Sebastian Vollmer im Interview: Wie NFL in Deutschland den nächsten Schritt macht

Er war sieben Jahre der Beschützer von Superstar Tom Brady, er gewann mit den New England Patriots zweimal den Super Bowl und ist heute als Botschafter und Experte für die NFL im Einsatz: Sebastian Vollmer. 

Wir sprechen mit ihm über den "NFL-Zirkus", der derzeit in Berlin aufschlägt. Dort trägt die Liga im Rahmen der International Games ihr jährliches Deutschland-Spiel auf. Geht es noch größer?

Sebastian Vollmer im Interview

FOCUS online: Am Sonntag findet das jährliche NFL-Spiel in Deutschland statt. Die Indianapolis Colts empfangen in Berlin die Atlanta Falcons. Die Hauptstadt ist zum ersten Mal Austragungsort eines Regular Season Spiels. Warum hat sich die NFL für Berlin entschieden?

Sebastian Vollmer: Jeder Amerikaner kennt Berlin. Berlin ist eine Weltstadt und hat ein großes, imposantes Stadion. Das sind wichtige Faktoren für die NFL. Die Stadt Berlin hat sich sehr bemüht, die Liga zu überzeugen und sie hat bewiesen, dass sie Lust und Leidenschaft mitbringt. Das Footballfeld vor dem Brandenburger Tor ist das beste Beispiel dafür.

Für die NFL ist die Internationalisierung eines der wichtigsten Themen. Dieses Jahr gibt es sieben Spiele in anderen Ländern, neben Deutschland auch Brasilien, Mexiko, England, Irland und Spanien. Roger Goodell (NFL-Commissioner, Anm. d. Red.) hatte ja schon mal angedeutet, dass das Ziel ist, in Zukunft jede Woche ein International Game stattfinden zu lassen. Und dafür will die Liga in die größten Metropolen der Welt.

Das Berlin-Spiel zwischen den Indianapolis Colts und Atlanta Falcons gibt es im Free-TV auf RTL zu sehen. Die Übertragung mit allen Hintergründen, Analysen und Interviews startet um 14.30 Uhr. Sebastian Vollmer ist als Experte an der Seite von Jana Wosnitza, Patrick Esume und Björn Werner live dabei.

Während in München die gesamte Altstadt von NFL-Fans geflutet wurde, es war alles sehr zentriert, neigen Großveranstaltungen in Berlin dazu, etwas im Trubel der Hauptstadt unterzugehen. Warum wird diesmal kein Berliner an der NFL vorbeikommen?

Vollmer: International Games sind nicht nur Spiele für die Fans der jeweiligen Teams, sondern sie sind für jeden Footballfan generell. Es spielt keine Rolle, wer hier spielt, denn hier kommen alle Farben friedlich zusammen. Neben den Colts und Falcons fahren auch alle anderen NFL-Franchises, zumindest die, die hier in Deutschland exklusive Marketingrechte haben, in der gesamten Vorwoche groß auf und wollen sich präsentieren. 

Es gibt viele Veranstaltungen, viele Aktionen. Ich will nicht sagen, es ist wie ein Karnevalsfest, aber es wird schon extrem bunt. Von dem Trubel können sich auch Nicht-Footballfans treiben lassen, weil durch die NFL-Experience und die zahlreichen Fressbuden schnell das Gefühl eines Stadtfestes entsteht. Und zu einem Stadtfest kann man mit der gesamten Familie hin.

Wie in den vergangenen Jahren gab es auch diesmal wieder einen riesigen Ansturm auf das Spiel, trotzdem ist die Partie noch nicht ausverkauft. Noch immer gibt es auf der Ticketplattform Karten, viele im Resale. Hat die NFL den Markt hierzulande überreizt?

Schwierige Frage. Fakt ist, dass die Preise dieses Jahr etwas teurer sind. Wir sind im vierten Jahr mit dem fünften Spiel, viele NFL-Fans in Deutschland hatten mittlerweile die Chance, eine Partie zu sehen. Es ist nicht wie vor drei Jahren in München, wo beim ersten Mal jeder unbedingt dabei sein wollte. Das spielt sicherlich alles eine Rolle. Aber ich bin mir sicher, dass die NFL weiß, was sie tut.

Football-Hype in der Hauptstadt: In Berlin schmückt ein großes NFL-Mural eine Hauswand
Football-Hype in der Hauptstadt: In Berlin schmückt ein großes NFL-Mural eine Hauswand Imago

Vor der Saison galt die Partie der Colts gegen Falcons nicht unbedingt als Feinschmecker. Das hat sich geändert, besonders weil Indianapolis eins der heißesten Teams der Liga ist. Wie haben sie da geschafft?

