„Jahr der Entscheidungen“: Kriselnde Industrie-Ikone ächzt unter internem Streit und Drang zur Transformation
Der Gewinn von Thyssenkrupp ist um 19 Prozent eingebrochen. Interne Streitigkeiten und die schwache Konjunktur setzen dem Mischkonzern zu – besonders die Stahlsparte bereitet Sorgen.
Essen – Im Schatten der VW-Krise wankt derzeit ein weiterer deutscher Industrieriese. Oder besser formuliert: schon wieder. Die Thyssen Krupp AG stehe mit seinen rund 100.000 Mitarbeitern vor dem „Jahr der Entscheidungen“ prophezeite der Vorstandsvorsitzende Miguel López auf der Jahrespressekonferenz am vergangenen Dienstag (19. November). Dabei sind die aktuellen Herausforderungen, die den Umsatz im Geschäftsjahr 2023/24 um sieben Prozent auf 35 Milliarden Euro und den Gewinn um 19 Prozent auf 567 Millionen Euro fallen ließen, in vielerlei Hinsicht ungelöste Probleme der Vergangenheit.
Thyssenkrupps Stahlsparte bleibt weiterhin das Sorgenkind – rund 1,5 Milliarden Verlust in 2023/24
Eines der jahrelangen Sorgenkinder des Mischkonzerns aus Essen stellt die Stahlsparte dar. Rund 27.000 Mitarbeitern sind bei der Stahltochter der AG, ThyssenKrupp Steel Europe (TKSE), tätig. Aufgrund der billigen Konkurrenz aus China sowie der Verfahrensumstellung auf eine klimafreundlichere Stahlherstellung schrieb der traditionsreichste Konzernbereich im vergangenen Geschäftsjahr rund 1,5 Milliarden Euro Verlust. Zwar fiel dieser gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 0,6 Milliarden Euro geringer aus – doch das täuscht nur bedingt über die Probleme des Sektors hinweg.
Sinnbildlich für die Transformationsanstrengungen gilt das Dekarbonisierung-Projekt am Standort Duisburg. Hier sollte eine mit grünem Wasserstoff betriebene Direktreduktions(DR)-Anlage entstehen – das Vorhaben gilt in ganz Deutschland als größtes seiner Art. Über den Einsatz von Wasserstoff bei der Stahlproduktion will das Unternehmen pro Jahr 3,5 Millionen Tonnen CO₂ einsparen. Der Bund und das Land Nordrhein-Westfalen subventionierten das Projekt mit zwei Milliarden Euro – eine Milliarde wollte TKSE selbst tragen.
Reizfigur López: Konzern-CEO opponierte gegen Aufsichtsrat um Sigmar Gabriel – und „gewann“
Am Dienstag erklärte López nun recht vage, dass das Projekt vermutlich teurer als erwartet werden würde. Geld, was der Konzern derzeit für die Stahlsparte nicht ausgeben kann. Oder will? Im selben Atemzug appellierte der CEO jedenfalls an die Politik, dass diese bitteschön schneller ein Wasserstoff-Pipeline-Netz aufbauen solle.
Neben diesen strukturellen und wirtschaftlichen Problemen stockt auch der Prozess einer Verselbstständigung der Sparte – und das zum vierten Mal in Folge. Das Tischtuch zur Muttergesellschaft Thyssenkrupp galt im Sommer sogar derart zerschnitten, dass im August sieben Führungskräfte ihren Rücktritt erklärten. Der Prominenteste, der Ex-Vizekanzler und damalige Aufsichtsrat-Chef der Stahlsparte, Sigmar Gabriel, warf López im Capital-Interview anschließend fehlenden Willen zur Zusammenarbeit sowie eine „unanständige Kampagne“ vor. Das Ziel, die Stahlsparte als ein eigenständiges, rentables Unternehmen am Kapitalmarkt zu positionieren, wurde einmal mehr verpasst.
