Gibt Putin Charkiw auf? Selenskyj hält Logistikzentrum Pokrowsk für neues „Hauptziel“
Laut Präsident Selenskyj ist Russlands Charkiw-Offensive gescheitert. Stattdessen rücken Putins Truppen aber ungewohnt schnell auf Pokrowsk vor.
Charkiw – Die ersten sechs F-16 aus den Niederlanden sollen in der Ukraine eingetroffen sein, doch die militärische Initiative liegt im Ukraine-Krieg aktuell eindeutig bei Russland. Seit Jahresbeginn haben die Streitkräfte von Wladimir Putin 1.246 Quadratkilometer Boden eingenommen, was mehr als doppelt so viel ist wie im gesamten Jahr 2023. Im Mai begannen sie eine neue Offensive gegen Charkiw, um die zweitgrößte ukrainische Stadt in Reichweite ihrer Rohrartillerie zu bringen. Dieser Vorstoß scheint allerdings vergeblich gewesen zu sein und ihre größten Geländegewinne machen die Russen nun anderswo.
Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte am Donnerstag (1. August) in einem Gespräch mit französischen Journalisten, dass die Einnahme Charkiws durch russische Truppen gescheitert und seines Wissens „nicht mehr möglich“ sei. Stattdessen habe „sich das Hauptziel verlagert“, denn „ihr Hauptaugenmerk liegt nicht mehr auf dem gesamten Osten.“ Stattdessen, so Selenskyj weiter, seien „die Pokrowsker Front und die Stadt Pokrowsk“ heute „ihre Hauptziele“.

Selenskyj: Charkiw-Offensive gescheitert – russisches „Hauptziel“ nun Pokrowsk
Ähnlich äußerte sich auch der Militärexperte Franz-Stefan Gady gegenüber dem Spiegel. Die Offensive bei Charkiw diene aktuell nur noch dazu, ukrainische Einheiten zu binden, wobei der Hauptfokus der Russen Gady zufolge mittlerweile auf der Achse zwischen Tschassiw Jar und Pokrowsk liege. An die 400 Quadratkilometer, etwa ein Drittel der bisherigen Jahresgewinne, eroberten Putins Truppen laut der Süddeutschen Zeitung an diesem Frontabschnitt in den vergangenen Wochen.
Das schwer umkämpfte Gebiet befindet sich in der Oblast Donezk, die Russland eigentlich bereits vollständig annektiert hat. Putin würde seinem Minimal-Kriegsziel, den Donbass zu kontrollieren, einen entscheidenden Schritt näher kommen, wenn seine Truppen hier weiter erfolgreich Boden gut machen. Alleine in den letzten zwei Wochen stießen sie acht Kilometer auf Pokrowsk vor.
An einem Tag 55 russische Angriffe an der Pokrowsker Front
Der Wert der Stadt liegt darin, dass sie ein insbesondere für die Versorgung von Kostjantyniwka vitales Logistik-Zentrum ist. Kostjantyniwka stellt wiederum den nächsten Schlüsselpunkt in der ukrainischen Verteidigung dar, dessen Fall den Weg zu den letzten beiden, in ukrainischer Hand verbliebenen Großstädten im Donbass öffnen würde: Kramatorsk und Slowjansk.
Meine news
Die Intensität der Kämpfe an der Pokrowsker Front wird anhand der Zahl von Gefechten deutlich, die dort täglich stattfinden, insbesondere, wenn man sie mit anderen Kampfgebieten vergleicht. Laut dem Generalstab der ukrainischen Streitkräfte trugen russische Truppen an der Charkiw-Front gestern sieben Attacken vor, während die Ukrainer bei Pokrowsk 55 Vorstöße zurückwarfen. Der Frontabschnitt mit den zweitmeisten Gefechten (26) war jener um Torezk, einer Stadt, die zwischen Pokrowsk und Tschassiw Jar liegt.
Ausgedünnte ukrainische Einheiten laufen Gefahr, überrant zu werden
Immer wieder kommt es vor, dass der rapide Vorstoß russischer Truppen einzelne ukrainische Einheiten in Gefahr bringt, eingekesselt zu werden. Solche Situationen entstehen aus hastigen, erzwungenen Rückzügen der Ukrainer, die nicht zuletzt darauf zurückzuführen sind, dass ihre Reihen schwer ausgedünnt sind und eine übliche Rotation kaum möglich ist. Auch Präsident Selenskyj erkannte im heutigen Gespräch mit den französischen Journalisten an, dass es an Männern und Material fehle, weil man Reserven bilden müsse.
„Wenn den Russen immer wieder kleinere Durchbrüche gelingen, kann das schließlich zu einem Dominoeffekt führen“, erklärte der österreichische Militärexperte Oberst Markus Reisner gegenüber der Süddeutschen Zeitung. Es bestehe die Gefahr, so Reisner, dass ukrainische Stellungen an den Flanken umfasst würden: Dann könne es sehr schnell gehen.