Showdown für die Koalition - Nach dem Lindner-Beben: So wahrscheinlich ist ein baldiges Ampel-Aus
Mit seinem 18-seitigen Grundsatzpapier hat Finanzminister Christian Lindner (FDP) die Dauerkrise der Ampel-Koalition noch einmal weiter angeheizt. Lindners „Konzept für Wachstum und Generationengerechtigkeit“ steht quer zu den wirtschaftspolitischen Überlegungen von SPD und Grünen – und die machten ihre Kritik an den Forderungen des FDP-Chefs, darunter eine Abschaffung des Solidaritätszuschlags für Spitzenverdiener und ein Moratorium für einzelne Gesetzespläne wie das Tariftreuegesetz, umgehend deutlich.
Lindner wollte Papier wohl nur im engsten Kreis diskutieren
Auch wenn Lindner in einer E-Mail an Parteifreunde schrieb, dass das Papier zunächst nur im engsten Kreis der Bundesregierung hätte beraten werden sollen, so ist die Diskussion um die Forderungen des Finanzministers und deren provokativen Charakter in vollem Gange.
Dabei schien die Ampel schon zuvor ihren Tiefpunkt erreicht zu haben, als die FDP-Fraktion und Kanzler Olaf Scholz (SPD) am vergangenen Dienstag zu getrennten Treffen mit Wirtschaftsvertretern einluden und dabei unterschiedliche Schwerpunkte setzten.
Zuvor hatte Wirtschaftsminister Robert Habeck ein Impulspapier vorgelegt, das weder mit der SPD noch mit der FDP abgestimmt war. Darin hatte der Grünen-Politiker einen aus neuen Schulden finanzierten, mehrere hundert Milliarden Euro schweren „Deutschlandfonds“ für Investitionen etwa in Infrastruktur, Bildung und Digitalisierung gefordert.
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Grünen-Politikerin: Koalition kann sich damit „nicht immer beschäftigen“
Aus den Reihen der Grünen kam nach dem Bekanntwerden von Lindners Papier einerseits harte inhaltliche Kritik. So sagte beispielsweise Co-Fraktionschefin Katharina Dröge dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND), dass die FDP ja ruhig „jeden Monat ein Positionspapier“ verabschieden, die Koalition sich damit aber „nicht immer beschäftigen“ könne.
Die Grünen stehen insofern im Fokus von Lindners Papier, als der FDP-Vorsitzende fordert, die Klimaneutralität nicht mehr für 2045, sondern wie in der EU für 2050 anzuvisieren.
Ist das Papier als Scheidungsbrief des Finanzminister zu werten?
Andererseits waren Spitzenvertreter der Grünen am Wochenende auch um Gelassenheit bemüht. Wie es mit der Ampel-Koalition weitergehe, liege bei Lindner, hieß es aus der Partei.
So sei es denkbar, dass sein Grundsatzpapier nur als langfristiger Debattenbeitrag gedacht sei. Wenn der FDP-Chef sein Papier aber zur Grundlage für die Schlussrunde der Beratungen über den Haushalt 2025 machen wolle, dann sei das als Scheidungsbrief des Finanzministers zu werten.
Scholz will im Angesicht von Lindners Papier nicht wie ein Getriebener erscheinen
„Vizekanzler Habeck hat ein Papier erarbeitet, und nun auch Finanzminister Lindner“, hieß es am Samstag indes aus Regierungskreisen. Der Kanzler befinde sich im direkten Gespräch mit zentralen Akteuren der deutschen Industrie, hieß es weiter mit Blick auf das Treffen im Kanzleramt vom vergangenen Dienstag. All dies werde „jetzt miteinander in der Regierung besprochen und bewertet“.
Scholz will auch im Angesicht von Lindners Grundsatzpapier nicht wie ein Getriebener erscheinen, weshalb er die Rettung von Industriejobs und der kriselnden Wirtschaft mit seinem Gipfel auch zur Chefsache erhoben hat.
Wenn es nach dem Kanzler geht, soll das dort und bei einer Folgeveranstaltung Mitte November Besprochene noch vor Jahresende zu einem „Pakt für die Industrie“ führen, den die gesamte Bundesregierung mitträgt.
Am Montag, Dienstag und Mittwoch stehen entscheidende Runden an
Mehr und mehr steht aber die Frage im Raum, ob er noch so viel Zeit hat. Große Krisenrunden sind für dieses Wochenende nicht angesetzt worden, wie aus der SPD-Fraktion zu hören ist – wohl aber gab es eine Reihe von Gesprächen auf verschiedenen Ebenen über das, was aus Lindners Papier folgt.
Am Montag tagen die SPD-Gremien, am Dienstag die Fraktion – und dem schon länger angesetzten Koalitionsausschuss am Mittwoch kommt immer größere Bedeutung zu.
Die Runde werde „unter Federführung des Kanzleramtes jetzt die konkreten zur Entscheidung anstehenden Punkte, insbesondere zum Industriestrompreis abarbeiten“, heißt es aus Scholz’ Fraktion.
Dann werde „man sehen, welche konkreten Punkte der FDP besonders wichtig sind, um unmittelbare Wirkung zur Förderung der Wirtschaft zu entfalten“.
Eventuell würden auch einzelne Punkte „in abgewandelter Form aufgegriffen“, weil der Kanzler sich ja ebenfalls kurzfristig wirkende Maßnahmen auf die Fahne geschrieben hat. Genannt wird etwa das mit zu viel Bürokratie verbundene EU-Lieferkettengesetz.
Verärgerung im Kanzleramt
Es gibt natürlich mehr denn je auch Zweifel, ob es überhaupt noch um Inhalte dieser Art geht oder ob Lindner nicht doch schon mit seinem 18-seitigen Forderungskatalog ein Scheidungspapier aufgesetzt hat – im Wissen, dass die Koalitionspartner größte Schwierigkeiten haben werden, seine Forderungen zu erfüllen.
Im Kanzleramt ist man besonders verärgert darüber, dass sie neue Löcher in den ohnehin schon mit größter Mühe gezimmerten Haushaltsentwurf 2025 reißen würden, dessen Beratung im Bundestag gerade auf der Zielgeraden angekommen ist.
Es steht ein Showdown im Koalitionsausschuss an
Dass nun manches für einen Showdown im Koalitionsausschuss spricht, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.
Weil das Gremium als zu groß galt, um in der Sache voranzukommen, wurde nach der dreitägigen Marathonsitzung vom März des Vorjahres zunehmend auf die Dreierrunde von Scholz, Lindner und Habeck gesetzt. Dass es nun wieder der große Ausschuss richten soll, kann als Zeichen gelten, dass das Trio nicht mehr funktioniert.
Beziehung von Scholz zu Lindner ist schon lange schwer belastet
Das Verhältnis des Kanzlers zu seinem Finanzminister ist spätestens seit den langwierigen Etatverhandlungen nach der Karlsruher Klatsche für die gemeinsame Schuldenpolitik im Herbst vergangenen Jahres als schwer belastet.
Trotzdem galt bisher die Devise, dass eine Entlassung des FDP-Chefs erst dann ein Thema wäre, wenn Scholz der Überzeugung wäre, dass Lindner die Koalition verlassen will. Bisher war das offenbar nicht der Fall. Diese Einschätzung könnte sich aber in den kommenden Tagen ändern.
Von Christopher Ziedler, Albrecht Meier
Das Original zu diesem Beitrag "Lindner verschärft die Dauerkrise der Regierung: So wahrscheinlich ist ein baldiges Ampel-Aus" stammt von Tagesspiegel.