Künftige „Küstenwache“: Russlands Schwarzmeer-Flotte evakuiert Material aus Sewastopol
Sie tauge höchstens zur Küstenwache – Putins Schwarzmeer-Flotte habe größtenteils versagt, urteilen Experten. Jetzt schleicht sie sich von der Krim.
Sewastopol – In drei von vier Aufgaben habe sie versagt – diese Meinung vertrat jüngst Pavlo Lakiychuk gegenüber dem ukrainischen Medium Novaya Gaseta. Damit meint er die Fähigkeiten von Wladimir Putins Schwarzmeer-Flotte, die zuletzt gegen die Angriffe der Ukraine in Deckung gegangen war; und sich offenbar weiter zurückzieht. Lakiychuk ist Leiter des Sicherheitsprogramms des ukrainischen Thinktanks Centre for Global Studies „Strategy XXI“ – seiner Meinung nach verfüge die kleinste der vier russischen Flotten nur noch über eine Leistungsfähigkeit von 25 Prozent. Die Nachrichtenagentur Unian degradiert den auf der Krim stationierten Verband sogar zu einer künftigen „Küstenwache“. Demgegenüber ist die Ukraine zur regionalen Seemacht aufgestiegen. Bereits Ende vergangenen Jahres war massiv öffentlich geworden, dass Russland Sewastopol als Stützpunkt auf der Krim langsam aber sicher aus der Hand gleitet.
Satellitenaufnahmen offenbaren Verlegung von Russlands Flotte
Beispielsweise schrieb die Neue Zürcher Zeitung, dass Russland in jüngster Zeit zahlreiche Kriegsschiffe von Sewastopol in weiter östlich gelegene Häfen am Schwarzen Meer verlegt habe und stützt sich dabei auf Satellitenbilder von Oktober vergangenen Jahres: „Das Flaggschiff der russischen Schwarzmeer-Flotte, die ,Admiral Makarow‘, eine weitere Fregatte desselben Typs, alle drei einsatzfähigen U-Boote der Kilo-Klasse, sechs Landungsschiffe und eine Reihe kleinerer Schiffe befinden sich nun im Hafen Noworossisk an der russischen Schwarzmeerküste. Weitere Kriegsschiffe wurden nach Feodosija im Osten der Halbinsel Krim verlegt.“
„Deshalb gehen sie dorthin, gehen Risiken ein und nehmen alles mit, was sie brauchen – Ersatzteile, Komponenten und mehr. Vielleicht wird der nächste Schritt die Evakuierung von Munition, Treibstoff und anderen Dingen sein.“
Den Eindruck des schleichenden Rückzugs unterstreichen Informationen der ukrainischen Nachrichtenagentur Unian. Demnach verbringt Russland auch technisches Gerät in die Ausweichstellungen, wie der ehemalige Kapitän und Marine-Beobachter Wolodymyr Sablotskyj dem Radio New Voice gegenüber geäußert hat – er spricht von „Evakulierung“, weil der russischen Admiralität wohl unmöglich erscheint, in den Häfen des Kaukasus oder in den besetzten Gebieten in Georgien vor Anker zu gehen ohne Ersatzteile oder Werkstätten. Sablotsky: „Das alles gibt es nur in Sewastopol, aber dort ist es gefährlich.“
Kalibr-Raketen: Der letzte verbliebene Trumpf der Schwarzmeer-Flotte
Der Autor des Magazins Defense Express beobachtet die Verladung von Technik in Sewastopol auf Amphibienschiffe: „Deshalb gehen sie dorthin, gehen Risiken ein und nehmen alles mit, was sie brauchen – Ersatzteile, Komponenten und mehr. Vielleicht wird der nächste Schritt die Evakuierung von Munition, Treibstoff und anderen Dingen sein.“ Wie viel von der russischen Armada übrig bleibt, ist ungewiss. Was ihr der Analyst Lakiychuk noch definitiv zuschreibt, ist die Schlagkraft gegen die Ukraine mit Kalibr-Raketen – diese Familie beinhaltet Lenkwaffen von einer Reichweite zwischen 250 und 2.500 Kilometern. Sie entsprechen im Allgemeinen den amerikanischen Tomahawk und werden häufig auf Ziele tief in der Ukraine abgefeuert. Russland setzt sie sowohl von Überwasserschiffen als auch von U-Booten aus ein; allein deshalb ist der Ukraine daran gelegen, die Schwarzmeer-Flotte zurückzudrängen.
Was sie zu großen Teilen auch bereits geschafft hat, wie Lakiychuk konstatiert: An drei ihrer vier hauptsächlichen Aufgaben sei die Schwarzmeer-Flotte seiner Meinung nach gescheitert. Sie hatte vom Meer aus die Ukraine zu blockieren gehabt – inklusive ihrer Häfen. Der Handel, beispielsweise mit Getreide, läuft aber seit langem wieder. Russland konnte die Exporte der Ukraine lediglich zeitlich begrenzt behindern. Als eher militärische Aufgabe des Verbands sieht Lakiychuk die Unterstützung der Bodentruppen von See aus, also vom Asowschen oder dem Schwarzen Meer – die Marine kann als deren Fernartillerie genauso dienen wie als deren Logistik. Doch auch das scheint unter der akuten Drohung von französischen oder britischen Marschflugkörpern der Ukraine oder deren Seedrohnen komplett verpufft zu sein.

