„Viele Fehlurteile mit dramatischen Folgen“ – Experten warnen vor schwarz-rotem Asylplan

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„Viele Fehlurteile mit dramatischen Folgen“ – Experten warnen vor schwarz-rotem Asylplan

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Union und SPD wollen die Amtsermittlung im Asylverfahren abschaffen. Das wäre ein Bruch von Grundgesetz und Europarecht, warnen Experten gegenüber unserer Redaktion.

Berlin – Die Kritik von Juristinnen und Juristen an den Asylplänen von Union und SPD setzt sich fort. Insbesondere die geplante Abschaffung des Amtsermittlungsgrundsatzes im Asylverfahren – wirkt wie ein technisches Detail – lässt bei einigen Expertinnen und Experten aber die Alarmglocken schrillen: Die Abschaffung „wäre ein schwerwiegender Bruch mit rechtsstaatlichen Prinzipien“, sagte Maximilian Pichl, Migrationsrechtler an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden, fr.de von IPPEN.MEDIA.

Union und SPD wollen Rechtsschutz im Asylverfahren einschränken

Konkret würde dies bedeuten, dass Behörden und Gerichte nicht mehr selbst alle relevanten Fakten zur Prüfung von Asylanträgen untersuchen und aufklären müssten, erklärte Pichl. Das sei ein „Erfordernis“, das sich aus dem Grundgesetz ergebe, das „effektiven Rechtsschutz gegenüber dem Staat“ einräume. Stattdessen wollen Union und SPD den Beibringungsgrundsatz des Zivilrechtes im Asylverfahren einführen.

Auch der Leipziger Rechtsanwalt Matthias Lehnert, vom Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein, hält den geplanten Schritt deshalb für europarechts- und verfassungswidrig. Er bemerkte gegenüber unserer Redaktion, dass die Forderungen von Union und SPD „das gesamte Asylverfahren auf den Kopf stellen“ würden. Derzeit prüfen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und bei Klage gegen den Asylbescheid auch Verwaltungsgerichte selbstständig, ob Gründe für einen Schutzstatus oder gegen eine Abschiebung vorliegen. Genau dieses Vorgehen schreibt der Amtsermittlungsgrundsatz vor.

Schwarz-rote Asylpläne: Politik will Gerichte zur „kontrafaktischen Unkenntnis“ verdammen

Sollte der Vorschlag von Union und SPD umgesetzt werden, so Lehnert, müssten Asylsuchende etwa selbstständig nachweisen, ob man in Afghanistan oder Griechenland menschenwürdig überleben könne, oder als Teil religiöser Minderheiten im Iran verfolgt werde. Ohne anwaltliche Unterstützung sei das für Einzelne schlicht „unmöglich“, schloss Lehnert.

Pichl warnte anhand des nicht unüblichen Beispiels einer schweren Erkrankung vor der Umsetzung des Vorschlages: Ein schwerkranker Mann, der in den Irak abgeschoben werden soll, müsste vollständig selbst nachweisen, ob die Krankheit im Irak behandelt werden könne. Selbst wenn Richterinnen und Richter aus zurückliegenden Verfahren wüssten, dass diese Krankheit im Irak wohl nicht behandelt werden könne, dürften sie dieses Wissen nach dem Wunsch von Union und SPD nicht mehr einbringen. „Auf diese Weise verordnet man der Justiz von oben kontrafaktische Unkenntnis“, kritisierte Pichl.

Gegenüber der Süddeutschen Zeitung argumentierte der Konstanzer Migrationsrechtler Daniel Thym, dass die Abschaffung der Amtsermittlung „in der Praxis die Verfahren beschleunigen“ könne. Pichl warnte dagegen davor, dass dieser Schritt „viele Fehlurteile mit möglicherweise dramatischen Folgen für Betroffene produzieren“ könne. Auch Verfahren würde dies nicht per se verkürzen, betonte Pichl, da möglicherweise Beschwerden vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zunehmen würden.

So ließen sich Asylverfahren rechtlich sauber beschleunigen

Grundsätzlich, so Pichl, seien der Verkürzung von Asylverfahren auch Grenzen gesetzt. Asylrecht sei „hochkomplex“, da auch stets Sachverhalte im Ausland geprüft werden müssten. Bei jedem Bauantrag erwarte man Sorgfalt von Behörden und Gerichten. „Das muss für den Asylprozess, wo es um Leib und Leben geht, erst recht gelten“, betonte Pichl. Wirklich helfen würde es, Asylsuchende von Anfang an umfassend über das Asylverfahren zu beraten, um bestandskräftige Entscheidungen zu erreichen. Doch die Mittel für genau diese unabhängige Beratung seien zuletzt von der Ampel-Koalition gekürzt worden, kritisierte Pichl.

Lehnert warnte vor „Chaos“, da niemandem klar sei, wie eine solch tiefgreifende Veränderung anzuwenden sei. Wer Verfahren verkürzen wolle, bemerkte der Anwalt, sollte die Qualität der Asylentscheide des BAMF verbessern. In der Regel werde etwa ein Drittel der inhaltlich vor Gericht geprüften ablehnenden Asylbescheide aufgehoben. „Wenn es im BAMF mehr Qualität gäbe, würde das die Sache massiv beschleunigen“, meinte Lehnert.

Bundestag - Sondersitzung zur Grundgesetzänderung
Lars Klingbeil wirft noch einen Blick zurück. Friedrich Merz geht in der Migrationspolitik, wie angekündigt, nur geradeaus, auch wenn Juristen ihn zurückrufen. © Bernd von Jutrczenka/dpa

Für 2022 errechnete die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl auf Basis der BAMF-Statistiken, dass 37 Prozent aller inhaltlich geprüften Klagen gegen Asylbescheide erfolgreich waren. Für 2023 gab das BAMF selbst an, dass nur 28 Prozent aller ablehnenden Asylbescheide, gegen die geklagt wurde, auch vor Gericht standhielten. Geklagt wurde gegen knapp 60 Prozent aller abgelehnten Bescheide.

Illegale Zurückweisungen an deutschen Grenzen? – Scharfe Kritik an Merz‘ Kernforderung

Die Abschaffung der Amtsvermittlungen ist nicht die einzige migrationspolitische Forderung, die Kritik unter Juristinnen und Juristen auslöst. Die von CDU-Chef Friedrich Merz forcierte Forderung nach der Zurückweisung aller Asylsuchenden an deutschen Grenzen gilt als europarechtswidrig.

„Wenn jemand Asyl beantragt, darf die Person nicht zurückgewiesen werden, selbst dann nicht, wenn sie keine Papiere vorweisen kann“, sagte der Hallenser Verfassungsrechtler Winfried Kluth im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau. Kluth warnte zudem vor der Gefahr illegaler Kettenabschiebungen durch mehrere EU-Staaten.

Auch aus der SPD regte sich bereits Kritik am migrationspolitischen Sondierungsergebnis: Der Berliner Sozialstaatssekretär Aziz Bozkurt nannte die Forderungen, gegenüber der Tageszeitung Welt „faktenfrei und bauchgefühlgetrieben“. (kb)

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