FOCUS-Online-Umfrage zeigt: Junge Ökonomen halten Rentenpaket für historischen Fehler

Selten war die Rentendebatte so aufgeladen wie in diesen Tagen. Zwischen Haltelinie, Mütterrente und Kapitalstock ringt die Ampel um ein Jahrhundertprojekt. Die Bundesregierung verspricht Stabilität im Alter, die Haltelinie von 48 Prozent soll bis weit in die 2030er-Jahre Sicherheit geben. 

Doch ausgerechnet jene Generation, die das Rentenpaket langfristig finanzieren soll, sieht die Reform kritisch. Die Junge Union versucht die Blockade des Rentenpakets im Bundestag. FOCUS online hat daher junge Ökonominnen und Ökonomen aus München, Berlin, Mannheim, Kiel, Essen oder Nürnberg um ihre Einschätzung gebeten – sie zeichnen ein Bild, das nüchtern ausfällt. Die Nachwuchs-Ökonomen warnen vor Milliardenlasten, verschobenen Prioritäten und grundlegenden Denkfehlern der Politik.

Annica Gehlen vom DIW bringt die Grundspannung auf den Punkt: „Eine Sicherung des Lebensstandards im Alter ist ein wichtiges und richtiges Ziel. Dieses Ziel sollte jedoch mit einer nachhaltigen Finanzierungsgrundlage erreicht werden.“ 

Die Haltelinie von 48 Prozent setze Ausgaben fest, „ohne Lösungsansätze zu liefern, um diese zu finanzieren“ Viele der Nachwuchsforscher sind sich einig: Die Reform stabilisiert die Gegenwart – und überlässt die Rechnung jenen, die heute Anfang 20, 30 oder 40 sind.

Teurer Status quo: „Ein Mehr für Ältere heißt weniger für Jüngere“

Wie tief die Warnungen reichen, zeigt der Blick über die Institute hinweg. Jonas Löbbing, Forscher am Institut für Volkswirtschaftslehre der LMU, nennt das Paket „eine sinnvolle Maßnahme, aber kein großer Wurf“ und fordert stattdessen mehr Umverteilung zugunsten niedriger Einkommen sowie ein einkommensabhängiges Rentenalter, um demografische Ungleichheiten abzufedern 

Timo Hoffmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW), wird deutlicher. Er sieht eine strukturelle Schieflage, die durch das Paket verschärft werde: „Wenn immer weniger Erwerbstätige für immer mehr Rentner aufkommen müssen und zugleich die Lebenserwartung steigt, ist die langfristige Finanzierbarkeit der Rente nicht mehr gewährleistet.“ Gelder, die nun aus dem Bundeshaushalt in die Rente fließen, fehlten „bei öffentlichen Investitionen“. Also genau dort, wo die junge Generation die Zukunft Deutschlands gesichert sehen will. 

So droht die Abwanderung von Fachkräften, oder dass Arbeitnehmer weniger arbeiten, etwa um ihre Kinder selbst zu betreuen oder Angehörige selbst zu pflegen. Hoffmanns Fazit: „48 Prozent eines kleinen Kuchens können weniger sein als 47 Prozent eines großen Kuchens.“

Der größte Streitpunkt: Die Haltelinie bei 48 Prozent

Kaum eine Maßnahme polarisiert so sehr wie die Festschreibung des Rentenniveaus. Emilie Höslinger, Doktorandin am ifo-Institut, kritisiert, die Stabilisierung führe dazu, „dass ausschließlich die derzeit und zukünftig Erwerbstätigen die Lasten der demographischen Alterung tragen – obwohl sie diese nicht zu verantworten haben“. Schon heute steige die Rentenbezugsdauer stärker als die Lebensarbeitszeit. Der Nachhaltigkeitsfaktor, eigentlich als Dämpfer gedacht, werde ausgehebelt.

Veronika Püschel, Referentin beim Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, bewertet es ähnlich: Die Haltelinie bedeute „de facto ein Aussetzen des Nachhaltigkeitsfaktors“, wodurch demografische Kosten „verstärkt auf die arbeitende Generation verlagert“ würden – unabhängig davon, ob über Steuern oder Beiträge finanziert wird.

Noch schärfer äußert sich Robin Jessen vom RWI (Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung): „Das Rentenpaket verteilt einseitig von der jungen zur alten Generation um.“ Das sei „Gift für die Wachstumsaussichten der deutschen Volkswirtschaft“.

Wer profitiert und wer zahlt die Zeche?

Alle Nachwuchsforschenden kommen zu einer ähnlichen Diagnose: Profiteure sind aktuelle Rentner, Menschen, die in den nächsten Jahren in Rente gehen und Haushalte mit stabilen Erwerbsbiografien und höheren Rentenansprüchen.