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Schiffsabwehrraketen der Ukraine: Wirksame Drohung gegen Putins Flotte
Als dritte gescheiterte Mission sieht der ehemalige Kapitän die ausgebliebene amphibische Landung im Raum Odessa – was auch die Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) analysiert; demnach hatten russische und belarusische Truppen noch bis Ende 2021 die Verlegung von Kräften – auch von See her – geübt. Lakiychuk: „Sie übten die Landung der 810. Marinebrigade an einer nicht ausgerüsteten Küste, und die Pskower Fallschirmjäger übten die Luftlandung von einer Il-76 auf demselben Brückenkopf. Schon damals war klar, dass es sich um eine Trainingsübung für einen operativ-strategischen Landungseinsatz handelte.“ Dessen Kern sollte die Schwarzmeer-Flotte bilden, dazu kamen laut Lakiychuk Landungsschiffe der Nord- und Ostseeflotte sowie Boote der Kaspischen Flottille.
Trotz der ursprünglichen Pläne, eine Landungsoperation in Odessa durchzuführen, war die Flotte also wohl komplett außerstande, den Kampf der russischen Bodentruppen im Februar und März 2022 effizient zu unterstützen, da ukrainische Schiffsabwehrraketen befürchtet wurden, wie das ZDF schreibt. Allein die Qualität der Truppen würde nach Einschätzung des Experten amphibische Operationen mittlerweile unmöglich machen: Mit den Verlusten der 810. Marinebrigade beispielsweise in Mariupol seien deren Reihen mit erfahrenen Marineinfanteristen anderer Flotten aufgefüllt worden, sagt Lakichuk. Neu mobilisierten Infanteristen würden demgegenüber die Erfahrungen für amphibische Operationen fehlen.
Nato-Partner Türkei: Der Kerkermeister von Russlands Seemacht
Die SWP bezifferte die Truppenstärke Russlands auf der Krim zu Beginn des Krieges auf rund 75.000 russische Soldaten, „die ständig in einer Distanz von 50 bis 250 Kilometer zur Ukraine stationiert“ seien. In dem Flottenverband hatten sie aber vergeblich Rückhalt gesucht – die Schwarzmeer-Flotte hat im Alltag des Krieges offenbar ihren Nimbus verspielt. Zu einer entsprechenden Einschätzung gelangt der in Bremen forschende Historiker Nikolai Mitrokhin, den die Novaya Gaseta dahingehend zitiert, dass die Flotte „ihre Nützlichkeit überlebte“.
Mitrokhin macht das allein daran fest, dass die zur Nato zählende Türkei, die den Zugang zum Schwarzen Meer kontrolliert, inzwischen auch über Anti-Schiffs-Raketen verfügen soll und, Mitrokhins Informationen zufolge, auch über Seedrohnen – eine reale Gefahr für die Schwarzmeer-Flotte also. Offenbar hat sich bis heute am überholten technischen Zustand und der Qualität der Kräfte wenig geändert – mit den entsprechenden Folgen, als der Krieg Russlands gegen die Ukraine seine aktuellen katastrophalen Ausmaße annahm. Auch die Raffinesse ukrainischer Ingenieure bezüglich des Baus von schwimmenden Drohnen hatte die russische Admiralität offenbar unterschätzt. Somit wird die Türkei quasi zum Kerkermeister der Schiffe.
Nach Recherchen des ZDF hatte die kleinste der vier russischen Flotten bereits mit dem Untergang der Moskwa ihren Schrecken zu verlieren begonnen: Das Schiff operierte ohne Begleitschutz, fuhr ohne Hauptradar, und einige Luken standen sperrangelweit offen, obwohl die ein Übergreifen von Feuer im Schiff hätten verhindern sollen, wie das ZDF schreibt. So wie sie der Ukraine kein Paroli hat bieten können, wird die Flotte wahrscheinlich auch in einem Konflikt mit der Nato keine der ihr zugewiesenen Aufgaben erfüllen können, vermutet deshalb der Historiker – wenn die Schiffe nicht mal über eine Raketenabwehr verfügten oder auch nicht nachgerüstet werden könnten und zudem gegenüber Drohnen nahezu blind wären, sieht er schwarz für die Schwarzmeer-Flotte in technischer wie taktischer Hinsicht, sagt Mitrokhin.
Je nachdem, wie lange der Krieg noch anhält, kann er sich vorstellen, dass die Flotte durch die ukrainische Nadelstich-Taktik vollständig aufgerieben wird. Wie die Gaseta schreibt, hielte der Historiker sie in Zukunft für höchstens imstande, die „Funktionen einer Küstenwache“ zu übernehmen, mit der Aufgabe auf Piraten Jagd zu machen.