Hitlers „Operation Lena“ scheiterte kläglich - doch das war volle Absicht

Es war eine heikle Mission: Im Schutze der Nacht wagte sich ein deutsches Minenräumboot im Ärmelkanal an der Küste der Grafschaft Kent bis kurz vor die englische Küste. Im Schlepptau hing ein Fischkutter. 

An Bord: Karl Meier, ein Deutsch-Holländer und Mitglied der „National-Socialistische Beweging in Nederland (NSB)“, und Josef Waldburg, ein Deutsch-Franzose. Die beiden jungen Männer paddelten die letzte Strecke bis zum Strand in einem aufblasbaren Schlauchboot. An Bord hatten sie eine Pistole, Geheimtinte, deutschsprachige Landkarten, deutsche Lebensmittel und 60 Pfund Sterling. 

Meier und Waldburg waren Teil einer großen Mission

Man schrieb die Nacht zum 3. September 1940. Auf den Tag ein Jahr zuvor hatte England nach dem deutschen Überfall auf Polen seinerseits Deutschland den Krieg erklärt.

Die Aufgabe der zwei Männer: Sie sollten sich als Engländer ausgeben, unter die Einheimischen mischen und so das britische Festland ausspionieren, indem sie die Leute über militärische Einrichtungen und Abwehrstellungen ausfragten. Denn Meier und Waldburg waren Teil einer großen Mission: der Operation Seelöwe – den Plan der deutschen Militärführung für eine Invasion Englands.

Die Gelegenheit schien günstig, denn die Wehrmacht hatte kurz zuvor in einem sechswöchigen „Blitzkrieg“ Frankreich und die Benelux-Länder niedergewalzt und stand nun waffenstarrend direkt an der östlichen Küste des Ärmelkanals. Von hier aus schien es nur ein Katzensprung bis nach England.

Churchill blieb standhaft: Kein Deal auf Kosten anderer Länder

Das Problem: Anders als andere Länder wie Frankreich und die Niederlande hatte der „Führer“ und Oberbefehlshaber der Wehrmacht, Adolf Hitler, die britischen Inseln vor dem Krieg niemals durch Agenten ausspionieren lassen. Denn an eine Invasion Englands war damals gar nicht gedacht worden. 

Im Gegenteil hoffte er auf eine Verständigung mit der britischen Regierung. Denn sie, so glaubte er, müsse doch einsehen, dass die Interessen Nazi-Deutschlands und Großbritanniens gut zusammen passen würden – hier das britische Kolonialreich, dort die deutsche Herrschaft im Osten, die Hitler anvisierte. Man werde die Welt unter sich aufteilen und sich nicht in die Quere kommen.

Aber der neue britische Premierminister Winston Churchill blieb standhaft. Mit einem Diktator wie Hitler wollte er keinen Deal auf Kosten anderer Länder eingehen. So kämpfte England nach der desaströsen Niederlage Frankreichs im Juni 1940 weiter – zunächst alleine. Und in Berlin wurde die „Operation Seelöwe“ ersonnen, mit der die Briten besiegt werden sollten.

20 Agenten für „Operation Lena“

Weil es aber überhaupt keine Kenntnisse über die Gegebenheiten in England gab, sollte durch eine gezielte Spionagemission vorher ausgeforscht werden, wo die Engländer Abwehrstellungen hatten, Truppen konzentrierten oder wo sich geeignete Landezonen für Fallschirmjäger befanden. Für diese Mission mit der Bezeichnung „Operation Lena“ wurden rund 20 Agenten ausgewählt. 

Hitler
Adolf Hitler im Jahr 1930. Imago

Verantwortlich war die militärische Abwehr des legendären Admirals Wilhelm Canaris, organisiert wurde sie von der Abwehrstelle Hamburg, die im schicken Stadtteil Harvestehude beheimatet war und für die rund 100 Geheimdienstleute arbeiteten. 

Ihr Leiter Herbert Wichmann, ein Fregattenkapitän, hatte mit seinem Chef Canaris eins gemeinsam: Beide waren keine Anhänger Hitlers und standen auch seinen Kriegsplänen kritisch gegenüber. 

Mit den Invasionsplänen konfrontiert, fürchtete Wichmann, diese würden auf beiden Seiten zahllose Menschenleben fordern. Und vermutlich würde die „Operation Seelöwe“ aufgrund der britischen militärischen Stärke ohnedies ein Misserfolg werden. 