Die Belasteten sind die junge und zukünftige Erwerbstätige, Selbständige und Niedrigverdiener, der Bundeshaushalt und damit Zukunftsinvestitionen

Irina Popova, Wirtschaftswissenschaftlerin an der Uni Bonn, stellt klar: Das Paket belaste „heutige junge und zukünftige Generationen“, weil Beitragssätze steigen, ohne Gegengewichte wie den Nachhaltigkeitsfaktor beizubehalten. Besonders brisant: Die Haltelinie helfe armutsgefährdeten Gruppen kaum, da das Rentensystem nach dem Äquivalenzprinzip arbeitet: hohe Renten steigen stärker als niedrige.

Kapitalstock, Frühstartrente, Aktivrente: Hoffnung oder PR?

In fast allen Antworten fällt dasselbe Muster: Die neuen Maßnahmen wirken symbolisch, aber nicht systemisch. Löbbing bezeichnet zwar den Kapitalstock als „sinnvoll“, aber betont: Dieser werde „in den nächsten 20 Jahren noch keinen großen Beitrag“ leisten. Die Aktivrente dagegen koste viel und komme „überwiegend wohlhabenderen Rentnern zugute“.

Arthur Seibold, Professor für VWL (LMU), spricht von hohen Mitnahmeeffekten und „geringen Effekten auf die Beschäftigung Älterer“. Die Frühstartrente sei zu klein dimensioniert, um das System spürbar zu entlasten. Entscheidend sei vielmehr die Anpassung der Lebensarbeitszeit an die steigende Lebenserwartung: „Die ökonomische Forschung zeigt klar, dass eine Anhebung der Altersgrenzen des Rentensystems die effektivste Reformoption ist.“

„Wir diskutieren am Kern vorbei“

Einige junge Ökonomen widersprechen der gängigen Generationengerechtigkeitsdiagnose. Patrick Kaczmarczyk von der Uni Mannheim nennt das Paket eine „Verstetigung von Altersarmut“, betont aber: Die eigentliche Frage sei nicht Jung gegen Alt, sondern vielmehr die Frage nach Produktivität, Bildung, Infrastruktur: „Nur, wenn wir dafür sorgen, dass Produktivität und Löhne wachsen, werden wir den demographischen Wandel ohne große Friktionen bewältigen können“.

Julian Bank, vom Institut für Sozialökonomie der Uni Duisburg-Essen, hält die Debatte über Generationengerechtigkeit für verkürzt: „Der Verweis auf Generationengerechtigkeit lenkt ab von der eigentlichen Gerechtigkeitsfrage: der Verteilung zwischen niedrigen und hohen Einkommen und Vermögen.“ 

Eine stärkere Finanzierung über Steuern auf Wohlhabende könne das Problem deutlich entschärfen. Er warnt zudem vor der Illusion, ein kapitalgedecktes System könne uns aus der Demografie befreien: „Die Hoffnung, dass wir uns mit einer stärker kapitalmarktfinanzierten Rente von der heimischen Demografie abkoppeln, ist trügerisch.“

Das gemeinsame Fazit einer ganzen Generation

Trotz unterschiedlicher Ansätze zieht sich eine Linie durch nahezu alle Antworten: 

  • Das Rentenpaket II löst nicht die strukturellen Probleme – es verschiebt sie.
  • Die Haltelinie stabilisiert das Rentenniveau kurzfristig –
    aber verstärkt die Lasten für junge und kommende Generationen.
  • Die Kosten steigen, aber das Paket bringt keine Antwort auf Produktivität, Arbeitsmarkt und Demografie.
  • Die Kapitalmarktmaßnahmen sind zu klein gedacht; die Aktivrente gilt vielen als teuer und ineffektiv.
  • Der Staat verliert finanziellen Spielraum für Investitionen in Bildung, Klimaschutz und Digitalisierung.

Und so steht am Ende ein Befund, der im politischen Berlin kaum ausgesprochen wird: Wenn Deutschland seine Rente retten will, braucht es nicht nur mehr Geld – sondern mehr Mut und den Fokus auf jene, die am Ende die Rechnung bezahlen müssen.

DIW Annica Gehlen
Annica Gehlen (DIW) DIW

Die Haltelinie von 48% legt zusätzliche Ausgaben fest, ohne Lösungsansätze zu liefern, um diese zu finanzieren. Insgesamt ist das Rentenniveau aber nur ein bedingt gutes Maß, um die Absicherung durch die gesetzliche Rente zu beurteilen. Es beschreibt einen fiktiven Eckrentner mit einer Erwerbsbiografie ohne Unterbrechungen und lässt somit zum Beispiel kaum Rückschlüsse über Altersarmut zu. (...) Insgesamt bedeutet das Paket vor allem eine Belastung jüngerer Generationen zugunsten der älteren Generation. (...) Die Frühstartrente geht einen Schritt in die richtige Richtung, stellt aber keine ausreichende Lösung für den Bedarf einer verlässlichen Altersvorsorge für jüngere Menschen dar. (...) Die Aktivrente bedeutet allerdings auch, dass gerade die Menschen, die am meisten von dem Rentenpaket profitieren, weniger an seiner Finanzierung beteiligt werden als jüngere Erwerbstätige. Dies wiederum verstärkt den Eindruck, dass diese die zusätzlichen Lasten der Bevölkerungsalterung alleine tragen. Positiv zu bewerten ist die Aufhebung des Anschlussverbotes, welches aktuell noch die befristete Weiterbeschäftigung von Menschen über der Regelaltersgrenze verhindert.

