Ein acht Meter langer Roboterarm zeigt, was in Deutschland schief läuft

DAVEGI ist eine acht Meter lange Traverse, die sich um die eigene Achse dreht – und ein gutes Beispiel dafür, was im Jahr 2025 in Deutschland schiefläuft. 

Denn wer von DAVEGI hört, ist fasziniert: Jene Traverse ist ein Roboterarm, der KI-gesteuert Pflanzen in Ackerboden setzt, sie individuell pflegt, düngt und großzieht, um sie zu ernten und in Gemüsekisten zu packen, während gleichzeitig die nächste Generation gepflanzt wird. All dies passiert ohne menschliches Zutun und energieautark dank Solarzellen auf dem Dach.

Deutschland definiert sich aus Geist des Wirtschaftswunders 

In fünf bis sechs Jahren soll das Projekt marktfähig sein, doch schon jetzt müsste es inklusive seines Erdenkers Josef Franko und dessen Firma AI.Land aus Krefeld viel bekannter sein – als Musterbeispiel für faszinierende Ideen made in Germany.

Stattdessen beherrschen andere Meldungen den medialen Raum:

• „Langsamer Niedergang: Experten fällen knallhartes Urteil über Deutschland“ – „Berliner Zeitung“, 24.12.2024

• „Deutschland arbeitet an seiner Abschaffung als Wirtschaftsnation“ – „Neue Zürcher Zeitung“, 26.8.2024

• „Kein Wunder – Die Deindustrialisierung ist in Deutschland keine Bedrohung mehr, sondern tagtägliche Realität“ – „Cicero“, 17.2.2025

Deutschland definiert sich noch immer aus dem Geist des Wirtschaftswunders, Wachstum ist hierzulande das, was für Italiener Pasta und für Briten Tee ist – ein nationaler Fetisch, auf den sich alle einigen können. 2025 aber ist dieses Wachstum nur mit Sehhilfen auszumachen. 

Dass Deutsche für etwas so Nicht-Fassbares wie Wachstum mehr Nationalstolz empfinden als für Bratwurst, Goethe oder die Natur der Alpen zeigt einen weiteren Wesenszug: In diesem Land ist das Erreichte immer nur eine Zwischenstation und Zwischenstationen kann man abhaken. 

Jenoptik eröffnete im Mai eine neue Halbleiterfabrik

So fällt aus den Köpfen, was da ist und als Fundament für die Zukunft dient. Zum Beispiel Silicon Saxony. Der Halbleiter-Cluster rund um Dresden umfasst über 3.500 Unternehmen, produziert ein Drittel aller in Europa produzierten Chips und beschäftigt über 81.000 Menschen. 

Und er wächst weiter: Im Mai 2025 eröffnete Jenoptik eine neue Halbleiterfabrik, 2027 wird ein Werk von TSMC in Betrieb gehen, Infineon baut seines mit Investitionen von fünf Milliarden Euro weiter aus. Mittendrin sitzen Startups wie SpiNNcloud, das an neuromorphen Computern arbeitet, die in ihrer Funktion das menschliche Gehirn nachahmen und so KI-Anwendungen schneller und effizienter ablaufen lassen könnten.

Solche Themen sind für die breite Öffentlichkeit unsexy und schwer zu verstehen. Damit leidet Silicon Saxony unter dem gleichen Wahrnehmungsproblem wie viele Startups. Wer mediales Gehör – und damit auch Reichweite in der politischen Landschaft – erreichen will, braucht medientaugliche Gründerinnen und Gründer, die am besten auch noch auf klassische Art gut aussehen. 

Etliche Tech-Unternehmen haben Wahrnehmungsproblem

Viele spannende Unternehmen fliegen deshalb unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung. Extrembeispiel: DeepL. Ein KI-Vorzeigeunternehmen, die vielleicht beste Übersetzungssoftware weltweit, mit zwei Milliarden Euro Bewertung – und aus Köln. Ist aber in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Warum? CEO Jarek Kutylowski ist ein grundsympathischer Mensch – aber eben keine Rampensau.

