Zwei-Prozent als Marschziel der Nato: Amerikaner werden gegenüber Deutschland langsam ungeduldig

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Seine Befürchtung: In fünf Jahren klopft der Russe an Europas Tür. General Christopher Cavoli ist Oberbefehlshaber der Nato-Streitkräfte in Europa und fordert ein stärkeres Engagement der Europäer für ihre eigene Sicherheit. © Virginia Mayo/AP/dpa

Zwei Prozent als Minimum, Maximum oder als wünschenswertes Ziel? Zehn Jahre nach Wales streitet die Nato weiter, wer wie viel zur Kriegskasse beisteuert.

Washington D.C. – Den Amerikanern reißt der Geduldsfaden. Das jedenfalls sagt jetzt Michael Allen, der als Sonderassistent von Präsident George W. Bush und leitender Direktor des Nationalen Sicherheitsrats gearbeitet hat, gegenüber Newsweek. Vor zehn Jahren sind die Nato-Mitglieder in Wales übereingekommen, ihre Länder aufzurüsten. Passiert ist wenig; und wie schon so oft klagen die Amerikaner allgemein über die unterdurchschnittliche Beteiligung Europas, und vor allem Deutschlands, an der Verteidigungsfähigkeit der Nato gegenüber einem Russland, das im Ukraine-Krieg klar als Aggressor auftritt.

Und das unter Wladimir Putin klare Ambitionen gegenüber dem Baltikum hegt. Laut dem Hamburger Abendblatt besteht die große Sorge im Bündnis: Binnen fünf Jahren nach Kriegsende in der Ukraine könne ein aggressives Russland seine Armee nicht nur auf den alten Stand bringen, sondern sogar zu einer größeren und leistungsfähigeren Streitmacht ausbauen. Dazu gehöre ein Modernisierungsprogramm mit neuen Technologien, das dem Westen Sorgen machen müsse, warnt Nato-Oberbefehlshaber Christopher Cavoli, ein amerikanischer Vier-Sterne-General, der aus dem belgischen Mons heraus das Supreme Headquarters Allied Powers Europe leitet.

Genau diese Entwicklung befürchtet auch Michael Allen – mit den entsprechenden Schlussfolgerungen: „Wenn die Europäer wirklich wollen, dass die Vereinigten Staaten weiterhin ein wichtiger Akteur in der Nato und natürlich auch in der europäischen Sicherheit bleiben, müssen sie sich engagieren auf eine konkrete Art und Weise und den amerikanischen Politikern signalisieren: ,Ihr seid nicht die einzigen Menschen auf der Welt, die die Rechnung bezahlen.‘“

Grundsatzfrage: Wie lange werden die USA die Ukraine noch am Leben halten?

Einer von Deutschlands bekanntesten Militärhistorikern, Sönke Neitzel, hatte noch Ende November gegenüber der ARD gewarnt, dass sich allein schon durch den Krieg der Hamas gegen Israel der Fokus der US-Amerikaner zugunsten Israels verschoben habe. Darüber hinaus beurteilt Neitzel die Situation auf dem osteuropäischen Kriegsschauplatz vor allem deshalb als schwierig, „weil die Republikaner und Teile der Demokraten immer schon gesagt haben, dass der Schwerpunkt eigentlich China ist“. Seiner Meinung nach sehen die Amerikaner eher die Europäer am Zuge der Ukraine zu helfen. „Wir wissen aber auch: Ohne die USA gäbe es die Ukraine nicht mehr; und ohne die USA wäre auch Europa außerstande, die Ukraine so sehr zu unterstützen, dass sie diesen Krieg weiterhin führen könnte.“ Die grundsätzlich spannende Frage also ist: Wie lange werden die USA die Ukraine noch am Leben halten?

Wenn die USA von Europa sprechen, meinen sie vorrangig das wirtschaftliche starke Deutschland – so sagt auch Fabrice Pothier, ein ehemaliger Direktor der Politikplanung für die Nato, der an der Wales-Zusage mitgearbeitet hat, gegenüber Newsweek: „Deshalb ist Deutschland – das immer der ‚Swing State‘ der europäischen Verteidigungsausgaben war – aufgrund seines verteidigungsindustrieellen Gewichts jetzt noch wichtiger.“ 2014 war Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim als militärischer global-player zurückgekommen auf die Weltbühne. Daraufhin hatte sich die Nato im September gleichen Jahres in Wales getroffen, um sich auf „erhöhte Einsatzbereitschaft“ einzuschwören – das war das 26. Gipfeltreffen seit der Gründung des Bündnisses im Jahr 1949. Seitdem ist das vorher bereits bestehende gemeinsame Ziel notwendiger denn je: jeweils zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts rein für die Verteidigung auszugeben.