Das ist ja das Schöne an der NFL: Jede Saison ist anders und überraschend. Es gibt so viele Experten, aber am Ende hat keiner wirklich eine Ahnung. Bei jedem Team gibt es so viele Faktoren, die die Leistung beeinflussen können.

Indy spielt bisher eine fantastische Saison. Da ist viel vor der Saison passiert und selbst Carlie Irsay-Gordon, die das Team von ihrem verstorbenen Vater Jim Irsay übernommen hat, spielt eine entscheidende Rolle für den plötzlichen Erfolg. Sie steht als einzige Teameigentümerin der Liga an der Seitenlinie mit einem Headset auf dem Kopf und macht sich Notizen. 

Für uns in Berlin ist das eine gute Nachricht. Denn je besser ein Team in Form ist, desto hochwertiger und reizvoller wird natürlich auch das Spiel und das Entertainment. So kommen auch Fans von anderen Teams auf ihre Kosten.

Die Colts haben bisher eine der besten Offensiven der Liga, angeführt von Quarterback Daniel Jones und Runningback Jonathan Taylor. Aber auch die Falcons sind zu allem in der Lage.

Quarterback Daniel Jones ist eine der positiven Überraschungen des Jahres. Beschützt wird der Spielmacher auf dem Rasen von Left Tackle Bernhard Raimann. Ein Österreicher. Sein Vorbild? Sebastian Vollmer. Wie eng stehen Sie im Austausch?

Ich habe ihn vorm Draft das erste Mal getroffen und seine Entwicklung eng verfolgt. Ich finde es absolut klasse, wie schnell er sich bei den Colts hochgearbeitet hat. Sein neuer Vertrag spricht für sich, er ist der höchstbezahlte Spieler in der gesamten Franchise. 

Solche Verträge geben Teams nicht leichtfertig raus, das geht natürlich auch mit einer großen Verantwortung einher. Er ist jetzt zwangsläufig ein Führungsspieler – und das als Nicht-Amerikaner. Sportlich gesehen ist er ohnehin einer der besten auf seiner Position.

100 Millionen US-Dollar, so viel ist sein Vierjahresvertrag in Indianapolis wert. Was macht so eine Summe mit einem so jungen Menschen? Haben Sie mal mit ihm darüber gesprochen?

Nein, ich maße mir auch nicht an, ihm da irgendwelche Ratschläge zu geben. Klar, das ist ohne Frage sehr viel Geld. Aber ich glaube nicht, so habe ich ihn zumindest kennengelernt, dass es ihn in irgendeiner Form verändert. Ich habe ihn als bodenständigen, hart arbeitenden Typ kennengelernt.

Tatsächlich sehr typisch für einen Offensive Lineman. Ein guter Junge, der alles richtig macht. Selbst nach dem großen Vertrag macht er nicht auf dicke Hose und fährt Ferrari. Kurz nach seiner Unterschrift ist er gleich zur nächsten Laufeinheit gegangen. Ich kann nur meinen Hut davor ziehen, was er in sehr kurzer Zeit in Indianapolis geleistet hat.

Raimann war in Österreich noch Wide Receiver, wurde auf dem College dann erst zum Tight End und dann zum Offensiv Lineman umgeschult. Heißt auch, dass er sich körperlich unter extremen Umständen anpassen musste. Sie kennen das selbst, haben auf dem College damals ordentlich an Masse dazugewinnen müssen. Von 35 Kilo haben Sie mal gesprochen. Das funktioniert durch Krafttraining – aber auch durch viel ungesundes Essen. Wie gelingt da die richtige Balance? 

Das Gute ist, dass das College-Leben als Sportler eine sehr professionelle Veranstaltung ist. Du hast ein großes Trainerteam, für dich wird gekocht, du hast Ernährungsberater an deiner Seite, du hast viele Hilfestellungen. Du weißt ganz genau, wie viele Kalorien du zu dir nehmen musst. Da wird Blut analysiert und und und. 

Sebastian Vollmer mit NFL-Legende Tom Brady
Sebastian Vollmer mit NFL-Legende Tom Brady Getty

Ich kann jetzt nur aus meiner Perspektive reden. Als ich in die USA kam, war mein Körper noch nicht richtig "ausgefüllt". Ich habe anfangs schon damit gefremdelt, 120 oder 130 Kilo zu wiegen. Als junger Kerl will man ja auch am Wochenende noch gut aussehen und man weiß noch gar nicht, wohin dich der Sport überhaupt führen kann. Auf dem College hat sich mein Blickwinkel dann geändert, weil um mich herum die Jungs auch alle groß und schwer waren und die Perspektive, Profi zu werden, viel klarer wurde.

