Nächste Blamage? Ukraine ist wieder ein Grenzübertritt in Putins Reich gelungen
Kiew setzt jetzt wohl voll auf Sieg. Ein Video soll beweisen, dass Luftlande-Einheiten ein weiterer Durchbruch gelungen ist – wo genau, bleibt geheim.
Kiew – „Wir dürfen die nächsten Monate nicht durch Krieg verlieren, um die nächsten Jahrzehnte nicht zu verlieren“, hat Präsident Wolodymyr Selenskyj gesagt; er ist gerade in den USA, um mit Präsident Joe Biden seinen „Siegesplan“ gegen Wladimir Putins Invasionsarmee zu diskutieren. Gleichzeitig scheinen die Truppen der Ukraine weiteres Territorium Russlands unter ihre Kontrolle bringen zu wollen. Der Ort des Grenzübertritts ist geheim.
Einheiten der 95. separaten Polissia-Luftangriffsbrigade der ukrainischen Luftangriffsstreitkräfte hätten einen Abschnitt der russischen Grenze durchbrochen, schreibt die Ukrainska Prawda. Dies sei die zweite erfolgreiche Operation zum Übertritt in die Russische Föderation seit Beginn der Operation im Bezirk Kursk. Die Quelle der Information ist ein Video, das vom Kommunikationsbüro des ukrainischen Luftangriffskommandos veröffentlicht worden sein soll und auch auf youtube zu sehen ist.
Propaganda-Video: Drohnen-Aufnahme soll Coup gegen Putin beweisen
94 Sekunden zählt das Drohnen-Video, das als Beweis der Behauptungen für einen Schlag gegen Putin allerdings wenig taugt. Die Prawda schreibt, die Bilder zeigen „den Durchbruch technischer Barrieren, das Vordringen von Luftlandeeinheiten auf russisches Territorium und erste Zusammenstöße im Grenzgebiet, bei denen ukrainische Panzer einen russischen Stützpunkt angreifen“. Für geübte militärische Auswerter mag das zutreffen, für die Öffentlichkeit scheint das Video eher propagandistische Zwecke zu verfolgen. Der Einmarsch auf russisches Territorium verleihe dem Krieg eine neue Dynamik, hatte Nigel Gould-Davies Mitte August über das Einrücken der Ukraine in Kursk geschrieben.
„Russland sieht sich selbst als Großmacht. Aber Großmächte verlieren kein Territorium. Wenn man Territorium verliert, ist man keine Großmacht.“
„Beide Seiten treffen Entscheidungen, die mit hohen Risiken verbunden sind. Die Ukraine ist der Ansicht, sie könne einige ihrer besten Kräfte für diese Besetzung einsetzen, ohne russischen Truppen einen Durchbruch im Donbass zu erlauben. Russland ist der Ansicht, es könne den Einmarsch eindämmen, ohne bedeutende Kräfte von seiner Offensive abzuziehen“, hatte der Analyst des Thinkank International Institute for Strategic Studies (IISS) zusammengefasst.
Beides in Kombination müsse falsch sein, behauptet er. Und dennoch: Laut dem Video setzt die Ukraine die Taktik der Nadelstiche fort; offenbar sogar mit den fast besten Einheiten, die ihnen zur Verfügung stehen. Seit der ersten Woche der Invasion im Bezirk Kursk stehen dort Teile zweier starker und kampferprobter Luftangriffsbrigaden an der Front zur Unterstützung der zuerst eingesetzten 80. Brigade: die 82. und die 95. Luftangriffsbrigade. Letztere soll jetzt auch den aktuellen Grenzübertritt nach Russland geführt haben.
