Hat auch Siemens ein China-Problem? „Für marktführende Unternehmen wird es schwierig“
Für den Münchener Mischkonzern Siemens ist der chinesische Markt unverzichtbar. Doch dort formieren sich einheimische Firmen – und drängen auch nach Europa.
München – Zuletzt zirkulierte ein Strategiepapier durch die politischen Zirkel der EU. Der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, gab darin einen Überblick zur Wettbewerbsfähigkeit der EU – und wie diese, speziell von China, derzeit auf der Kippe stände. So sei es früher der Standard gewesen, dass europäische Konzerne nur in China investieren durften, wenn sie ihr Know-how über Kooperationen dort mit heimischen Firmen teilen würden. Doch habe China diesen Status quo mittlerweile umgedreht, exportiere nun selbst massiv Autos, Solarzellen oder Windräder in die EU. Und unterliege seinerseits aber nicht dem Zwang, mit lokalen Unternehmen zusammenzuarbeiten.
Erst Volkswagen, nun Siemens? Der Münchener Konzern hat hohe China-Abhängigkeit
Dieses Dilemma musste neben Volkswagen längst auch ein weiteres Schwergewicht der deutschen Wirtschaft erleben: Siemens. Der Münchener Mischkonzern ist auf den Feldern der Automatisierung und Digitalisierung in der Industrie, Infrastruktur für Gebäude, dezentrale Energiesysteme, Mobilitätslösungen für den Schienen- und Straßenverkehr sowie Medizintechnik oft als Marktführer tätig – und sucht derzeit nach einer eigenen China-Strategie. Erst vor wenigen Wochen hatte sich ein chinesischer Hersteller einen Vorvertrag für einen milliardenschweren Auftrag zum Bau mehrerer Windkraftanlagen im Windpark Waterkant vor der Insel Borkum gesichert.

Siemens geht bei Großauftrag für deutschen Windpark leer aus – China dagegen nicht
Siemens bekam den Auftrag mit seiner Tochter Gamesa hingegen nicht. Der Deal stieß insofern bitter auf, weil Chinas Unternehmen bereits im Bereich der Solartechnik zur Monopolmacht aufgestiegen sind und die Preise diktieren. Experten wittern im Vorgehen Chinas einen unfairen Wettbewerb, da die Unternehmen aufgrund staatlicher Subventionen häufig deutlich günstigere Preise als europäische und vor allem deutsche Konzerne bieten können. Horst Hakelberg, der Gesamtbetriebsratsvorsitzende bei Siemens Gamesa, sieht allein in der Windindustrie rund 300.000 Jobs bedroht, sollte sich ein chinesischer Durchmarsch auch hier wiederholen.
Draghi: „Günstigste und effizienteste Weg“ zur Dekarbonisierung
Zudem dürfe man sich nicht der Möglichkeit berauben lassen, die Energiewende selbstständig umzusetzen, zitiert ihn die dpa. Auf der anderen Seite bietet China „den günstigsten und effizientesten Weg, um unsere Dekarbonisierungsziele zu erreichen“, erklärt auch Draghi in seinem Papier.
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Grundsätzlich ist das einst so erträgliche China-Geschäft von Siemens nicht mehr ganz so zuverlässig wie noch vor dem Boom der chinesischen Wirtschaft – obwohl ein Viertel des Spartengeschäfts in China erwirtschaftet wird. Speziell im Bereich Digital Industries reduzierte sich im ersten Halbjahr die Zahl der Neu-Aufträge um ein Fünftel auf 8,2 Milliarden Euro. Wenngleich sich die Situation im dritten Quartal mit 4,4 Milliarden Euro wieder stabilisierte. Das liegt vor allem an den vollen Lagerbeständen potenzieller Kunden, die sich während der Corona-Pandemie angesammelt hatten.