Und dann geht es eigentlich relativ schnell. Einmal durch viel Krafttraining, aber vor allem durch Ernährung. Du versuchst hohe Kalorienwerte mit dem geringstmöglichen Volumen zu dir zu nehmen, weniger mit Pommes oder Chicken Fried Steak. Aber selbst das gehört als Offensive Lineman dazu, weil es zusammen mit Defensive Lineman die einzige Position ist, wo es nicht punktgenau darauf ankommt, wie viel zu wiegst.

Was war für Sie schwerer: Masse draufzupacken oder nach der Karriere die Kurve zu kriegen?

Für mich war das Zunehmen gar nicht so schwer – physisch gesehen. Mental schon sehr. Ich kam aus Deutschland rüber, zwei Meter groß mit 100 Kilo, also relativ schlank. Dann kam die Ansage, ich soll 20-30 Kilo zunehmen. Ich wollte nicht nach Amerika, um dann zwei Jahre später mit einer Wampe zurückzukommen. Als Freshman aus dem Ausland ist die NFL noch sehr weit weg, eher unrealistisch. Also war da für mich eine sehr große mentale Hürde. 

Als mich dann der Ehrgeiz gepackt hat, hat es mir gleich auch viel besser geschmeckt. Da lässt sich auch das Bierchen mit ruhigerem Gewissen trinken. Das Abnehmen verlangt dann wiederum ein wenig mehr Disziplin. Aber sobald ich es mir im Kopf vorgenommen hatte, ging es recht schnell.

Die New England Patriots haben ein paar Jahre gebraucht, um einen adäquaten Ersatz für Tom Brady zu finden. Sie scheinen Erfolg gehabt zu haben. Drake Maye gilt als die neue Sensation der NFL. Was macht ihn so gut?

Er ist erst 23, also extrem jung und erst in seiner zweiten Saison. Aber er hat schon jetzt einen unglaublich guten, derzeit vielleicht sogar den besten Deep Ball der Liga. Sein Offensive Coordinator Josh McDaniels, der schon in New England war, als ich dort noch gespielt habe, ist extrem gut darin, das System auf die Stärken seiner Spieler aufzubauen. 

Das ist ihm über viele Jahre mit Tom Brady gelungen, der aber ein ganz anderer Quarterback-Typ ist. McDaniels hat großes Vertrauen in Maye und legt das Spiel in seine Hände, obwohl gerade die vielen tiefen Pässe auch mit sehr viel Risiko verbunden sind.

Es liegt in der Natur der Sache, dass der Brady-Vergleich sofort aufkommt. Zum einen ist das ein schmeichelhafter Vergleich, zum anderen ein unfairer, der die Erwartungen unverhältnismäßig hochschraubt. Daran wird sich aber wohl jeder Quarterback mit Ambitionen messen müssen, oder?

Vor zwei Wochen hat Maye einen Rekord von Brady gebrochen und so etwas ist dann natürlich eine schöne Story für die Medien. Aber nochmal: Es ist ein 23-Jähriger in seiner zweiten Saison. Diese Vergleiche, auch Brady vs. Patrick Mahomes oder Joe Montana vs. Peyton Manning oder Brett Favre vs. Aaron Rodgers und und und… Diese Vergleiche gibt es ja über jede Generation und sie hinken immer. Wann ist denn Mahomes besser als Brady? Muss er dafür den Super Bowl achtmal gewinnen? Ich finde diese Vergleiche immer extrem schwierig.

Als Rodgers bei den Green Bay Packers für Favre übernommen hat, wurden sie anfangs noch sehr oft miteinander verglichen, obwohl sie vom Stil sehr unterschiedlich waren. Das nimmt dann mit der Zeit etwas ab. Auch Maye und Brady unterscheiden sich vom Stil sehr, Maye spielt viel athletischer. Aber auch er wird sich dem Brady-Vergleich so schnell nicht entziehen können, so wird es jedem Patriots-Quarterback ergehen. Es liegt dann an dir, ob du es als unfair oder schmeichelhaft empfindest.

Aktuell führen die Patriots die AFC East wieder an – noch vor den Buffalo Bills mit Superstar Josh Allen. Wie groß wäre die Sensation, wenn es die Pats tatsächlich vor den Bills in die Playoffs schaffen, und was trauen Sie dem Team noch zu?