 

Jonas Löbbing, Forscher am Institut für Volkswirtschaftslehre der LMU,
Jonas Löbbing, Forscher am Institut für Volkswirtschaftslehre der LMU LMU

Das Rentenpaket II ist eine sinnvolle Maßnahme, aber kein großer Wurf. Es sollten grundlegendere Reformen folgen: 1) eine stärkere Abweichung vom Äquivalenzprinzip mit mehr Umverteilung innerhalb des Rentensystems, um Kosten zu sparen, ohne das Rentenniveau für Mittel- bis Geringverdiener zu senken. Eine einkommensabhängige Anhebung des Renteneintrittsalters, die berücksichtigt, dass die Lebenserwartung für Menschen mit hohem Einkommen höher ist als für Menschen mit geringem Einkommen. Die Haltelinie erhöht natürlich die Kosten, also entweder die Beitragssätze oder - wie aktuell geplant - den Steuerzuschuss. Aber sie erhöht auch die Rente, welche die jüngeren Generationen beziehen werden, zumindest falls die Reform bis dahin nicht zurückgenommen wird. (...) Es profitieren diejenigen, die lange leben und damit auch lange eine höhere Rente beziehen. Benachteiligt wird, wer früh stirbt und deshalb zwar höhere Beiträge oder Steuern zahlt, aber nicht lange die höhere Rente beziehen kann. (...) Die Aktivrente dagegen wird nach aktueller Studienlage viel Geld kosten und überwiegend wohlhabenderen Rentnern zugutekommen. Das Geld könnte man meiner Ansicht nach besser nutzen.

Timo Hoffmann (28) Doktorand sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter am IfW (Kiel Institut für Weltwirtschaft)
Timo Hoffmann (28) Doktorand sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter am IfW (Kiel Institut für Weltwirtschaft) IfW

Mit einem nostalgischen Blick in den Rückspiegel an überkommenden Strukturen festhalten zu wollen, erscheint aus ökonomischer Sicht nicht plausibel. (...) . Insgesamt sollte dem Rentenpaket II nicht zugestimmt werden. (...) Der aktuelle Vorschlag der Bundesregierung, diesen Nachhaltigkeitsfaktor aussetzen, verlagert die Last jedoch einseitig auf die jungen Erwerbstätigen. Das ist alles andere als generationengerecht. 
(...) Vom geplanten Rentenpaket profitieren ausschließlich die Rentenempfänger. Die entstehenden Mehrkosten müssen in erster Linie die Erwerbstätigen über höhere Beiträge oder Steuern tragen. Darüber hinaus dürfte auch der Anteil des Bundeshaushalts, der in die Rentenfinanzierung fließt und zurzeit bereits rund ein Viertel ausmacht, weiter steigen. (...) Dann fehlen die Finanzmittel, die über den Bundeshaushalt in die Rente umgeleitet werden, an anderer Stelle, etwa bei Investitionen in Infrastruktur oder den Klimaschutz. Damit entgehen der jungen Generation langfristig genau jene Investitionen, von denen sie besonders profitieren würden. Entgegen anderer Darstellungen profitieren die heute Erwerbstätigen zudem nicht zwingend von der Haltelinie. (...) Die Aktivrente stützt für sich genommen nicht das Rentensystem, da nach Renteneintritt keine entsprechenden Beiträge mehr gezahlt werden. Sie hat somit keinerlei Einfluss auf das Rentenniveau. (...) Um die Beschäftigung im Alter zu erhöhen, wären ein Kündigungsschutz sowie ein späteres Renteneintrittsalter die effektiveren Maßnahmen. (...) Die Erwartung, dass beispielsweise eine weiter steigende Erwerbsbeteiligung die Zahl der Beitragszahler erhöhen könnte, dürfte sich kaum erfüllen. (...) Grund für die steigende Erwerbsbeteiligung der Älteren waren u.a. die Rentenreform der 2000er Jahre. Allerdings dürfte sie im laufenden Jahr ihren Zenit erreichen und ab dem kommenden Jahr im Zuge der alternden Erwerbsbevölkerung stetig abnehmen.