Grundsätzliche Kritik: Nato ist immer noch nicht auf einen Krieg mit Russland vorbereitet

Das wird für die Amerikaner zu einer existentiellen Größe – durch die umfassenden Hilfen für die Ukraine sind deren Depots auch mittlerweile leer, und mit China tritt eine weitere Großmacht immer selbstbewusster auf. Die meisten Mitglieder der westlichen 31-Nationen-Allianz werden aber auch in diesem Jahr das Zwei-Prozent-Ziel des „Verteidigungsinvestitionsversprechens“ von Wales verfehlen; selbst nach den zehn Jahren, in denen der russische Präsident Wladimir Putin seine Großmannssucht wieder offensiv zur Schau gestellt hat. Zu den Nationen, die immer noch hinterherhinken, zählen Deutschland, Frankreich, die Türkei, Italien und Spanien. Die Nato, so warnten die Staats- und Regierungschefs, sei weiterhin nicht auf einen direkten Krieg mit Russland vorbereitet.

Der Krieg Russlands hat erneut gezeigt, dass Europa auf die militärische und finanzielle Macht der USA angewiesen ist; eine Abhängigkeit, die durch die Ziele in Wales gemildert werden sollte. Allerdings gilt unter Experten die Zwei-Prozent-Marke eher als Prognose denn als festes Ziel, wie die Zeitschrift für Wirtschaftspolitik über das Ergebnis aus Wales schreibt: „Das Gipfelkommuniqué fordert, dass die Nato-Mitglieder, die unter dem Zwei-Prozent-Wert liegen, sich in den kommenden zehn Jahren, also bis 2024, auf diesen ‚zubewegen sollen‘. Sich auf eine Marke zuzubewegen ist doch etwas anderes, als diese zu erreichen.“

Laut einer Nato-Aufstellung in 2019 erreichten nur sieben Länder die Zwei-Prozent-Marke oder überschritten sie sogar. Die Breite der Rüstungsausgaben bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt variiert immerhin stark: von 3,42 Prozent in den USA bis zu 0,55 Prozent in Luxemburg. Im Durchschnitt gaben die Bündnisstaaten 1,63 Prozent für ihre Verteidigung aus. Deutschland belegte zu dem Zeitpunkt mit 1,36 Prozent Platz 17 von 28. Das ist weniger als in Frankreich oder Großbritannien mit ihren kostspieligen Atomwaffenarsenalen und postkolonialen Ex-Weltmachts-Attitüden, aber mehr als in anderen, vergleichbaren Ländern wie Italien oder Kanada. Zudem war zumindest in Deutschland gegenüber 2014 mit 1,18 Prozent eine gewisse Steigerung zu verzeichnen, wie die Zeitschrift für Wirtschaftspolitik hervorhebt.

Grundproblem: Nur ein Drittel der Nato-Länder hält sich an die Übereinkunft von Wales

Bis zum letzten Bündnis-Gipfel im Juli 2023 hatte die Situation kaum zu mehr Optimismus beitragen können: Nur elf der 31 Nato-Staaten waren über das Zwei-Prozent-Ziel hinausgeschossen: Polen (3,9 Prozent), die USA (3,49), Griechenland (3,01), Estland (2,73), Litauen (2,54), Finnland (2,45 Prozent), Rumänien (2,44), Ungarn (2,43), Lettland (2,27), Großbritannien (2,07) und die Slowakei (2,03). Allerdings setzen die USA ihre Hoffnungen weiterhin vorrangig auf die wirtschaftlich starken Länder in Europa; ein hoher Prozentsatz in einem wirtschaftlich schwachen Griechenland täuscht über dessen wahre Schlagkraft hinweg. Pothier: „Wir brauchen diejenigen mit einem ausreichend hohen BIP, damit mit den Ausgaben wirklich Massen gekauft werden können, und wir als Nato einen Unterschied in Bezug auf unsere Lagerbestände und unsere strategische Tiefe erreichen können.“

Immerhin rüsten jetzt die Länder an der Nato-Ostflanke stark nach: Polens ehemaliger Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak beispielsweise hatte während seiner Amtszeit erklärt, Polen wolle „die größte Landstreitkraft in Europa“ aufbauen. Dazu gehört primär eine Verdoppelung des Militärs auf 300.000 Mann und eine groß angelegte Shopping-Tour: Für die Jahre 2023 bis 2026 wurden Rüstungskäufe für umgerechnet 37 Milliarden Euro eingeplant. Aus der Vergangenheit heraus erklärt sich die Angst Polens vor Russland. Und deren Grenze zum bärbeißigen Russland-Vasallen Belarus treibt Polens Rüstungsanstrengungen nochmals voran. Ähnlich handeln die Balten: Im vergangenen Jahr verpflichtete sich die estnische Premierministerin Kaja Kallas in Tallinn zu einem neuen Ausgabenziel von drei Prozent des BIP und erklärte im Mai gegenüber Newsweek: „Wir befinden uns in einer neuen Sicherheitsrealität, und jeder muss seinen Teil dazu beitragen.“