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Kursk als Affront: Selenskyj will Putin mit den Grenzübertritten unter Druck setzen
Offenbar ist Wolodymyr Selenskyj daran gelegen, den russischen Präsidenten persönlich unter Druck zu setzen. Die Ironie an dem ersten Einmarsch beziehungsweise jetzt auch an dem vermeintlich zweiten Grenzübertritt sei, dass Putin an die Macht gekommen war, nachdem er einen Krieg in Tschetschenien begonnen hatte, um die Souveränität über russisches Territorium wiederherzustellen, wie Gould-Davies behauptet: „Nachdem er die Wiederherstellung eines starken Staates zum Schlagwort seiner Präsidentschaft gemacht hat, regiert er nun ein Land, das erneut die Kontrolle über sein Territorium verloren hat.“
Möglicherweise könnte das sogar schon der dritte Versuch der Ukraine sein, Russlands Grenze zu perforieren. Ende August hatte die britische Times berichtet, dass die Ukraine nahe Belgorod einen Grenzdurchbruch gewagt hatte. Der Telegram-Kanal Mash hätte demnach berichtet, etwa 200 ukrainische Soldaten und Schützenpanzer hätten den Grenzübergang bei Nekhoteevka angegriffen. Das Video über den jetzt offensichtlich erfolgten Durchbruch sah dagegen eher nach einem Kommando-Unternehmen aus.
Bilder für die Welt: Selenskyj demonstriert mit seinen Offensiven Entschlossenheit
Immerhin signalisiert das Video eines: Entschlossenheit. Die hatte der ukrainische Präsident Wolodoymyr Selenskyj bereits Anfang August nochmals demonstriert, als seine Einheiten über die Grenze zu Russland gerollt waren: „Jetzt müssen wir alle mit der gleichen Einheit und Effektivität handeln, die wir in den ersten Wochen und Monaten dieses Krieges gezeigt haben – als die Ukraine die Initiative ergriff und begann, das Blatt zu unseren Gunsten zu wenden. Wir haben es wieder getan und bewiesen, dass die Ukrainer in jeder Situation ihre Ziele erreichen, ihre Interessen verteidigen und ihre Unabhängigkeit schützen können“, sagte er auf X (vormals Twitter), wie ihn der britische Telegraph zitiert hat.
Wie der britische Guardian Anfang September nochmals aufgrund von Stimmen aus Sudscha betont hatte, sei den ukrainischen Soldaten keinesfalls daran gelegen, fremdes Territorium zu annektieren. Demnach sei auch die Informationslage unter den zurückgebliebenen Einheimischen dünn, und die ukrainischen Soldaten müssten ihnen die Situation erklären. Möglicherweise ist auch im jetzt angegriffenen Zipfel Russlands kein Bewohner darauf gefasst, dass der Krieg zurückkommen könnte, geschweige denn, dass ein solcher überhaupt schon begonnen habe. Öffentliche Kenntnisnahme oder gar Kritik ist das, was der Kreml vermeiden wollte und vermeiden will.
Zeugnis für Russlands Schwäche: Ukraine will Putins Verlust an Glaubwürdigkeit forcieren
Das Video wäre die Gegenstrategie. Wahrscheinlich sind die Drohnen-Aufnahmen von umfangreicherem Bildmaterial auch nur der „zivile Teil“, mit dem die Ukraine Stimmung machen will. Auch Analyst Gould-Davies ist überzeugt, spätestens seit dem Überfall bei Kursk müsse Putin gegen seinen Verlust an Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung angehen: „Während er glaubt, dass die Ukraine ,die Einheit, den Zusammenhalt der russischen Gesellschaft zerstören‘ will, deutet sein Versagen, die öffentliche Meinung als Reaktion darauf zu mobilisieren, darauf hin, dass ihm möglicherweise das Vertrauen in diesen Zusammenhalt fehlt“, schreibt Gould-Davies.
Sollte der aktuelle Grenzdurchbruch den Tatsachen entsprechen und über ein kleineres Scharmützel hinausgegangen sein, dann allerdings müsste Wladimir Putin unterstellt werden, er hätte die Kontrolle über seine Grenzen verloren. Was wiederum ernste Konsequenzen für seine Regime darstellen könnte. Vor vier Wochen hatte die Nachrichtenagentur Reuters über den versuchten Grenzdurchbruch bei Belgorod und über beunruhigte russische Offizielle berichtet.