Zu meiner Zeit sind die Patriots quasi ohne Widerstand durch die Division marschiert. In den letzten Jahren haben die Bills dominiert. Umso schöner ist es, dass es in diesem Jahr einen echten Wettbewerb gibt. Das belebt auch das Geschäft. 

Ich hätte vor der Saison nicht erwartet, dass die Patriots so stark sind. Head Coach Mike Vrabel hat dem Team wieder Selbstbewusstsein gegeben. Die Offensive spielt toll, aber auch die Defensive ist eine herausragende Laufverteidigung. Da kommt einfach vieles zusammen. 

Der restliche Spielplan spricht im Vergleich mit den Bills sogar für die Patriots, aber es gibt auch noch das wichtige Rematch. Die Chance ist sicherlich da, die Division zu gewinnen. Die Playoffs sollten zum jetzigen Zeitpunkt schon klar in den Köpfen aller sein. Was dann im Januar möglich ist? Wer weiß. Aber wenn du schon zum großen Tanz eingeladen wirst, solltest du auch tanzen.

Sebastian Vollmer mit Bayern-Torhüter Manuel Neuer beim NFL-Spiel in München
Sebastian Vollmer mit Bayern-Torhüter Manuel Neuer beim NFL-Spiel in München Imago

Drake Maye und die Patriots stehen aktuell im Hype. Als "Hype" wurde über die letzten Jahre auch das Football-Interesse in Deutschland bezeichnet. Ist man immer noch in diesem Stadium oder schon darüber hinaus?

Ich benutze das Wort "Hype" sehr ungern. Das hört sich immer so temporär an. Über den Status der Randsportart sind wir mittlerweile hinaus. Die NFL ist von den Zuschauerzahlen der zweitgrößte TV-Sport in Deutschland, sie ist also in der Gesellschaft etabliert. Aber natürlich ist da auch noch Luft nach oben.

Wie kann diese Luft gefüllt werden? Wir haben ein jährliches Deutschland-Spiel, vor Jahren noch undenkbar, wir haben in Amon-Ra St. Brown einen absoluten Superstar in der NFL, Flag Football wird olympisch. Was kann nun der nächste Schritt für die NFL sein, die Sportart hierzulande noch größer zu machen? 

Die NFL muss neue Zielgruppen erschließen und die Eintrittshürden zu diesem Sport Stück für Stück minimieren. In den USA spricht man von Grassroots, du musst also an die Wurzeln ran. Wie machst du das?

Dafür wurden bereits erste Programme ins Leben gerufen. Wir haben Flag Football in den Schulen untergebracht, dadurch kommen viele Kinder mit dem Sport in Berührung. Flag Football ist als kontaktlose Variante des American Footballs viel risikofreier und auch leichter zu spielen und zu lernen. Und dass Flag Football ab 2028 sogar olympisch ist, bietet den Sportlern eine Perspektive. Vorher war es ein reines Hobby – was auch völlig okay ist –, aber wenn du richtig gut bist, kannst du jetzt sogar Olympiasieger werden!

Es gibt immer noch viele Menschen in Deutschland, die keinerlei Berührungspunkte mit dem Sport oder der NFL hatten. Da ist die Hürde schon sehr groß, sich ein dreistündiges, recht komplexes Spiel anzuschauen und Interesse für mehr zu entwickeln. Es benötigt also im aktuellen Status Geduld und auch etwas Mut, die NFL als Selbstverständlichkeit im Fernsehen zu etablieren.

Das versuchen wir bei RTL. Der Grat, Grundregeln immer wieder aufs Neue zu erklären und zeitgleich auch alteingesessene Footballfans nicht zu vergraulen, ist sehr schmal. Wir diskutieren immer wieder, wie man es noch besser machen kann. Es wird sicherlich auch noch einige Zeit dauern, aber gerade Flag Football wird dabei helfen, den Sport weiter wachsen zu lassen.

Zum Abschluss: Worauf freuen Sie sich denn am meisten in Berlin?

Für mich ist es immer wie ein kleines Klassentreffen. Du triffst viele ehemalige Spieler, die du lange nicht mehr gesehen hast. Viele Kollegen und Football-Opis. Und egal auf welche Veranstaltung du gehst, es gibt immer diese große Herzlichkeit. Alle – und das meine ich liebevoll – Footballbekloppten sind in einer Stadt, alle wollen eine gute Zeit. 

Und das Schöne am Football: Ich habe noch nie Probleme im Football erlebt. Keine Gewalt ohne Ähnliches. Keine Schlägereien, keine Unhöflichkeiten. Und all diese Positivität für ein paar Tage mitzunehmen, darauf freue ich mich ganz besonders.