Dieses Wahrnehmungsproblem haben etliche deutsche Tech-Unternehmen. Oft sind ihre Führungskräfte wenig kameratauglich, bei anderen ist das Geschäftsmodell schwer zu begreifen, manchmal erscheint ihre Branche unsexy. Folge: Jokolade, die uninnovative Schokolade von Moderator Joko Winterscheidt bekommt reichlich Presse – für DAVEGI interessieren sich nur Lokal- und Fachmedien.

Es tut sich was in Deutschland

Dabei hängt Deutschland eben nicht hoffnungslos zurück, es gibt viele hochinnovative Jungunternehmen. Einige Beispiele:

• Black Semiconductor aus Aachen will mit Graphen Computerchips schneller und energiesparender machen – es wäre eine Revolution im Halbleitergeschäft.

• Dryad aus Berlin baut KI-gesteuerte Waldfeuer-Frühwarnsysteme, deren solarbetriebene Sensoren mit einem Mesh-Netzwerk verbunden sind – Kunden gibt es bereits in 50 Ländern.

• Quantum Systems aus Gilching hat Drohnen-Überwachungssysteme entwickelt, die von manchen Experten für Weltspitze gehalten werden.

• Ultihash aus Berlin will per Algorithmus den Energiehunger von KIDatenzentren senken.

Es tut sich was in Deutschland, auch in Sachen Startup-Investments. Die Förderbank KfW addierte, dass im zweiten Quartal 2025 2,4 Milliarden Euro Venture Capital an junge Unternehmen hier zu Lande gingen, 45 % mehr als in den drei Monaten zuvor. Verteilt waren sie auf 208 Finanzierungsrunden, 98 davon lagen im Millionenbereich.

Was in den USA gefeiert würde, ist in Deutschland einfach da

32 junge Unternehmen werden mit über 1 Milliarde Euro bewertet und dürfen sich mit dem Szenetitel „Einhorn“schmücken. Gerade diese Liste zeigt, wie sich das Land wendet und transformiert. 

Denn einige der Namen haben sich mit wenig Lärm in den Alltag von Menschen und Unternehmen geschlichen, ohne dass es so bunte Schlagzeilen gab wie bei ChatGPT oder NVIDIA, so der Solar- und Wärmepumpeninstallierer Enpal, die Versicherungsapp Clark oder die Fußball-App OneFootball.

Was in den USA gefeiert würde, ist in Deutschland einfach da. Vielleicht auch, weil eine Software wie Personio aus München (bewertet mit 8,5 Milliarden Euro) so unsexy wirkt, wie das Flachdachgebäude am Rande der texanischen Hauptstadt Austin. Schabbelig ist es hier, verstaubt, Ästhetik ist keine Kernkompetenz texanischer Gewerbegebiete.

VW-Konzern arbeitet an autonomen Fahrzeugen

Wie aus einer anderen Welt wirken die Fahrzeuge, die das umzäunte Gelände verlassen: Still dahin surrende ID-Buzz, jene Elektrobullys von Volkswagen, in schwarzer Lackierung mit stilvoller Gold-Waben-Applikation und einem wichtigen Hinweis: „Self-Driving-Vehicle“.

Auf dem schmucklosen Gelände in Austin arbeitet der angeblich so rückständige VW-Konzern an autonomen Fahrzeugen und die könnten schneller auf der Straße sein, als mancher erwartet: 2027 sollen sie vollwertiger Teil der Moia-Flotte in Hamburg sein, dem VW-Sammeltaxi-System. 

Bis 2035 will der Konzern 100.000 vollautonome Shuttles ausrollen und ebenso vollautonome PKW anbieten. Mercedes und BMW sind ebenso vorne mit dabei, wie die „WirtschaftsWoche“ am 4.7.2025 resümierte. Überschrift: „Das deutsche Autowunder“. 

Bis 2029 entsteht ein bahnbrechendes Projekt

Auch in der Fabrikation tut sich viel: Audi überrascht KI-Experten wie den amerikanischen Fachautor Ron Schmelzer mit der Integrationstiefe Künstlicher Intelligenz in seinem Werk in Neckarsulm. 

