef der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex dazu, welche Schwachstellen ihm im neuen europäischen Asylsystem auffallen und wie der Druck auf die Europäische Union steigt – die „Festung Europa“ bleibt immer ein strittiges Thema – vor allem unter dem wahrscheinlich neuen Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU).
„Alles, was dazugehört, auch Zäune. Ich weiß, was das für Emotionen auslöst in gewissen Kreisen. Aber alles, was die Grenzschutzfähigkeit verbessern kann, sollten wir tun. Auch die Fähigkeiten von Frontex verbessern“ – Bijan Djir-Sarai hatte in seiner Zeit als Generalsekretär den rigiden Kurs der Freien Demokraten nach außen vertreten, als er sich beispielsweise gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (F.A.Z.) für eine Abschottung der EU-Außengrenzen ausgesprochen hatte. Das war vor ungefähr zwei Jahren. Hans Leijtens hat jetzt im Spiegel einen anderen Kurs proklamiert.
Frontex-Chef zur Debatte um Migration: „Ein Zaun allein ist noch keine Lösung“,
„Ein Zaun allein ist noch keine Lösung“, diktiert er den Autoren Matthias Gebauer und Steffen Lüdke. Der gebürtige Niederländer bezweifelt, dass sich Zuflucht suchende Menschen von Hindernissen dauerhaft aufhalten lassen; er geht vielmehr davon aus, dass diese Hindernisse lediglich Zeit brächten. Zeit, um eine hilfreiche Lösung zu finden – wobei er offen lässt, für wen diese Zeit hilfreich wäre: Für Migranten, die zumindest noch nicht wieder zurück geschickt würden oder Zeit für Entscheider, um die für sich beste Lösung zu erarbeiten.
„Da steht man in der Frühschicht an der Grenze und der fünfzigste Nordafrikaner, ohne erkennbare Notsituation, im Alter irgendwo zwischen 13 und 30 steht grinsend vor einem und sagt: ,Wir haben gehört, ihr macht die Grenze bald dicht. Wir wollen noch schnell rein, weil es hier besser ist als in den europäischen Ländern, in denen wir schon waren.‘“
„Zusätzlich braucht es aber ein funktionierendes Überwachungssystem und Grenzschützer, die schnell intervenieren“, sagt Leijtens gegenüber dem Spiegel. Als Grenzpolizei schützt die Bundespolizei 3.831 Kilometer Landgrenze und 888 Kilometer Seegrenze, wie das Bundesministerium des Innern und für Heimat aufführt. Zu deren Schutz verfügt sie über 45.000 Polizeivollzugskräfte. Zum Teil sind diese im Rahmen von Frontex-Aufgaben auch im Ausland eingesetzt. Einer davon war Jan Solwyn, der in seinem gerade veröffentlichten Buch „An der Grenze“ weniger die fehlenden Zäune kritisiert, als eine verfehlte Asylpolitik beziehungsweise genauer die verfehlte Asylpolitik im gesamteuropäischen Rahmen.
Die Schwierigkeit mit diesem Punkt thematisiert aktuell Max Kolter. Der Redakteur der Legal Tribune Online (LTO) sieht im Sondierungspapier der Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD einen „scheinbaren Konsens“ dadurch, dass sich „beide Parteien für die wohl europarechtwidrige Zurückweisung von Geflüchteten an deutschen Grenzen“ aussprächen, wenn dies „in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn“ geschähe, wie er schreibt.
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Deutschland dreht um: Aus dem „Amtsermittlungsgrundsatz“ muss der „Beibringungsgrundsatz“ werden
Ihm zufolge plane die Bundesregierung auch die Umkehr des Asylverfahrens, wie er aus dem Sondierungspapier herausliest: Dort stehe, „aus dem ‚Amtsermittlungsgrundsatz‘ muss im Asylrecht der ‚Beibringungsgrundsatz‘ werden“; das hieße, nach Kolters Darlegung, dem Asylsuchenden würde „aufgebürdet“ werden, alle seinen Asylantrag begründenden Tatsachen darlegen zu müssen.
Bisher konnten sich Asylsuchende darauf stützen, dass deutsche beziehungsweise europäische Behörden selbst alle Tatsachen zu prüfen hatten – sie wären „verpflichtet, von Amts wegen alle Informationen zu berücksichtigen, die für das Verfahren relevant sind“, sagt Kolter. Jan Solwyn scheint am bisherigen Asylverfahren verzweifelt zu sein, wie ihn der Stern aktuell zitiert: „Da steht man in der Frühschicht an der Grenze und der 50. Nordafrikaner, ohne erkennbare Notsituation, im Alter irgendwo zwischen 13 und 30 steht grinsend vor einem und sagt: ‚Wir haben gehört, ihr macht die Grenze bald dicht. Wir wollen noch schnell rein, weil es hier besser ist als in den europäischen Ländern, in denen wir schon waren.‘“
„Machen Sie Ihren Job nicht richtig?“, fragen deshalb Gebauer und Lüdke den Chef einer Behörde, die dafür zuständig ist, dass irreguläre Migration gar kein Thema sein sollte; die aber im Gegenteil in der Vergangenheit skandalisiert worden ist, weil sie selbst zu irregulären Rückführungen gegriffen hat – den sogenannten „Pushbacks“. Besonders an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei sorgen skandalöse Aufnahmen für einen Schock: Griechische Truppen schossen in der Ägäis auf die Schlauchboote von Migranten, setzten Gewalt gegen sie ein. Und Frontex soll dem ein Auge zugedrückt haben.