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Tschechischer Milliardär soll Hälfte der Stahlsparte von Thyssenkrupp übernehmen
Die AG-Spitze um den mächtigen Aufsichtsrat und López-Befürworter Siegfried Russwurm arbeitet derzeit an einer anderen Lösung: Sie will weitere Anteile an das Energieunternehmen EP Corporate Group (EPCG) des tschechischen Milliardärs Daniel Kretinsky veräußern. Dieser hält bereits rund 20 Prozent an der klammen Stahlsparte – und soll künftig weitere 30 Prozent erhalten, wenn es nach Russwurm und López geht. Umsetzen soll diesen Deal Gabriels Nachfolgerin, Ilse Henne. Immerhin, die 52-jährige Belgierin gilt als pragmatisch und ist selbst im Konzern beruflich groß geworden – sie kennt die Philosophie und Eigenheiten aller Beteiligten.
Doch Menschenfängerin hin oder her – auch Kretinsky dürfte wohl kaum weitere Anteile an einer derartigen Minus-Sparte kaufen. Zumal er die Auseinandersetzungen der vergangenen Monate durch seinen Posten im Aufsichtsrat ohnehin hautnah mitbekommen hat. Um das defizitäre Geschäft künftig in profitable Bahnen zu lenken, bedarf es von Seiten der AG einen vielversprechenden Effizienzplan. Der Nachteil: Dieser müsse dann auch Sparprogramme und Arbeitsplatzabbau beinhalten. Aufgrund der sogenannten Montanmitbestimmung bedarf es bei einem solchen Vorhaben allerdings auch der Zustimmung der Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat.
Hennes Weg in den Aufsichtsrat nicht einstimmig beschlossen? „Doppelstimme“ besorgt Posten
Einen derartigen Kompromiss hatte das Gremium unter Gabriel angeblich bereits im August erreicht – dieser sah vor, die Beteiligungen an den Hüttenwerken Krupp Mannesmann (HKM) zu verkaufen sowie die Produktionskapazitäten von elf auf neun Millionen Tonnen Stahl zu senken. Doch habe López, so der Vorwurf, den Deal trotz vorheriger Unterstützung intern wie öffentlich demontiert. Hilfreich ist in der künftigen Abstimmung sicherlich nicht, dass Henne laut Berichten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung selbst über einen Doppelstimmen-Beschluss von Russwurm an die Position im Aufsichtsrat gelangt ist – dank der speziellen Machtstruktur im AG-Aufsichtsrat auch ohne Zustimmung der Arbeitnehmerseite.
Parallel zu den Zwistigkeiten ist der Kostendruck immens: Selbst der Bereich Materials Services (MX) – mit rund 12 Milliarden Euro Umsatz stärkste Zweig im Stahlgeschäft von Thyssenkrupp – leidet derzeit unter konjunkturellen Schwierigkeiten. Denn trotz des eigentlich lukrativen Geschäfts mit klimaverträglichem Lieferkettenmanagement für die Luftfahrt-, Auto- und Maschinenbaubranche will der Konzern künftig 450 Arbeitsplätze streichen. Im ersten Halbjahr 2025 sollen sechs Standorte der Tochterfirma Schulte in Braunschweig, Frankfurt am Main, Kassel, München, Nürnberg und Rheine geschlossen werden – immerhin: Jene zwei in Bielefeld werden bis 2026 nur zusammengelegt.
Henne lobt Verhandlungen mit Verdi – López will Comeback zu Technologiekonzern von Weltrang
Die Verhandlungen mit der von Verdi vertretenen Mitarbeiterseite bewertet Henne als fortgeschritten: „Wir streben sozialverträgliche Lösungen für die betroffenen Beschäftigten an“ „In den Gesprächen mit unseren Arbeitnehmervertretern sind wir schon sehr weit.“ López, so scheint es, denkt allerdings schon – mindestens – zwei Schritte weiter: Am Dienstag erklärte er feierlich, dass er dem Konzern endlich wieder zu jenem Glanz verhelfen wolle, den Thyssenkrupp über Jahrzehnte innehatte: „Eine Ikone der deutschen Industrie, ein Technologiekonzern von Weltrang und ein Sinnbild für deutschen Erfindergeist.“