Grundkonflikt: CDU und SPD sehen unterschiedlichen Sinn im Zwei-Prozent-Ziel

Dieser Ansatz scheint sich langsam auch in Deutschland Bahn zu brechen – 2020 hatte Militärhistoriker Sönke Neitzel in seinem Buch Deutsche Krieger gefordert, die Bundeswehr entweder abzuschaffen oder ihrer Rolle als Landstreitmacht entsprechend zu finanzieren. Wales hatte aber die Parteien in Deutschland schon längst entzweit, beziehungsweise hatten die Parteien unterschiedlich auf den Druck des damaligen US-Präsidenten Donald Trump reagiert, wie Ulf von Krause für die Bundesakademie für Sicherheitspolitik schrieb. Trump hatte gedroht, europäischen Sicherheitsinteressen links liegen lassen zu wollen, und die von Angela Merkel geführte Bundesregierung hatte daraufhin den Verteidigungsetat hochzuschrauben gelobt.

Dieses zumindest verbale Einknicken gegenüber der US-Regierung wurde von der SPD als Ansatzpunkt gesehen, das Zwei-Prozent-Ziel zu einem Wahlkampfthema zu machen und auf Konfrontationskurs zu gehen. Im Wahlprogramm wurde der Nato-Beschluss von Wales (den man mitgetragen hatte), als ,falsch und unsinnig‘ bezeichnet, da seine Umsetzung bedeuten würde, dass Deutschland die Verteidigungsausgaben dann auf 70 bis 80 Milliarden Euro anheben müsste. Im Gegensatz dazu beinhaltete das Wahlprogramm der Union die Position der Kanzlerin, die Ausgaben bis 2024 schrittweise in Richtung zwei Prozent zu erhöhen, weil das eine Frage der Verlässlichkeit sei. Im Koalitionsvertrag von 2018 wurde dann etwas weicher vereinbar, man wolle dem Zielkorridor der Vereinbarungen in der Nato folgen.

Karl-Heinz Kamp sah aber schon 2018 für 2024 schwarz, wie der damalige Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik schrieb: Zunächst benötige die Bundeswehr Geld, um die Ausrüstung der bestehenden Verbände überhaupt wieder auf einen Stand von 100 Prozent zu bringen. „Im Februar 2018 verkündete das Verteidigungsministerium sogar den ,4+5+6-Plan‘, also das Ziel, in 2019 um vier Milliarden, 2020 um fünf und 2021 um sechs Milliarden zuzulegen. Dieser Betrag von 15 Milliarden Euro war konkret mit Ausgabenplänen hinterlegt und hätte die Bundesrepublik die 1,5 Prozent bereits 2021 erreichen lassen. Von einer solchen Basis aus hätte Deutschland glaubhaft argumentieren können, 2024 die zwei Prozent erreichen zu können. Aber bereits die im März 2018 verkündeten Haushaltspläne der Bundesregierung machten diese Planungen gleich wieder zunichte.“

Grund zum Zweifeln: Versprechen von Bundeskanzler Scholz bleibt bloße Absichtserklärung

Auch die Amerikaner wissen: Das Zwei-Prozent-Versprechen aus Wales braucht Zeit. Die Nationen, die im Rückstand sind, verweisen darauf, dass sie möglicherweise noch ein Jahrzehnt oder länger bis zum Ziel benötigten. Das Schlusslicht unter den Nato-Ländern bilden relativ kleine Nationen, darunter Belgien (1,26 Prozent), Slowenien (1,35 Prozent) und Portugal (1,48 Prozent).

Pothier bleibt aber unnachgiebig: „Zwei Prozent sind wirklich die Mutter aller Ziele, einfach weil sie den Kern des Bündnisses als einen transatlantischen Vertrag treffen, in dem die USA die Sicherheit Europas gewährleisten und von den Europäern erwartet wird, dass sie ihren Teil dazu beitragen.“ Das künftige Mitglied Schweden will in den Finanzen sogar Nato-Primus werden, weil das Land als Ostsee-Anrainer immerhin eine exponierte Stellung gegenüber Russlands Marine einnimmt. Wie ihn Newsweek zitiert, sei Verteidigungsminister Pål Jonson der Meinung, dass Schweden auf absehbare Zeit nicht nur auf, sondern über der Zwei-Prozent-Marke bleiben müsse.

Für Deutschland ist Historiker Neitzel skeptisch – er zweifelt an der Ehrlichkeit von Bundeskanzler Olaf Scholz, die zwei Prozent erreichen zu können oder überhaupt ernsthaft zu wollen, wie er gegenüber dem Norddeutschen Rundfunk klar geäußert hat. Das wären nämlich bis zu 30 Milliarden Euro pro Jahr neben dem 100 Milliarden-Sondervermögen. Neitzel: „Ich nehme ihm das nicht wirklich ab. Ich würde das so interpretieren, dass das erstmal eine Absichtserklärung ist, wie in der Politik üblich. Und zurzeit weiß er ja auch noch nicht einmal, ob er 2027 noch Bundeskanzler ist.“ (Karsten Hinzmann)

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