Agenten flogen schon nach kurzer Zeit auf

Daher entschloss Wichmann sich zu einem Akt des Widerstandes: Er wollte diese Aktion sabotieren. Und zwar durch ein gezielt herbeigeführtes Scheitern der „Operation Lena“, der Spionagemission unter seiner Verantwortung. Das ergaben Forschungen der Historikerin Monika Siedentopf.

Wichmann ließ als Agenten Männer rekrutieren, die keineswegs freiwillig in ihren Einsatz gingen. Einige waren Mitglieder rechtsextremer Organisationen in Belgien, den Niederlanden oder Dänemark. Die meisten aber waren Kleinkriminelle. 

Sie wurden gezwungen beziehungsweise erpresst: Wer nicht mitmachte, würde im KZ landen. Unter diesem Druck sagten die Männer zu. Aber es war kein Wunder, dass sie keine Lust hatten, für die Deutschen wichtige Spionagedienste zu leisten.

Und so passierte genau das, was Wichmann geplant hatte: Die Agenten flogen schon kurz nach ihrer heimlichen Landung in England, meistens schon nach wenigen Stunden, auf. Vermutlich hatten die einen das von Anfang an so geplant, während die anderen sich zumindest keine Mühe gaben, unentdeckt zu bleiben. 

Wirtin alarmierte die Polizei

Meier und Waldburg beispielsweise fielen auf, als sie morgens um zehn Uhr in einer Gaststätte in der Ortschaft Lydd eine Flasche Cyder kaufen wollten. Ihnen war offenbar nicht bekannt, dass der Verkauf alkoholischer Getränke in England erst ab 12 Uhr erlaubt war.

Die Wirtin alarmierte die Polizei und die beiden Männer wurden verhaftet. In ihren Taschen fanden sich ausschließlich deutsche Produkte, die ma in England gar nicht kaufen konnte. Und da Waldburg zudem nur gebrochen Englisch sprach, erschienen die zwei den Polizisten verdächtig. 

Nachdem sie den Geheimdienst MI 5 hinzugezogen hatten, plauderten die beiden jungen Männer bereitwillig aus, dass sie deutsche Agenten waren und gaben zudem noch Informationen über die deutschen Invasionspläne weiter, die auf gute Kenntnisse hindeuteten. 

Binnen weniger Tage flogen immer mehr Agenten auf, insgesamt rund 20. Sie alle hatten sich tölpelhaft benommen – so, als wollten sie enttarnt und verhaftet werden. Einer wurde von der Polizei gestoppt, weil er mit einem Fahrrad auf der rechten Seite der Straße fuhr – trotz des englischen Linksverkehrs. Andere liefen direkt nach ihrer Landung einer Strandpatrouille in die Arme. 

„Operation Lena“ war kläglich gescheitert

Der MI 5 zeigte sich erfreut über den eigenen Erfolg. „Diese Spione waren ungewöhnlich schlecht angeleitet, und jedem, der auch nur über die geringste Kenntnis von den Verhältnissen in unserem Land verfügt, müsste klar gewesen sein, dass nicht einer von ihnen Erfolg haben würde“, schrieb Guy Liddell, der Chef der Spionageabwehr des MI 5. 

Den wahren Grund, dass es sich um eine Widerstandsaktion aus den Reihen der deutschen militärischen Spionage handelte, erkannte er nicht. Die „Operation Lena“ aber war kläglich gescheitert.

Dieses kalkulierte Scheitern war zwar nicht der hauptsächliche Grund dafür, dass Hitler schließlich die Invasion verschob. Wichtiger waren das Versagen von Hermann Görings Luftwaffe in der Luftschlacht um England im Herbst 1940 und der Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, der eine Konzentration der Kräfte auf den Osten erforderte. Aber auch Wichmanns Entscheidung, die Operation scheitern zu lassen, spielte ohne Zweifel eine Rolle. 

Wichmann war das Risiko wohl bewusst eingegangen

Die Engländer kamen hinter das Geheimnis der gescheiterten Agentenaktion erst nach dem Krieg. Für sie war Wichmann „ein guter Deutscher, aber ein schlechter Nazi“. Allerdings hatte die Sache eine dunkle Seite: Weil die Briten 1940 die Absicht der Oppositionellen in der deutschen Abwehr in Hamburg nicht durchschauten, hatte das für die aufgeflogenen Agenten die Folge, dass sie allesamt als Spione verurteilt und erschossen wurden.

Das Risiko war Wichmann vermutlich bewusst eingegangen. Er hatte ein kleineres, wenn auch menschlich dramatisches Schicksal einkalkuliert, um ein tausendfaches Massensterben während der Invasion zu verhindern.