CSU-Vize Weber in Kiew: Staatsbesuch unter Raketenbeschuss
Ein Land ist erschöpft, und auch seine Unterstützer werden müde: In der Ukraine wächst die Angst, den Krieg zu verlieren, von Russland doch noch überrollt zu werden. Ein Besuch in Kiew – im Raketenhagel.
Kiew – Ein kleiner Schritt, und er ist mitten im Krieg. In der Sekunde, als der CSU-Europapolitiker Manfred Weber aus dem Nachtzug steigt, den Fuß auf den Bahnsteig Kiew setzt, heulen die Sirenen los. Luftalarm, die Stadt wird angegriffen. Russische Marschflugkörper. Weber, kleine Augen von einer rumpeligen Nacht auf der Pritsche im Zug, Zweierkabine, wird eilig vom Bahnhof eskortiert. Schnell Richtung Hotel, wo es Schutzkeller gibt.
Es ist kein Fehlalarm diesmal. Als der Politiker und seine Leute in Sicherheit sind, knallt es auf den Straßen. Die ukrainische Armee feuert Abwehrraketen. Ein Wohnhaus wird dennoch getroffen, mindestens eine Frau stirbt, ein Dutzend Verletzte, darunter ein Kind. Vom Hotel aus kann man den Einschlag, den Feuerball und die Rauchsäule sehen. Weber, ohnehin kein Polterer und Plärrer, ist sehr still in den folgenden Minuten. „Es ist ein Kriegsgebiet“, murmelt er. Und wer das vergesse, werde in solchen Momenten aufgerüttelt.
Vergessen? Den Krieg in Europa? Die russische Aggression? Ja, es schleicht sich gerade so etwas ein wie Gewöhnung im Westen des Kontinents, vielleicht auch Überdruss. Ein anderer Krieg, der im Gazastreifen, dominiert die Schlagzeilen. Wenn über die Ukrainer gesprochen wird, dann oft über Flüchtlinge und ihr Bürgergeld. Im angegriffenen Land wendet sich dabei aber wenig zum Besseren derzeit.

Patt-Situation im Ukraine-Krieg: In Kiew spricht man von „fragiler Stabilität“
Die Berichte von einer Art militärischen Patt-Situation häufen sich. Russland verliert, so schätzen Experten vor Ort, jeden Tag 400 bis 800 Soldaten, tot oder schwer verwundet. Die Zahl der neu Rekrutierten für die Front ist aber etwas höher. Die Rüstungsproduktion läuft hoch. Gleichzeitig geht der Ukraine die Munition vor allem für die Artillerie aus. Und das Geld. Und die Perspektive, denn wenn bei der US-Wahl heuer die Republikaner an die Macht kommen, fürchtet Kiew den Ausstieg des größten Unterstützers.
„Fragile Stabilität“ heißt das hier, ein totaler Unsinns-Begriff, aber einprägsam. Militärisch bedeutet das vorerst keine großen Gebietsverluste für die Ukraine, aber auch wenig Chancen, sich die besetzten fast 20 Prozent des eigenen Landes zurückzuholen. Und es zu räumen von russischen Minen, manchmal zehn Stück pro Quadratmeter. Die Lage auch im Landesinneren ist unsicherer. Ende Dezember tötete ein Hagel aus 120 Raketen 30 ukrainische Zivilisten. Also: hoher Blutzoll bei wenig Zuversicht auf Frieden. Fragen nach einem Kriegsende werden kurz beantwortet: „Wenn Putin aufhört, ist der Krieg zu Ende. Wenn wir aufhören, sind wir tot.“
Die Stimmung im Land ist schlechter geworden, während sich der zweite Jahrestag des russischen Überfalls anschleicht. Erfahrene Korrespondenten schildern, der Bevölkerung gehe langsam die Kraft aus. Die Einheit in der ukrainischen Politik ist zerbrochen, im Dezember griff Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko öffentlich seinen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an: Er werde „für seine Fehler zahlen“. Die heimische Presse, frei ist sie in Kriegszeiten nicht, schreibt nicht viel dazu, aber es sorgte für Aufsehen in aller Welt.
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Nein, es lässt sich nicht leugnen. In einem der wichtigeren Häuser der Regierung sitzt ein höchstrangiger Sicherheitsmann. Er möchte nicht namentlich zitiert werden, aber es ist eigentlich ein Koloss, ein Bär von einem Mann. „Es fällt mir nicht leicht, es zu sagen“, wendet er sich bedrückt an seine deutschen Besucher. „Aber wir hängen total vom Westen ab. Ohne euer Geld, eure Waffen, kommen wir nicht durch.“ So viele hier seien „erschöpft nach zwei Jahren Krieg – an der Front, auch hier in der Stadt“.