Siemens-Finanzvorstand wirbt um Geduld: „Wird in China bis Ende des Jahres dauern.“
Im Mai hatte Siemens-Finanzvorstand Ralf Thomas im Gespräch mit der FAZ noch um Geduld geworben: „Es wird in China bis Ende des Jahres dauern, bis sich die Bedingungen wieder normalisiert haben.“ Doch auch die fast schon deflationäre Wirtschaft in China hemmt derzeit das Bestands- sowie Neugeschäft von Siemens. Hinzu kommt eine schwere Immobilienkrise – alles zusammengenommen merkt der Konzern in innovativen Sparten wie Digital Infrastructures. Und ähnlich wie auf dem Feld der Erneuerbaren Energien ist China längst in der Lage, europäischem Know-how Konkurrenz zu machen. Ein Beispiel ist das Unternehmen Inovance aus Shenzhen, im Südosten Chinas, das Lösungen für industrielle Automatisierungen anbietet.
Inovance begegnet Siemens zunhemens auf Augenhöhe – und darüber hinaus?
In den vergangenen vierzehn Jahren ist das börsennotierte Unternehmen pro Jahr durchschnittlich um 50 Prozent gewachsen. Hinzu kommen günstige Konditionen bei Aufträgen sowie individuellere Lösungen für Produkte – was wiederum aus dem ersten Punkt resultiert. Ein Riese wie Siemens bietet zwar über Digital Industries digitale Transformationslösungen an und kann über seinen Xcelerator, eine Art Plattform im Metaverse, digitale Modellfabriken entwerfen. Und in der Branche haben die technisch hochversierten Anwendungen auch einen exzellenten Ruf. Doch sind die Lösungen von Unternehmen wie Inovance günstiger und vor allem flexibler, zudem noch enger am Kunden orientiert.
Siemens wird laut Experten Schwierigkeiten gegen chinesische Lokalmatadoren haben
Gerade in der industriellen Großproduktion kostet Flexibilität und Individualität im Umgang mit Kunden das große Geld. Inovance fährt sozusagen zweigleisig, bedient also die Nische und den Massenmarkt, lässt aber in beiden Feldern seine Ingenieure gerne mal tagelang zum Kunden reisen: Das mag kostspielig sein, aber für Inovance die Mühe wert. „Es wird auch für marktführende Unternehmen wie Siemens in China schwierig, ihren Marktanteil gegen gut geführte einheimische Unternehmen mit einer starken Kultur wie Inovance zu verteidigen“, erklärt dazu etwa Georg Stieler von der Unternehmensberatung STM in Shanghai gegenüber der WirtschaftsWoche.
Peter Körte übernimmt Bereiche Strategie und Technologie bei Siemens
Das läge auch daran, dass die Gründer der Unternehmen, wie etwa Zhu Xinming, in China als Helden gefeiert werden. Ansehen ist ein nicht zu unterschätzender Faktor in der Wirtschaftswelt von China – angeblich sollen sogar Siemens-Mitarbeitende Reden von Xinming besuchen. Diesen Trend soll ab heute, 1. Oktober, Peter Körte als neuer Leiter der Bereiche Strategie und Technologie bei Siemens umstoßen. Körtes konkreter Auftrag: Den Xcelerator noch wettbewerbsfähiger zu machen. Bis 2025 könnte die digitale Modellfabrik zweistellige Wachstumsraten abwerfen. Doch auch hier steht weniger die Qualität der Technik infrage. Diese kann mit Simulationen alle entscheidende Werte von neuen Fabriken oder einem digitalen Transformationsvorhaben voraussagen, etwa Energieverbrauch oder Auslastung messen. Doch zu welchem Preis? Und bekommt das die chinesische Konkurrenz nicht bald sowieso günstiger hin?
Hoffnung macht Siemens hingegen die unlängst angekündigten Zinssenkungen von Seiten der chinesischen Zentralbank. Sollte sich die dortige Wirtschaft in Folge der Maßnahmen langsam erholen, kurbelt das auch den Investitionswillen von ausländischen Firmen nach China an. Und diese vertrauen nach wie vor auf Siemens‘ Erfahrung und Qualitätsversprechen. So oder so – für Siemens besteht eine besondere Abhängigkeit von China.