Herr Gabriel, wenn Sie auf die vergangenen 20 Jahre blicken – wie hat sich aus Ihrer Sicht die politische Kultur in Deutschland verändert?
Die letzten 20 Jahre waren, abgesehen von den letzten drei, vier Jahren, von wirtschaftlicher Prosperität geprägt. Wir hatten nie so viele sozialversicherungspflichtige Beschäftigte. Und dennoch ist das Vertrauen in gewählte Vertreter der Demokratie gesunken – nicht nur, aber besonders in Ostdeutschland.
Das ist ein auffälliger Widerspruch: Ökonomisch ging es vielen besser, aber politisch fühlten sich viele Menschen abgehängt oder nicht mehr vertreten. Das hat mit vielem zu tun – mit der Art, wie Politik kommuniziert wird, aber auch mit gesellschaftlichen Umbrüchen, die viele verunsichern.
Ein entscheidender Faktor ist das Internet – insbesondere die sozialen Netzwerke. Der Ton ist rauer geworden, die Auseinandersetzungen unversöhnlicher. Die Leute bewegen sich in Echokammern, in denen kaum noch Widerspruch vorkommt. Politik findet dort kaum statt – stattdessen emotionale Aufladung, Vereinfachung, Zuspitzung. Die alte Idee vom politischen Diskurs, der Kompromisse ermöglicht, ist dort kaum noch vermittelbar.
Diese Entwicklung ist ja kein rein deutsches Phänomen. Wir beobachten das in vielen westlichen Demokratien – in den USA, in Frankreich, Italien. Was sind die tieferliegenden Gründe?
Ja, das stimmt. Es ist ein internationales Phänomen. In fast allen Industrieländern beobachten wir eine Entfremdung zwischen einem Teil der Bevölkerung und den etablierten politischen Institutionen. Ein wachsender Teil fühlt sich nicht nur nicht vertreten, sondern regelrecht missachtet. Viele Menschen haben das Gefühl, dass ihre Lebenswirklichkeit in den politischen Debatten keine Rolle mehr spielt.
Die Politik hat sich – jedenfalls in der öffentlichen Wahrnehmung – in identitätspolitische Debatten zurückgezogen. Themen, die weite Teile der akademischen Welt beschäftigen, dominieren die politische Bühne, während klassische Alltagsfragen der arbeitenden Mitte – wie steigende Mieten, kaputte Schulen, hohe Energiekosten – zu wenig Beachtung finden.
Die klassische Sozialdemokratie, wie ich sie kannte – mit Handwerkern, Polizisten, Betriebsräten, kleinen Selbstständigen – ist heute stark akademisiert. Ich habe einmal zugespitzt gefragt, was eigentlich passiert, wenn jemand in einer Partei sagt: „Ich esse Fleisch, ich rauche, fliege gern nach Mallorca, schaue RTL-Soaps und wenn ich ehrlich bin, dann hängt bei mir im Spint immer noch ein Playboy Pin Up.“
Wird er dann gleich rausgeschmissen oder zuerst einem Dutzend Pädagogisierungsversuchen ausgesetzt? Etwas ernsthafter gesprochen: die allermeisten Menschen, denen die sprachlichen Codes der Politik fremd sind, kommen erst gar nicht. Sie ahnen oder wissen, dass die dort herrschende Kultur mit ihrer eigenen fremdelt.
Ein weiteres großes Thema ist die Migration. Da haben wir auf beiden Seiten versagt: sowohl bei der Kontrolle der Zahl als auch bei der Integration. Es wurde lange nicht ehrlich darüber gesprochen, was realistisch ist und was nicht. Gleichzeitig gibt es in der Bevölkerung eine große Sehnsucht nach Ordnung – innerlich, äußerlich, sozial.
Eine Ordnung, die Orientierung gibt in einer Welt voller Umbrüche. Wenn die demokratischen Parteien diese Sehnsucht ignorieren oder für irrelevant erklären, entsteht ein Vakuum – das dann von Parteien wie der AfD auf der rechten Seite oder dem BSW auf der linken Seite besetzt wird.
Warum gelingt es der Politik nicht, diese Themen mutig und ehrlich anzugehen – etwa in der Bildungspolitik, die ja seit Jahrzehnten als reformbedürftig gilt?
Ich bin mir manchmal nicht sicher, ob meine Partei – die SPD – überhaupt weiß, warum sie in der Regierung ist. Viele Positionen werden einfach reflexhaft wiederholt, obwohl sie kaum noch Wirkung zeigen. Bildung ist ein Paradebeispiel: Wir wissen seit Langem, was schiefläuft, aber die Veränderungen bleiben aus – oder verlaufen sich in Koalitionsverträgen.
Früher stand die Sozialdemokratie für eine solidarische Gesellschaft, in der Herkunft nicht über Zukunft entscheidet. Heute geht es oft um Sozialhilfestaatlichkeit. Die Sorgen der arbeitenden Mitte – etwa über die Bezahlbarkeit des Wohnens oder den Zustand der Schulen – kommen zu kurz.
Und dann werden Versprechen gemacht, etwa die Senkung der Stromsteuer, die später nicht eingelöst werden – obwohl Milliarden für andere Projekte bereitstehen. Die Leute merken das. Sie sind nicht dumm.