Blitzbesuch in Kiew: Weber besichtigt Trauerwand in der ukrainischen Hauptstadt
Webers Blitzbesuch in Kiew kommt also zu einem unschönen, aber wichtigen Zeitpunkt. Der Vorsitzende der konservativen EVP-Fraktion im EU-Parlament, der schon 2014 Sanktionen gegen Russland forderte, 2019 ebenso vergeblich ein Nord-Stream-Ende, muss sich kaum fehlende Ukraine-Solidarität vorhalten lassen. Seit Kriegsausbruch war er nun dreimal da, unter anderem im Kiewer Vorort Butscha, als die verstümmelten Leichen der dort getöteten Zivilisten gerade frisch beerdigt waren. Er wollte diesmal unmittelbar an die Front im Osten, ließ sich erst von dringendsten Warnungen der Ukrainer abhalten.
Nun steht er zumindest an der Trauerwand mit den Bildern der getöteten Soldaten in Kiew, die Meter um Meter länger wird. Weber steht lange stumm vor den Fotos der getöteten jungen Burschen. Er bekreuzigt sich. Es nimmt ihn mit. Aber der 51-Jährige weiß auch, dass das Interesse zu Hause lahmt.
„Das geht uns an“, sagt er auf seiner Reise und meint die Landsleute daheim. „Das ist unser Konflikt.“ Längst führe Putin hybrid Krieg gegen die EU, Desinformation in der Slowakei, gelenkte Flüchtlingsströme Richtung Finnland, Cyber-Attacken im Baltikum. Er werde nicht aufhören, nicht jetzt und mit Militärgewalt nicht hier an der ukrainischen Grenze.
Nächste Woche wird ein EU-Gipfel über ein neues Riesenpaket an Unterstützung für die Ukraine beraten, 50 Milliarden. Ausgang: ungewiss. Der Ungar Viktor Orbán kann das Paket stoppen, vielleicht müssen am Ende 26 der 27 Staaten zusammenfinden. Mehrere Gesprächspartner beschwören Weber, manche fast flehentlich, sich dafür einzusetzen. Er ist ja Chef der Christdemokraten in Europa, seine Parteienfamilie stellt zwölf Regierungschefs.
Wohl auch deshalb wird Weber von allen empfangen. Der Präsident hat Zeit, der Premierminister, Minister, Geheimdienstler, Firmenchefs. Für Selenskyj hat der CSU-Vize das Versprechen dabei, in Berlin für die Taurus-Lieferung zu werben, den deutschen Marschflugkörper, der russische Ziele treffen kann: „Das muss kommen.“ Selenskyj will weiter auf die Lieferungen drängen. Auch in München: Hinter den Kulissen wird diskret geplant, ob er und Olaf Scholz sich auf der Sicherheitskonferenz treffen können.

Neben Selenskyj trifft Weber auch den obersten Kirchenfürsten
Nach dem anderthalbstündigen Gespräch mit Selenskyj, bis zur letzten Minute hochgeheim gehalten, beschreibt Weber den Präsidenten als nachdenklich, besorgt. Der Ukrainer wiederholt seinen Zehn-Punkte-Plan, bekräftigt, dass ihm ernst ist mit Diplomatie – aber macht auch keine weitergehenden Vorschläge.
Als Weber sich dem festungsartig gesicherten, mit Sandsäcken vollgestopften Präsidentensitz nähert, gehen wieder die Alarme an, Sirenen heulen, Handys schrillen. Und erneut, als das Gespräch gerade beendet ist. Zufall, aber ein bitterer. Und das Gespräch mit dem Premierminister wird gleich ganz in den Bunker verlegt.
Irgendwie packt der Niederbayer in seinen dicht getakteten Dienstag im Krieg auch noch den obersten Kirchenfürsten. Metropolit Epiphanius I., Oberhaupt der nicht Putin-hörigen Orthodoxen in der Ukraine, sitzt im wunderschönen, blau-weißgoldenen St-Michaels-Kloster. Er ist einer derjenigen, die noch die meiste Zuversicht ausstrahlen, oder wenigstens Kampfgeist. „Diese Luftschläge sollen uns brechen“, sagt der Geistliche. „Aber wir sind unzerbrechlich.“ (Christian Deutschländer)