Für „Forbes“ schrieb Schmelzer am 3.6.2025: „Audi geht über punktuelle Einsatzmöglichkeiten hinaus und verfolgt einen umfassenderen Full-Stack-Ansatz für KI in der Produktionsumgebung, der sich dynamisch anpassen kann.“ 

So prüfen Bilderkennungssysteme Oberflächenbeschaffenheiten und strukturelle Schweißnähte, KI-Algorithmen sagen Wartungspunkte Tage und Wochen im Vorhinein voraus und Produktionsumstellungen werden mit Digital-Twin-Konzepten vorab digital getestet.

Noch so ein Beispiel für Spektakuläres, gebaut in Deutschland: Hochspannungs-Gleichstrom (High-Voltage Direct Current – HVDC). Bis 2029 entsteht ein weltweit beachtetes, bahnbrechendes Projekt, bei dem GE Vernova mit mehreren Netzbetreibern eine neue HVDCGeneration in das Stromnetz integrieren will. Es wäre ein wichtiger Schritt in Richtung Klimaneutralität, weil HVDC Strom effizienter transportieren und mit den Schwankungen erneuerbarer Energie besser umgehen kann.

Fehlen einer Medienkultur, die Fortschrittsoptimismus auslöst

Das gilt ebenso für Hochspannungs-Supraleiter, die hohe Mengen Strom verlustfrei transportieren können. Im Herbst 2024 ging das weltweit erste Projekt mit dieser Technologie an den Start – in München.

Selten berichten über solche hochtechnischen Innovationen mehr als Fachmedien und Tech-YouTuber. Es fehlt in Deutschland an einer Medienkultur, die Fortschrittsoptimismus auslöst. So entsteht der Eindruck, das Land stagniere, nichts gehe voran, es werde nur ab-, aber nicht aufgebaut. Der Mythos der Deindustrialisierung floriert, dabei findet eine innovationsgetriebene Transformation der Wirtschaftsstruktur statt.

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„Wollen wir gemeinsam etwas erreichen oder uns Geschichten über das Scheitern erzählen?“, fragte der damalige Wirtschaftsminister Robert Habeck im März 2023 auf der Bühne der Gesellschaftskonferenz re:publica. Vielleicht ist dies kein Entweder-Oder, vielleicht passiert beides: Deutschland liebt es eben, sich lustvoll selbst zu geißeln mit Geschichten über das eigene Scheitern, während im Hintergrund eine folgenreiche Verwandlung des Wirtschaftsstandortes läuft, deren Ergebnisse wir 2035 sehen werden.

Ukraine-Krieg machte Rüstungsindustrie zu einer der wichtigsten im Land

Deutschlands Veränderung zeigt sich am offensichtlichsten an der Börse. Russlands Krieg gegen die Ukraine und der daraus gewachsene Wehretat haben die Rüstungsindustrie zu einer der wichtigsten im Land gemacht.

Rheinmetall ist nach SAP das an der Börse zweithöchst bewertete Unternehmen, der Radar-Hersteller Hensoldt ist in den DAX gerutscht, der Militärgetriebehersteller Renk ist der nächste Kandidat. Der Drohnenhersteller Helsing hatte einen spektakulären Börsengang, mehrere Rüstungstechnik-Startups zogen nach.

Der Börsenerfolg ist eine Spätfolge der 500 Milliarden Euro an Infrastrukturinvestitionen, die Friedrich Merz und seine Regierung mit ihrem Antritt beschlossen, und einer Investoren-Abkehr von den USA. Gelder flossen Richtung Europa und dabei verstärkt in das Land, das am ehesten als sicherer Hafen erschien: Deutschland.

Deutsche Autoindustrie zurück in der Spur

Vom Aufstieg der Rüstungsindustrie profitieren zivile Unternehmen. Deutschland vollzieht nach, was die USA einst an die Spitze brachte: Technologie springt vom militärischen in den zivilen Sektor – selbst das Internet war ja einst ein Militärprojekt.