Leijtens erinnert als Antwort an die ehemalige Grenze zwischen beiden deutschen Staaten und den Schießbefehl, der einige Wenige auch nicht an der Flucht aus der Deutschen Demokratischen Republik gehindert hätte.
Europas Herausforderung: Frontex“-Chef beklagt die Durchlässigkeit des europäischen Asylsystems
Es eine Fiktion, dass man jeden irregulären Migranten an der Grenze erkennen und festhalten könne, so Leijtens. Eine Erfahrung, die Jan Solwyn teilt, wie er gegenüber dem Tagesspiegel geäußert hat – eine verheerende Kritik an der abgewählten Ampel-Regierung. Ihm zufolge hätte deren Politik „keine nachhaltigen Auswirkungen auf die irreguläre Migration“ gehabt, wie er sagt – was auch unmöglich gewesen wäre, weil die gesamteuropäischen Faktoren die gleichen geblieben seien. „Wie sonst ist es zu erklären, dass weiterhin jedes Jahr die Zahl der unerlaubt eingereisten Personen der Bevölkerung einer deutschen Großstadt entspricht?“, sagt Solwyn.
Auch Frontex-Chef Leitjens beklagt die offensichtliche Durchlässigkeit des europäischen Asylsystems in den Ländern an den EU-Außengrenzen – dass dort Migranten bewusst durchgewunken würden, wie die Spiegel-Redakteure formulieren. „Nun ja, die Zahlen legen das zumindest nahe. Sonst würden nicht so viele Menschen in Hamburg oder Hannover zum ersten Mal im System auftauchen. Es ist offensichtlich, dass das europäische Migrationssystem Mängel aufweist.“
Mängel, die keine sind, wie Volker M. Heins und Frank Wolff argumentieren. Den Autoren der Blätter für deutsche und internationale Politik zufolge seien „sichere Außengrenzen eine „gefährliche politische Fantasie“. Sicher würden diese Grenzen nur durch Gewalt und Zwang; diese bedrohten dann auch diejenigen, die sie schließlich schützen sollten: Durch abgeschottete Grenzen würde eben auch die Freiheit zu Schaden kommen – die Freiheit aller, die sich vor falschen Gefahren in Sicherheit brächten; „und damit letztlich vor allem eines aufs Spiel setzten: die offene Gesellschaft und damit die Prinzipien der liberalen Demokratie“ so Heins und Wolff.
Praktiker fordert von CDU und SPD: Eine konsequente Durchsetzung bestehender Gesetze
Zu diesen Gefährdern zählte der Spiegel vor rund drei Jahren auch Frontex – eben diejenige Organisation, die zur Durchsetzung des Rechts eingesetzt war und dieses mit unrechtmäßigen Mitteln durchgesetzt hatte. Wie das Nachrichtenmagazin mit anderen Medienpartner nachgewiesen hat, hätten Frontex-Einheiten in der Ägäis Flüchtlingsboote gestoppt und übergeben an die griechische Küstenwache, die die Flüchtlinge wieder dem Meer ausgeliefert haben sollen.
Leijtens wolle für ein neues Frontex-Verhalten stehen, hat er dem Spiegel gesagt – und sieht dennoch die kommenden Aufgaben genauso heikel, daran würde eine europaweite Umstrukturierung der Asylverfahren wohl keinen Deut ändern, vermutet er: Menschen mit geringer Bleibe-Perspektive sollen in Zentren ein schnelles Verfahren durchlaufen. Ohne gesicherte Grenzkontrollen würde das aber scheitern, vermutet er – diejenigen ohne Chance auf Anerkennung würden irgendwann die Zentren umgehen. Seiner Meinung nach sei das der Punkt, an dem die Europäische Union nachbessern müsse um Schlepper auszubremsen.
Für Jan Solwyn müsste Migrationspolitik einen noch deutlich stärkeren Praxisbezug haben, wie er gegenüber dem Tagesspiegel klar gestellt hat: „Erstens: eine konsequente Durchsetzung bestehender Gesetze, insbesondere bei Abschiebungen. Zweitens: eine ehrliche Debatte darüber, wen wir als Gesellschaft aufnehmen können und wollen. Und drittens: eine klare Differenzierung zwischen Menschen, die im Rahmen eines geordneten Einwanderungssystems einreisen, echten Flüchtlingen und Menschen ohne Bleiberecht.“