Es ist elf Uhr vormittags, die tiefe Novembersonne lässt ihr lauwarmes Licht über den "Görli" gleißen. Der Reporter hat noch nicht mal einen Fuß auf das Gelände von Berlins berüchtigtstem Park gesetzt, da löst sich am nordwestlichen Eingang an der Görlitzer Straße ein Schwarzafrikaner aus einem Fünfertrupp, kommt ein paar Schritte auf ihn zu und ruft lächelnd: "Alles gut?" "Danke, alles gut". "Und", fragt der Mann um die 30, Jacke, Hose, Mütze und Brille in Schwarz, "brauchst du was?".
Der Görlitzer Park steht für Drogen, Gewalt und gefährlichen Müll
Der Görlitzer Park in Berlin-Kreuzberg steht seit vielen Jahren vor allem für dieses Stadtbild: Drogen, Gewalt und gefährlicher Müll. Im und um den Park herum liegen benutzte Spritzbestecke von Heroinabhängigen. Junkies setzen sich in Hauseingängen oder auf Blumenrabatten lethargisch ungeniert ihren Schuss, brechen Autos auf, hinterlassen Kot im Kiez. Blutspuren auf Wegen und Bürgersteigen zeugen immer wieder von gewalttätigen Auseinandersetzungen, die immer öfter von Crack-Abhängigen angezettelt werden.
Die polizeiliche Kriminalstatistik belegt das. Mit 936 registrierten Straftaten wurde 2024 im "Görli" fast genau die Hälfte aller in den zwölf größten Berliner Parks registrierten Delikte (1867) begangen. 190 davon betrafen Rohheitsdelikte wie Körperverletzung und Raub, 173 Diebstähle, acht Sexualdelikte. Die größte Zahl, 539, entfällt auf "sonstige Straftaten", zu denen auch Drogenbesitz und Handel zählen. Der Polizeiabschnitt 53, in dem der Park liegt, ist der Kriminalitäts-Hotspot der Bundeshauptstadt.
Obwohl Deutschland wirtschaftlich die stärkste Nation Europas ist, gibt es immer mehr Ecken in Städten und Gemeinden quer durch die ganze Republik, die gekennzeichnet sind von zunehmender Armut, Gewalt und Müll. Stadtbilder ändern sich, die Gründe dafür sind vielfälltig und oft kompliziert. FOCUS online wirft einen Blick auf Ursachen und Zustände mit einer neuen Serie: "Deutschlands schlimmste Ecken".
Berlinweit ging die Zahl der Drogendelikte zwar spürbar von 2512 im Jahr 2023 auf die bereits erwähnten 1867 im Folgejahr zurück. Zugleich stieg aber auch die Zahl der Drogentoten von 271 auf 294 im Jahr 2024 – gemessen an der Einwohnerzahl die höchste Todesquote aller Bundesländer. Auffällig ist zudem, dass die Zahl der "sonstigen Straftaten" im Park deutlich zurückging - und zwar von 1005 Fällen im Jahr 2023 um fast die Hälfte (539) im Jahr 2024.
Die Zahl der Einbrüche in den angrenzenden Wohngebieten ist jedoch drastisch angestiegen. Im Reichenbergkiez westlich des Parks gab es zwischen Oktober 2024 und August 2025 522 Keller- und Bodeneinbrüche –gemessen an den 69 Fällen im Vorjahreszeitraum eine Zunahme von 650 Prozent. Und im Wrangelkiez östlich des "Görli" lag die Gesamtzahl der Straftaten zwischen Januar 2025 und Juni 2025 mit 2001 Delikten fast viermal über jener des "Görli" (588). Die Zahl der nächtlichen Straftaten im Park hingegen ging von 2023 auf 2024 um 17 Prozent zurück.
Vor zwei Jahren hatte der Senat unter dem neu gewählten Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU) ein Sicherheitskonzept in Höhe von 30 Millionen Euro verabschiedet, dass die Drogenproblematik bekämpfen sollte. Dazu zählt auch die Schließung der letzten Lücken eines bereits vorhandenen Zauns und Mauerwerks rund um den "Görli" für 1,5 Millionen Euro, der nachts künftig von 22 bis 6 Uhr abgesperrt werden soll.
Im Dezember verkündete die Senatsverwaltung vor kurzem, sollen Arbeiten, von denen man noch wenig sieht, beendet sein. Doch wie blicken die Kreuzberger auf diesen Zaun samt 16 Stahltoren und acht "vandalismussicheren" Drehkreuzen?