„Situation bleibt kritisch“: Russischer Verwaltungs-Chef gesteht Verlust an Souveränität ein
„Unsere Lage bleibt weiterhin schwierig“, sagte Wjatscheslaw Gladkow. Der Regionalgouverneur und damit höchste Verwaltungsvertreter in der Westregion Belgorod hatte zu der Zeit von nächtlichem Artilleriebeschuss und Drohnenangriffen auf drei Siedlungen in der Umgebung berichtetet. Wichtiger in diesem Zusammenhang: Seit dem vereitelten Überfall auf Belgorod seien die benachbarten russischen Regionen auf die Möglichkeit weiterer Angriffe vorbereitet, wie er Reuters mitteilte und den Verlust an Souveränität in den Bereich des Möglichen rückte.
Insofern dürfte der Ukraine gar kein weiterer Grenzdurchbruch gelingen dürfen. Zumindest nicht ohne massive Feuerunterstützung; von der aber ist im Video keine Spur zu sehen – im Gegenteil wird der Angriff scheinbar lediglich vom Gefechtsfeldunterstützungsfahrzeug BTR-3DA geführt, ein Schützenpanzer mit einer 90-Millimeter-Kanone. Die verschossenen Granaten größeren Kalibers stammen möglicherweise von dem eigentlich als Flugabwehr-Panzer gedachten 9K35 „Strela-10“ –jedenfalls zeigt das Video keinen T-80-Kampfpanzer, mit dem die 95. Luftangriffsbrigade laut dem Magazin Military Land ausgerüstet sein soll.
Wie das Magazin Euromaidan Press Mitte Juli berichtet hatte, hätte die 95. Luftangriffsbrigade zu der Zeit noch als unterstützende Einheit im Raum Pokrowsk gelegen, weil sie „das ukrainische Kommando häufig zur Stabilisierung kritischer Situationen einsetzt“, wie Euromaidan Press betonte. Sie sollten einen Gegenangriff organisieren und die Russen wieder zurückdrängen. Diese Einheit jetzt auf russischem Territorium operieren zu lassen, scheint hoch brisant. Mitte August hatte auch die britische Times darüber spekuliert, was die Ukraine letztendlich in Händen zu halten halten beabsichtige.
Zeichen der Selbstüberschätzung: „Russland sieht sich selbst als Großmacht“ – zu unrecht
Militäranalytiker sollen beobachtet haben, dass die ukrainischen Kräfte die bisher mehr als 600 Kilometer lange Frontlinie in Kursk befestigen – was ihre Lage nach deren Meinung eher noch verschärfen würde, weil deren dezimierte Stärke die Front überdehnen könnte. Ein Vorteil für Russland; allerdings gleichzeitig auch eine Schwächung, sagt gegenüber der Times Mykola Bielieskow, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter am Nationalen Institut für Strategische Studien der Ukraine: „Russland sieht sich selbst als Großmacht. Aber Großmächte verlieren kein Territorium. Wenn man Territorium verliert, ist man keine Großmacht.“
Laut dem Times-Verteidigungskorrespondenten George Grylls müsse die Ukraine damit rechnen, dass sie für die Verteidigung dieses Fleckchens vom russischen Reich vielleicht einen hohen Preis würde zahlen müssen, falls Russland doch noch in die Offensive zu gehen gedenke: „Ein Albtraum für Kiew wäre es, wenn ukrainische Elitetruppen in Russland gefangen und vernichtenden Gegenangriffen ausgesetzt wären“, schreibt Grylls.
So sieht das auch John Foreman, der ehemalige britische Militärattaché in Moskau, wie ihn die Times zitiert: „Ich hoffe, sie versuchen nicht, daran festzuhalten. Denn dann würden sie verprügelt und es wäre ein Pyrrhussieg.“