Derweil ist die deutsche Autoindustrie zurück in der Spur. Sie baut nicht die günstigsten, aber die besten E-Fahrzeuge der Welt – Verbrennungsmotoren sind ohnehin nur noch eine Randnotiz für sehr spezielle Einsatzgebiete. Vollautonomes Fahren ist auf dem Weg in den Alltag, wenn auch erstmal nur in den der besonders gut Begüterten.

Das gilt auch für den Bereich der digitalen Transformation. Das Streben nach europäischer IT-Souveränität, von Digitalminister Karsten Wildberger kurz nach seinem Antritt verkündet, hatte auch einen Sicherheits-Aspekt. Zusammen mit der Digitalisierung der Verwaltung sorgten die öffentlichen Investitionen für den überfälligen Digitalwandel in Deutschland. Das spüren auch US-Großkonzerne: Sie verlieren im Bereich IT-Infrastruktur europaweit Marktanteile an die europäische Konkurrenz, allen voran Firmen wie SAP oder Schwarz Digits.

Nötige Veränderungen nicht ohne Schmerzen

Diese veränderte IT-Landschaft, gepaart mit sinkenden Energiepreisen, fördert Pharma-, Biotech- und Medizinunternehmen in Deutschland. Sie benötigen immer höhere Rechenleistungen für die Entwicklung individueller Medikamente. Die sind 2035 noch nicht Alltag, der Weg dahin ist aber absehbar.

Eine der größten Veränderungen hingegen ist 2035 noch nicht abgeschlossen: die der deutschen Autozulieferer. Elektroautos haben weniger Teile und diese Teile verschleißen weniger Viele Traditionsunternehmen werden deshalb für die Zukunft der Mobilität nicht mehr gebraucht. 

Ihr Know-how aber hilft bei einem anderen Wachstumsfeld: Robotics. Die nötigen Veränderungen gehen nicht ohne Schmerzen vonstatten, doch ein völliges Aus der Branche ist kein Thema mehr.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „20 Trends für 35 – Warum vieles besser wird, als Sie denken“. Mehr Informationen: https://www.zwanzigtrends.com 

Über die Autoren

Thomas Knüwer ist einer der bekanntesten Digitalvordenker Deutschlands. 14 Jahre betreute er für das Handelsblatt Themen rund um die digitale Transformation, bevor er als Gründungschefredakteur die deutsche Ausgabe des global renommierten Innovationsmagazins Wired konzipierte. 2009 gründete er die Digitalberatung kpunktnull, deren Arbeit mit mehreren Deutschen Preisen für Onlinekommunikation ausgezeichnet wurde. Außerdem ist er Mitgründer und -ausrichter der Goldenen Blogger, Deutschlands bekanntestem Award für Social Media, Influencer und Creator.

 

Richard Gutjahr zählt zu den einflussreichsten Tech-Journalisten des Landes. Nach Stationen bei Süddeutsche Zeitung, CNN, BR und WDR arbeitet er heute als freier Reporter für die ARD sowie als Kolumnist für zahlreiche Tageszeitungen und Fachzeitschriften. 20 Jahre moderierte er diverse News-Formate und -Magazine für den ARD-Verbund. Für seine Reportagen und Online-Projekte wurde Gutjahr national wie international mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Daneben unterrichtet er Social Media und Mobile Reporting an Journalistenschulen in Deutschland, Österreich und in der Schweiz.

 

Frank Horn ist einer der führenden Digital- und Transformationsexperten und hat in den vergangenen Jahren sowohl als Berater als auch als Führungskraft viele Unternehmen beim Wandel unterstützt. Aktuell ist er Partner der Unternehmensberatung kpunktnull. Zuvor war er bei mehreren Konzernen wie Bertelsmann, DHL Group oder Henkel in Führungspositionen tätig. Neben seiner Konzernerfahrung bewies er seinen Unternehmergeist durch den erfolgreichen Aufbau eines Internet-Startups.