Die Warnung klang unmissverständlich. Als ich mit meinem Sohn vor Jahren zum Hamburger Derby am Millerntor ging, hatten wir bewusst auf alle Fanutensilien verzichtet. Keine Fahne, kein Schal, keine Mütze. Nur eine daumengroße HSV-Raute klebte auf der Jacke meines 12-jährigen Teenagers. Dem Polizisten an der Absperrung zur Feldstraße war auch das schon zu viel.
„Kleben Sie das ab“, bat er in einem verbindlichen Ton. Sein Nachsatz schockt mich bis heute: „Wir können sonst nicht für die Sicherheit Ihres Sohnes garantieren.“ So geht man also beim FC St. Pauli mit Andersdenkenden um, dachte ich mir damals: Notfalls gibt’s auf die Schnauze. Ich lese deshalb Zitate von Oke Göttlich zum aktuellen Fan-Zoff der Liga besonders aufmerksam.
Der Präsident des FC St. Pauli wehrt sich mit Händen und Füßen gegen alle Maßnahmen, die Deutschlands Innenminister zur Stadionsicherheit ausgeheckt haben. Personalisierte Tickets, Gesichtserkennung beim Stadioneinlass, verschärftes Stadionverbot: Göttlich sieht hier sogar „die Rechtsstaatlichkeit für Fußballfans“ gefährdet. „Wie soll denn das funktionieren?“, fragt er.
Fanprotest gegen Innenministerkonferenz
Die Innenminister aber lassen nicht locker. Von Mittwoch bis Freitag beraten sie auf ihrer Konferenz in Bremen, wie ihre Polizei in den 36 Stadien der Deutschen Fußball-Liga (DFL) mehr Kontrolle in den Kurven durchsetzen können. Die Situation ist verfahren. Göttlich ist ja nicht alleine: Praktisch alle deutschen Profiklubs und ihre Anhänger kündigen Widerstand an.
Zuschauer spüren das zurzeit bei jedem Stadionbesuch: Die Fanblöcke schweigen aus Protest zwölf Minuten lang bei Spielbeginn, reißen dann Banner hoch, die keine Fehldeutung zulassen. Im Visier: die Innenpolitik. Die Fans sind nicht zimperlich. Beim Pauli-Gastspiel in München zeigte der Bayern-Block Hamburgs Innenminister Andy Grote mit einem Schlagstock zwischen den Beinen.
Vorm jüngsten Slowakei-Länderspiel in Leipzig herrschte auf den Straßen eine Stimmung wie bei den Bauernprotesten gegen die Ampel-Koalition. Tausende von Fans, egal welcher Herkunft und Vereinsfarbe, vereinigten sich zum Kampf gegen die Instanzen. „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“, war auf Bannern zu lesen. Der Feind: die Innenminister und ihre Polizei.
Nicht mal auf die Dimension des Fanprotests konnten sich die gegnerischen Lager einigen. Die Polizei sprach von 8.000 Teilnehmern aus 36 Klubs, ein Fansprecher von 50.000 aus 50. So geht das ständig: Beide Seiten reden aneinander vorbei. Thomas Kessen vom Fanbündnis „Unsere Kurve“ unterstellt der Politik: „Durch Dramatisierung der Lage die Gunst der Masse gewinnen.“
Joachim Herrmann (CSU), Innenminister in Bayern, spricht dagegen von einer „Gespenster-Diskussion“ und sagt. „Es werden angeblich geplante Maßnahmen kritisiert und Ängste geschürt, die auf der bevorstehenden Innenministerkonferenz in Bremen gar nicht zur Debatte stehen.“ Wenn sogar die Gesprächsgrundlage wackelt: Wie will man dann sachlich diskutieren?