Wäre es besser gewesen, wenn sich die SPD nach der letzten Bundestagswahl in die Opposition zurückgezogen hätte?
Ja, ganz klar. Eine Pause hätte der SPD gutgetan. Sie hätte die Chance gehabt, sich zu erneuern, sich kritisch zu hinterfragen – und sich ehrlich damit auseinanderzusetzen, warum Hunderttausende Wähler zur AfD abgewandert sind.
Stattdessen blieb ihr nur die Regierungsverantwortung, weil man glaubte, dadurch die AfD in Schach halten zu können. Aber dafür fehlt die Kraft zur echten Analyse.
Eigentlich bräuchte die SPD ein neues Godesberger Programm – also einen grundlegende Neuorientierung für die gesellschaftlichen Herausforderungen von heute und morgen. Und das gilt auch für die CDU. 20 Prozent Zustimmung sind für eine ehemalige Volkspartei kein Grund zur Zufriedenheit. Es braucht eine inhaltliche und organisatorische Erneuerung – keine Schönheitsreparaturen.
Fehlt der Politik nicht auch der Kontakt zur Realität vieler Menschen?
Ja. Viele Politiker bewegen sich in einer eigenen Welt – einer Blase, in der die Probleme anderer nur noch statistisch vorkommen. Die Parteien müssen wieder eintauchen in die Gesellschaft, mit Menschen sprechen, die unzufrieden sind oder sogar AfD wählen.
Das heißt nicht, dass man deren Positionen übernehmen muss – aber man muss ihnen zuhören, ihre Sorgen ernst nehmen. Politik muss wieder Verantwortung übernehmen – nicht ausweichen.
Wenn man immer sagt: „Dafür ist Europa zuständig“, dann fühlen sich die Leute alleine gelassen. Der Abgeordnete muss vor Ort präsent sein, ansprechbar, auch für die kleinen Dinge. In Großstädten ist das schwieriger, aber auf dem Land ist es oft noch möglich – und dort funktioniert Demokratie oft noch direkter.
Angesichts der Herausforderungen: Gibt es eine Alternative zur Demokratie?
Gabriel: Nein. Autoritäre Systeme funktionieren nicht besser. Wer glaubt, dass China oder Russland eine überlegene Antwort haben, sollte genauer hinschauen. Die Null-Covid-Politik in China hat das Land in die Rezession geführt – das wäre in einer Demokratie nicht möglich gewesen. Demokratie ist anstrengend, aber sie lebt von einem Hoffnungsüberschuss.
In Zeiten von Unsicherheit, Krieg, Inflation, Energiekrise muss Politik den Menschen zeigen, dass unsere Gesellschaft stabil ist. Die Herausforderungen heute sind real, aber sie sind kleiner als die, die unsere Großeltern bewältigt haben – Krieg, Vertreibung, Wiederaufbau.
Die Europäische Union ist ein Beispiel: Vom Verbrechen von Auschwitz zur Einigung in Brüssel – das zeigt, was möglich ist.
Parteien sollten sich auf zwei oder drei zentrale Versprechen konzentrieren – und diese dann wirklich einlösen. Statt 150-seitiger Programme voller Wenns und Abers, in denen alles unter Finanzierungsvorbehalt steht. Das ist im Grunde ein Nicht-Versprechen. Politik muss wieder glaubwürdig werden. Sie muss sagen, was ist – und dann auch tun, was sie sagt.
Außerdem muss sich die Politik der neuen Kommunikationsrealität stellen. Die AfD ist extrem erfolgreich auf TikTok. Dort gewinnt man nicht mit langen Argumenten, sondern mit Zuspitzung und Emotion.
Aber gerade deshalb braucht es dort auch eine kluge, inhaltliche Gegenrede – nicht moralische Belehrung, sondern klare Botschaften. Wer nicht lernt, sich in diesen Formaten zu bewegen, überlässt das Feld anderen.
Wenn Sie Ihrer Partei – der SPD – eine Botschaft mitgeben könnten, welche wäre das?
Willy Brandt sagte einmal: „Besinnt euch auf eure Kraft und darauf, dass man auf der Höhe der Zeit sein muss, wenn Gutes bewirkt werden soll.“ Und Ferdinand Lassalle sagte: „Die revolutionärste Tat ist, zu sagen, was ist.“
Die SPD muss sich dieser Realität stellen. 500.000 Wähler sind direkt zur AfD abgewandert – das würde mich wahnsinnig machen, wenn ich heute noch Parteivorsitzender wäre.
Aber man kann daraus lernen – wenn man den Mut zur ehrlichen Analyse aufbringt. Wegschauen hilft nicht. Wir brauchen eine Politik, die wieder verbunden ist mit der Lebensrealität der Menschen – in der Sprache, im Inhalt, in der Haltung.
Der Beitrag ist eine Zusammenfassung des Podcasts: „Demokratie: zwischen Wahnsinn und Wahl“ mit Sigmar Gabriel, ehemaliger Vorsitzender der SPD und jahrelang Minister in unterschiedlichen Funktionen in den großen Koalitionen mit der CDU-Kanzlerin Angela Merkel. Zuletzt war Gabriel Außenminister und über knapp fünf Jahre Vizekanzler.
Aufgenommen vom Vorsitzenden des DFK, dem Verband der Fach- und Führungskräfte, Nils Schmidt und der Psychologin, Martina Lackner.