Schlechte Moral und Todesangst: Soldaten desertieren aus Russland-Armee
Russlands Armee kämpft mit allen Mitteln gegen Desertionen. Trotzdem steigt die Zahl der Deserteure. Geflohene Ex-Soldaten berichten.
Cherson – Die russische Armee hat mit hohen Verlusten und einer harten Behandlung ihrer Soldaten zu kämpfen. Insbesondere in der 20. Motorisierten Garde-Schützen-Division kommt es häufig zu Desertionen. Seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine haben über 1.000 Soldaten diese Division ohne Erlaubnis verlassen. Allerdings gelingt nur wenigen der endgültige Ausstieg.
Am Dienstag, dem 19. November, berichtete die russische Investigativ-Nachrichtenseite iStories über die Zahlen vom April 2024. Diese Informationen stammen aus einem Brief der Division an russische Regionalbeamte, in dem die Verfolgung der Deserteure, auch bekannt als „Sochniks“, gefordert wurde. Die Mehrheit der 1.009 Deserteure waren 858 Vertragssoldaten, darunter auch 26 Unteroffiziere, ein Major und zwei Oberstleutnants. Zusätzlich sind auch 150 Mobilisierte und zwei Wehrpflichtige desertiert. Einige der Fälle konnte iStories durch Bundesdatenbanken oder Gerichtsverfahren bestätigen, viele Deserteure werden allerdings auch oft nur in spezifischen Städten gesucht.
Soldat berichtet von Lage seines Russland-Regiments an der Front im Ukraine-Krieg
Ein Soldat mit dem Decknamen Mikhail, der in dem Bericht zitiert wird, gibt Einblicke in die Situation der 20. Division. Er trat im Jahr 2017 im Alter von 28 Jahren der Division bei und war überzeugt, dass der Bataillonskommandeur, der für die Einsatzverteilung zuständig war, ihn aus persönlichen Gründen dorthin versetzt hatte. Mikhail stellte nach einigen Monaten in der Division Anträge auf Entlassung, die jedoch ignoriert wurden. Er berichtete, dass die Division in der russischen Armee den schlechtesten Ruf hätte.
Zum Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine berichtete Mikhail von einer unklaren Kommunikation bezüglich der Verlegung der Division in den Oblast Cherson. Das 255. Regiment der 20. Division verlor im ersten Monat des Ukraine-Kriegs ein Drittel seiner Soldaten: 15 starben, 91 wurden verletzt und 151 desertierten. Hinzu kamen gravierende strategische Fehler der Division.
Ihre Basis am Flughafen Cherson war ein beliebtes Ziel der ukrainischen Armee, doch die Division blieb bei diesem Standort. Bei einem der Angriffe starb die damalige Führungsetage und der nachfolgende Kommandeur war laut Mikhail noch schlimmer als der vorherige. Unter seiner Führung litt auch die Zivilbevölkerung vermehrt, zum Beispiel weil humanitäre Hilfsgüter laut Berichten einbehalten wurden, statt sie zu verteilen. Die Fehler hätten auch die Moral der Truppen geschwächt.
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Drohungen für Verweigerer in Russlands Armee – dennoch viele Deserteure im Krieg mit der Ukraine
Wer sich weigerte zu kämpfen, musste mit Drohungen rechnen. Mikhail berichtete von Warnungen an mögliche Verweigerer im 255. Regiment, sie in einem improvisierten Untergrund-Gefängnis einzusperren. Ein Soldat des 33. Regiments der 20. Division, der in dem Bericht Sergej genannt wurde, sprach von Überredungsversuchen bei Verweigerern: „Sie sagen, die Mobilisierung kommt, ihr werdet sowieso wieder mobilisiert, also bleibt und verdient Geld.“ Sergej, vorher Vertragssoldat, wurde daraufhin als Wehrpflichtiger wieder eingesetzt.
Trotz aller Drohungen ist die Zahl der Deserteure in der russischen Armee hoch und steigt weiter an. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs sind 11.700 Fälle des unerlaubten Verlassens der Armee vor Garnisonsgerichten gelandet. Laut Ivan Schuwiljaew von der Organisation „Get Lost“, die bei der Flucht von der Frontlinie hilft, seien Gerichtsprozesse nur zum Teil repräsentativ und müssten mit den geheimgehaltenen Statistiken der Militärstaatsanwaltschaft abgeglichen werden. Seit März 2023 stieg die Zahl der Fälle jedoch rasant an. Im Juli 2024 gab es laut iStories jeden Werktag 40 neue Kriminalfälle – ein bisheriger Höhepunkt. Die Häufigkeit sank zwar danach wieder, ist jedoch nach wie vor deutlich höher als zu Beginn des Ukraine-Kriegs.
Viele Deserteure landen wieder an der Front: Trauma, Kriminalität und Gefängnis
Laut Statistiken, die Mediazona vorlagen, endet ein großer Teil der Kriminalprozesse in einer Bewährungsstrafe. Laut Schuwiljaew habe dies einen einfachen Grund: „Sie wollen, dass eine Person einfach an die Front zurückkehrt. Deshalb schüchtern sie ein, dass jeder erwischt wird, jeder wird eingesperrt, bestraft, die Hinrichtung wird unter diesem Artikel eingeführt.“ Weitere Faktoren erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass die Soldaten nur vorübergehend von der Front fliehen.
„Sie wollen nicht töten und nicht getötet werden“, berichtete Schuwiljaew über die Motivation der Deserteure. „Aber sobald sie sicher sind, bleiben viele in einem alptraumhaften psychologischen Zustand“. Neben der oft entwickelten posttraumatischen Belastungsstörung kommt der zusätzliche Stress der erschwerten Emigration hinzu. Viele kehren nach einiger Zeit zur Armee zurück, weil das Adrenalin fehlt oder weil der Tod weiter weg erscheint als das Gefängnis.
Sergej, ein Soldat der 20. Division, steht auf der Liste der Deserteure. Er berichtete, dass er sich nach seiner Flucht ein Jahr in Russland versteckt und gehofft hatte, er könnte „untertauchen, bis entweder Putin weg ist oder der Krieg zu Ende ist“. Einige Zeit später floh er aus Russland und lebt nun im Ausland. Damit ist Sergej einer der wenigen Soldaten, die es langfristig geschafft haben, der russischen Armee zu entkommen. (lismah)