Um es gleich zu sagen: Es gibt hier kein Richtig oder Falsch. Mal ein Beispiel. Die Fans verweisen auf die Statistik, wonach die Gewalt in den Stadien trotz gestiegener Zuschauerzahlen gesunken ist - von 1338 auf 1107 Verletzten in einem Millionenpublikum. Die Polizei argumentiert: Jeder einzelne Verletzte ist zu viel - es gab 624 Unbeteiligte und 160 Polizisten, die verletzt wurden.
Wer hat jetzt recht? FOCUS online hat die vier wichtigsten Streitpunkte aufgeschlüsselt.
1. Prävention vs. Generalverdacht
Was gemeint ist: Soll Sicherheit durch gezielte Maßnahmen gegen Störer und Gewalttäter gewährleistet werden — oder durch umfassende, pauschale Maßnahmen gegen alle Stadionbesucher?
Argumente der Innenminister und Polizei:
- Ziel sei es, Sicherheitsrisiken bei Risikospielen möglichst systematisch zu senken — nicht nur reaktiv, sondern präventiv.
- Durch einheitliche Regelungen (zum Beispiel bundesweite Stadionverbote, zentrale Verbotsstellen, strikte Gästefan-Kontrollen) könne man Chaos, unkontrollierte Fanbewegungen und Pyrotechnik-Missbrauch besser unterbinden.
- Die Behörden argumentieren, dass Polizeieinsätze intensiv und Sicherheitsaufwände bei Spielen oft sehr hoch sind und strukturelle Lösungen langfristig entlasten können.
Argumente der Fanorganisationen:
- Pauschale Regelungen treffen alle — auch friedliche, gesetzestreue Fans. Das sei unverhältnismäßig und führe zu einer Form des Generalverdachts, der die Mehrheit bestraft, weil eine Minderheit Probleme macht.
- Es gebe keine belastbaren Belege dafür, dass personalisierte Tickets oder biometrische Erfassung von Anfang an verhindern, dass Gewalttäter ins Stadion kommen.
- Stattdessen: Man brauche gezielte Eingriffe bei denen, die tatsächlich auffällig sind — nicht belastungslose Massen-Überwachung.
Konfliktpunkt: Der Konflikt liegt darin, ob Sicherheit als Problem von Einzelnen (gezieltes Vorgehen) oder als „kollektives Risiko“ verstanden wird — mit der Konsequenz, alle Stadionbesucher vorsorglich zu kontrollieren.
2. Partizipation und Transparenz vs. Hinterzimmerpolitik
Was ist gemeint: In welchem Maße werden Fans, Vereine und Fanvertretungen in Entscheidungen eingebunden — und wie transparent sind Planung und Entscheidungsprozesse?
Vorwurf der Fanorganisationen:
- Die Vorschläge für neue Sicherheitsmaßnahmen (personalisierte Tickets, Gesichtserkennung, zentrale Stadionverbotskommissionen) seien über Wochen in Medien lanciert worden — ohne offizielle Diskussion mit Fanvertretern. „Hinterzimmerpolitik“, so Fansprecher Kessen.
- Viele Fans empfinden das Vorgehen als intransparent — ohne Beteiligung der Betroffenen. Das führe zu Misstrauen und schüre den Eindruck, dass Faninteressen und Fankultur schlicht ignoriert würden.
Worauf die Behörden verweisen:
- Der Versuch der Politik sei nicht, die Fans auszugrenzen — aber man müsse Sicherheitsbedenken ernst nehmen und strukturell angehen.
- Allerdings bleibt unklar, wie und ob Vereine und Fanorganisationen konkret in Entscheidungsprozesse eingebunden wurden und werden.
- Und es stimmt schon: Gesprächsangebote und Aufforderungen zu weniger Pyrotechnik in Stadien haben die organisierten Fans immer abgelehnt.
Konfliktpunkt: Die Fans fordern Mitbestimmung und Transparenz — die Politik agiert (zumindest teilweise) einseitig, was Misstrauen weckt. Wie legitime Sicherheitsinteressen und Fankultur unter einen Hut gebracht werden können, bleibt umstritten.
