Auf diesen unscheinbaren Rohstoff achtet kein Politiker – bis es zu spät ist

Stiller Preistreiber der Chemieindustrie

Wenn ein Rohstoff selten und gleichzeitig stark nachgefragt ist, dann sind steigende Preise in einer Marktwirtschaft unvermeidlich. Doch wenn es sich um ein Gut handelt, das sich eigentlich durch eine große Verfügbarkeit auszeichnet, der Preis dafür aber dennoch stark ansteigt, dann sind Markt und Wettbewerb gestört. 

Und genau das ist bei hochreinem Salz (Natriumchlorid, NaCl) der Fall, einem Gigarohstoff der Chemieindustrie, weil nur aus ihm die Basischemikalien Chlor und Natronlauge kosteneffizient und sicher hergestellt werden können. Das Problem: Der Salzpreis hat sich selbst ohne Einbeziehung der Energiekostenentwicklung für die deutsche und europäische Chemieindustrie in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt. In den USA und Asien ist Salz hingegen etwa um die Hälfte billiger. 

Viele Millionen Tonnen Salz benötigt

Allein die europäische chemische Industrie verarbeitet jährlich viele Millionen Tonnen Salz für eine riesige Produktpalette. Diese Salzmengen sind so groß, dass man sie im seltenen Idealfall vor Ort gewinnt. Im Regelfall ist daher aus wirtschaftlichen und logistischen Gründen ein Transport an die industriellen Verarbeitungsstandorte per Schiff erforderlich. Das bedeutet: Lagerstätten und Anbieter benötigen Anschluss an Wasserstraßen, was den Kreis der Marktteilnehmer stark einschränkt. Oligopolistische oder monopolartige Strukturen sind die Folge.

Logistikkosten und Infrastrukturengpässe haben das Entstehen regionaler Märkte mit starken Abhängigkeiten von einzelnen Anbietern befördert. Konkret gilt dies in Zentraleuropa z.B. für die niederländische Firma Nobian, die dem amerikanischen Private Equity Carlyle gehört und die wesentlich zum Preisanstieg bei NaCl beiträgt. 

Wolfgang A. Herrmann, Professor für Anorganische und Metallorganische Chemie, Präsident Emeritus Technische Universität München
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Wolfgang A. Herrmann ist Professor für Anorganische und Metallorganische Chemie. Von 1995 bis 2019 war er Präsident der Technischen Universität München (TUM) und ist heute Präsident Emeritus.

Genehmigungsverfahren als Nadelöhr

Diese Struktur verhindert, dass die eigentlich in ausreichender Menge vorhandenen Salzvorkommen sinnvoll erschlossen und dem Markt zu wettbewerbsfähigen Preisen angeboten werden. Zudem behindern lange Genehmigungsverfahren für neue Salzförderstätten den Markteintritt neuer Anbieter massiv. Dies verleiht den bestehenden Anbietern eine unverhältnismäßige Markt- und Preisgestaltungsmacht. 

Salz ist ein absolut unverzichtbarer Rohstoff der gesamten chemischen Industrie, gewissermaßen ihr Wertschöpfungsfundament. Die resultierende Produktvielfalt umfasst sämtliche Wirtschafts- und die meisten Lebensbereiche:  Kunststoffe (z.B. PVC, Silikone) und Arzneimittel ebenso wie Hygieneprodukte, Düngemittel, Desinfektionsmittel, Hilfsstoffe zur Papier-, Textil- und Seifenproduktion.  In den meisten Bereichen ist die deutsche chemische Industrie europaweit führend. Fazit: Ohne den Gigarohstoff Salz können viele wichtige chemische Grundprodukte nicht hergestellt werden.

Bedrohung durch einseitige Abhängigkeiten

In jüngster Zeit müssen wir unsere Bedrohung durch einseitige Abhängigkeiten zur Kenntnis nehmen, seien es die Seltenen Erden oder die Nexperia-Chips. Doch die Probleme der Industrie bestehen nicht nur bei international gehandelten Rohstoffen, sondern auch regional: Die aufgezeigten Lieferketten-Probleme und der Marktmacht-Missbrauch der Anbieter drohen die Preise für hochreines Salz derartig in die Höhe zu treiben, dass der deutsche und der EU-Markt insgesamt noch leichter angreifbar wird für Anbieter aus China und anderen Regionen. Es ist akut zu befürchten, dass sich die Wettbewerbsfähigkeit für Endprodukte, die in Europa hergestellt werden, massiv verschlechtert; verstärkte Abwanderungstendenzen der Industrie sind unausweichlich die Folge.

Wenn es der Bundesregierung und den Regierungen der übrigen EU-Mitgliedstaaten sowie der EU-Kommission wirklich ernst ist mit der Förderung der Wettbewerbsfähigkeit (wie jüngst auf dem EU-Gipfel beschlossen), dann müssen Markt und Wettbewerb im Bereich hochreinen Salzes wieder funktionstüchtig gemacht werden. Dafür sind aus meiner Sicht folgende fünf Maßnahmen erforderlich:

  1. Es braucht deutlich mehr Anbieter und Wettbewerb, um die Preisfindung zu normalisieren.
  2. Bestehende Anbieter sollten in Bezug auf ihre Preisgestaltung beobachtet werden.
  3. Genehmigungsverfahren für den Aufbau von Salzkavernen und neuer Produktionsstätten sollten beschleunigt werden.
  4. Für neue Anbieter sollte die Politik den Markteintritt begünstigen.
  5. Auf EU-Ebene gehört ein so überlebenswichtiger Rohstoff wie hochreines Salz aus zwingender Logik in den Critical Raw Materials Act, in Verbindung mit dem Critical Chemicals Act.

Ermutigend ist, dass die Bundesregierung hochreines Salz im Koalitionsvertrag explizit zum Thema gemacht hat.

Nachdem wir auch in der Wissenschaft lange Zeit die Rohstoffsituation nicht sonderlich beachtet haben, sind wir es jetzt unserem Land schuldig, uns zu Wort zu melden.