„Kuckucksei“ in Berlin: Wie sich Söder-Rivale Wüst als Staatsmodernisierer gibt

  1. Startseite
  2. Politik

Kommentare

Während Merz im Rentenstreit strauchelt, lädt Wüst zum Gipfel nach Berlin. Seine Botschaft: Deutschland braucht weniger Bürokratie. Der Auftritt sorgt bei manchen für Stirnrunzeln. Eine Analyse.

Berlin – Manchmal könnte man meinen, der Nabel der Welt liege tief im Westen der Republik. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) dreht seit einigen Monaten ziemlich auf, reist mit viel Tamtam in die USA und nach Katar, trifft den Nato-Generalsekretär in Geilenkirchen, präsentiert Europas modernsten Supercomputer in Jülich – und fragte in Düsseldorf neulich selbstbewusst in einer Runde von CEOs türkischer Top-Unternehmen: „Was wollen Sie in Berlin?“

NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst, Staatssekretär Philipp Amthor, NRW-Staatskanzleichef Nathanael Liminski in Berlin (v.l.)
NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst, Staatssekretär Philipp Amthor, NRW-Staatskanzleichef Nathanael Liminski in Berlin (v.l.) © Peter Sieben

Dieselbe Frage muss er sich womöglich jetzt selbst gefallen lassen. Am Montag lud Wüst in die NRW-Landesvertretung im Botschaftsviertel nah am Berliner Tiergarten zur Konferenz. Titel: „Modernisierungsagenda für Deutschland“, ein Gipfel für eine „zukunftsfähige Bundesrepublik“. Erst mal gab‘s Adventliches am Buffet: Gulasch, Knödel, Rotkohl für die über 200 geladenen Gäste. Darunter auch Berliner Politprominenz: Staatssekretär Philipp Amthor aus dem Digitalministerium etwa, oder Jörg Semmler aus dem Kanzleramt. Und Ex-Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) sowie der ehemalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU), die zu den Initiatoren der sogenannten „Initiative für den handlungsfähigen Staat“ gehören.

Dann legte Wüst los: „Wenn der Staat schwach ist, gefährdet das die Stabilität des demokratischen Gemeinwesens“, sagte der Ministerpräsident in seiner Eingangsrede und fütterte das mit Umfrageergebnissen an: „Laut einer Studie des Beamtenbundes haben nur noch 23 Prozent Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staats.“ Allein in diesem Jahr sei der Wert um drei Prozentpunkte gesunken. In jenem Jahr also, in dem die schwarz-rote Koalition im Bund erst die Kanzlerwahl fast vergeigt hätte, dann für einen Eklat bei der Richterwahl gesorgt hatte und aktuell beim Rentenstreit bemüht ist, sich nicht selbst zu zerlegen.

Es gelte, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in einen funktionierenden Staat zurückzugewinnen. Doch ein „starres Korsett der Bürokratie“ lähme Wirtschaft und Verwaltung, man müsse „unseren Staat an einigen Punkten vom Kopp auf die Füße stellen“, sagte Wüst. Bürokratieabbau als Credo. Beispiel Bürgerbüro: „Warum muss ein 75-Jähriger noch einen neuen Personalausweis beantragen? Warum zwingen wir ältere Leute dazu?“

Während Merz im Rentenstreit strauchelt, lädt Wüst zum Gipfel nach Berlin

Will Wüst, der sich in NRW gemeinsam mit den Grünen das „geräuschlose Regieren“ auf die Fahnen geschrieben hat, jetzt den Berlinern zeigen, wie es geht? Anders als sein Amtskollege und Rivale Markus Söder (CSU) mischte Wüst zuletzt eigentlich eher selten an prominenter Stelle in der Bundeshauptstadt mit. Bringt sich der Ministerpräsident, dessen Beliebtheitswerte regelmäßig besser ausfallen, als die von Kanzler Friedrich Merz, aber nun schon mal in Stellung, solange der Kanzler strauchelt? „Ich bin nicht hergekommen, um zu schlaumeiern“, betonte Wüst, der Merz immer wieder lobend erwähnte – aber: „Ja, mir ist da zu viel Getöse, daran sind viele beteiligt.“

Aus Fraktionskreisen im Bundestag war hier und dort zu hören, dass man sich über den Wüst-Auftritt in Berlin wundere. „Kurios“, hieß es bei der SPD. Stirnrunzeln sah man auch bei manchen Unionsleuten. In NRW ist man sehr viel direkter. Jochen Ott, SPD-Fraktionsvorsitzender im Düsseldorfer Landtag, sagte im Gespräch mit dieser Redaktion: „Hendrik Wüst setzt sich wie ein Kuckucksei ins gemachte Berliner Nest.“ Der Ministerpräsident inszeniere sich im Bund, statt im eigenen Bundesland aufzuräumen. Ausgerechnet kurz vor Wüsts Modernisierungsgipfel in Berlin war NRWs oberster Digitalisierungsexperte Georg Lucht zurückgetreten, Berichten zufolge wechselt er zum 1. Dezember zur NRW-Bank. Ott deutet das so: „Offensichtlich läuft es beim Thema Modernisierung in NRW nicht so gut, wie Wüst glauben machen will.“

Will nicht „schlaumeiern“: Hendrik Wüst hatte Berliner Politprominenz zum Modernisierungsgipfel geladen.
Will nicht „schlaumeiern“: Hendrik Wüst hatte Berliner Politprominenz zum Modernisierungsgipfel geladen. © Peter Sieben

Bis zum Abend noch gab es in der NRW-Vertretung Panels zur Frage, wie der Staat wieder handlungsfähiger werden könnte. Wüst selbst war da allerdings längst nicht mehr da, er hatte einen Termin in Köln und musste die lange Strecke quer durch die Republik zurück tief in den Westen. „Man könnte sich die Frage stellen, warum er seinen Gipfel nicht direkt in Düsseldorf abgehalten hat, wenn ihm das Thema so wichtig ist“, giftete Ott.

Immerhin: Dass angesichts maroder Infrastruktur und ruckeliger Digitalisierungsprozesse dringender Handlungsbedarf besteht, da ist man sich über Fraktionsgrenzen hinweg einig. Auch, dass es dafür nun ein eigenes Bundesministerium gibt, begrüßte man unter den Teilnehmern des Gipfels sehr. Wenngleich Peer Steinbrück anmerkte: Es gebe durchaus Ressorts, die beim Thema Modernisierung auf die Bremse träten, er sehe da nicht zuletzt das Innenministerium, aber auch das Finanzministerium. NRW-Europaminister und Chef der Staatskanzlei des Landes, Nathanael Liminski (CDU), formulierte dazu einen Satz, den man als Appell an die Bundesregierung verstehen darf: „Staatsmodernisierung braucht Stetigkeit in der Umsetzung. Das muss ein Chefprozess bleiben.“ (Quellen: Eigene Recherchen vor Ort, Interviews)