3. Effektivität vs. Symbolpolitik
Was ist gemeint: Sind die vorgeschlagenen Maßnahmen wirksam und notwendig — oder dienen sie eher als symbolisches politisches Signal („wir tun etwas gegen Gewalt“), ohne realen Sicherheitsgewinn?
Argumente der Fans:
- Die Fanorganisationen verweisen auf Studien, wonach die Gewaltvorfälle in Stadien rückläufig sind. So sollen Gewaltdelikte um rund 17 Prozent gesunken sein.
- Ebenso seien Polizeieinsatzstunden laut Fans zurückgegangen — was für eine funktionierende Kooperation von Vereinen, Fans und Polizei spreche und keinen Anlass für drastische Überwachung biete.
- Die Fans werfen der Politik vor, Sicherheitsmaßnahmen zu forcieren, obwohl die aktuellen Zahlen keine dramatische Gefährdungslage zeigen — es gehe mehr um Symbolpolitik und um Kontrolle als um reale Gefahrenabwehr.
Was die Behörden entgegnen:
- Selbst wenn Gewaltzahlen rückläufig sind — in Hochrisiko-Spielen oder mit Gästefans könne große Gefahr bestehen; deshalb sei eine strukturell sichere Infrastruktur notwendig.
- Prävention sei nicht nur Statistik-Interpretation, sondern Verantwortung — der Staat müsse vorbeugen, nicht erst reagieren. Strukturmaßnahmen seien langfristiger gedacht.
- Allerdings: Es mangelt an transparenten Studien, die belegen, dass zum Beispiel personalisierte Tickets oder Gesichtserkennung tatsächlich zu spürbar weniger Gewalt führen — gerade im Verhältnis zu dem Eingriff in Grundrechte.
Konfliktpunkt: Ob Maßnahmen gerechtfertigt sind — oder ob sie vornehmlich als politisches Zeichen dienen, das wenig reale Wirkung hat, aber große Eingriffe bringt.
4. Fankultur & Gemeinschaft vs. Regulierung und Kontrolle
Was ist gemeint: Fußball ist für viele Fans mehr als Sport — eine Plattform für Gemeinschaft, Identität, Emotion, Teilhabe. Können Sicherheitsmaßnahmen, die Kontrolle und Überwachung mit sich bringen, diese kulturelle Dimension erhalten?
Bedenken und Forderungen der Fans:
- Maßnahmen wie personalisierte Tickets oder Gesichtserkennung würden Fans zu „gläsernen Besuchern“ machen — mit negativen Auswirkungen auf das Gemeinschaftsgefühl und das emotionale Stadionerlebnis.
- Der demokratische Gedanke: Fans wollen mitreden, mitgestalten und nicht einfach reguliert werden. Fankultur sei Bestandteil gesellschaftlicher Teilhabe — nicht etwas, das man staatlich reglementiert.
- Praktisch alle Profivereine unterstützen diese Sicht: Sie warnen vor kollektiven Strafen und fordern Dialog, Prävention und vertrauensvolle Zusammenarbeit statt Kontrolle.
Was die Sicherheitspolitik betont:
- Sicherheit und Ordnung seien Voraussetzungen, damit Fans überhaupt sicher und ungestört Spiele besuchen können — und das betreffe auch friedliche Fans. Sicherheitskonzepte müssten modern und belastbar sein.
- Es gehe nicht darum, Fans zu bestrafen — sondern potenzielle Risikogruppen in den Fokus zu nehmen; in der Praxis sei allerdings schwer, im Vorfeld zu unterscheiden. Eine systematische Kontrolle könne helfen, Verantwortung und Prävention zu stärken.
Konfliktpunkt: Kann ein Gleichgewicht zwischen Freiheit, Gemeinschaft und Sicherheit gefunden werden — oder führt Regulation zwangsläufig zu einem Verlust der Fankultur? Viele Fans sehen die Gefahr, dass Kontrolle das zerstört, was Fußball ausmacht.