Parkanwohner: "Drogenszene wird sich in den Kiez verlagern"
Tebjan Halm sitzt gerade auf einer Bank am Südende des Parks und blinzelt in die Sonne. Er wohnt in der Görlitzer Straße, die den Park im Nordosten begrenzt, und blickt, wenn er seine Wohnung verlässt, direkt auf die Grünfläche, die oft zum Tatort wird.
Das Bild, das viele Medien vom Park zeichnen, hält der 46-Jährige für "übertrieben". Vielleicht, fügt er hinzu, nehme er die Bedrohungslage als Mann auch anders wahr. "Für Frauen, die bislang auf einer kurzen, gut beleuchteten Strecke den Park durchqueren konnten, um auf die andere Seite zu gelangen, bedeutet dies Umwege um den Park herum, die wesentlich dunkler sind."
Zwar würden Dealer und Junkies aus einem abgeschlossenen Park nachts verschwinden. "Ich befürchte aber, dass das an dem Grundproblem nichts ändern wird. Die Drogenszene wird sich einfach in angrenzende Straßen um den Görli verlagern." Und auch für die Konsumenten werde die Lage gefährlicher. "Im Schutz des Parks stehen dieselben Dealer konzentriert immer an denselben Plätzen, was den Junkies ein gewisses Gefühl der Sicherheit gibt, was die Dealer selbst erhalten wollen. Draußen im Kiez könnte das gefährlicher werden."
Junkies spritzen sich am hellichten Tag auf den Straßen Heroin
Die Wiener Straße, die den Park im Südwesten begrenzt, ist wegen vieler Geschäfte belebter als die Görlitzer und erweckt einen sichereren Eindruck. Doch auch hier lungern am helllichten Tag Junkies herum. So wie jener, den ich unweit des Hauptdurchgangs am Park nahe der Ohlauer Straße sehe. Er kauert in der Ecke auf dem Fenstersims einer Erdgeschosswohnung halb abgewandt von den Passanten und bereitet sich gerade einen neuen Schuss Heroin vor.
"Wenn ich morgens das Geschäft aufschließe, schlafen immer wieder Drogenabhängige vor dem Laden und anderen Hauseingängen", erzählt der Betreiber einer kleinen arabischen Pizzeria. "Gegen elf, zwölf Uhr wird es dann laut hier, weil diese Typen zu streiten beginnen. Die sind extrem aggressiv geworden."
Zudem gebe es drei Kindergärten in Parknähe, sagt der Pizza-Bäcker. "Es ist eine Schande, dass die Mütter ihre Kinder hier an den zugedröhnten Drogenabhängigen und all ihren Hinterlassenschaften vorbeiführen müssen."
Auf den Zaun und das nächtliche Absperren blickt der Pizza-Bäcker hingegen mit Sorge. "Dieses Projekt vom Senat wird die Probleme hier im angrenzenden Kiez, wo sie jetzt schon groß sind, noch weiter verschärfen."
Keine Mittel mehr im Haushaltsentwurf - fallen Parksäuberung und Drogenbusse bald weg?
Kurioserweise könnte mit dem Einsammeln von benutzten Heroinspritzen bald Schluss sein. Denn der Berliner Senat hat im Entwurf für den Doppelhaushaltsplan 2026/27 keine Mittel mehr für die "Kiezhausmeister" eingestellt, die sich untern anderem um das Einsammeln der Spritzbestecke kümmern. Eine Anfrage von FOCUS online, mit einem von ihnen und auch Sozialarbeitern sprechen zu können, lehnte der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ohne Angabe von Gründen ab.
Einer der neun "Hausmeister", die im "Görli" und dem angrenzenden Kiez für Ordnung sorgen, hat anonym trotzdem die Lage erklärt. "Seit knapp fünf Jahren suchen wir jeden Morgen als Erstes Spielplätze und andere beliebte Treffpunkte der Drogenabhängigen nach Spritzen ab. Vor ein paar Wochen haben wir bei einem einzigen Busch im Park in zwei, drei Stunden allein 350 benutzte Bestecke gefunden. Und das soll künftig die Müllabfuhr erledigen?"
Vor allem wegen der Kinder, die in den "Görli" auch wegen des "Kinderbauernhofs" samt Streichelzoo, der Spielplätze und eines Bolzplatzes kommen, "wird unsere Arbeit von den Anwohnern sehr geschätzt", berichtet der "Kiezhausmeister". "Jetzt haben wir alle Angst, dass wir nicht übernommen werden und am 31. Dezember Schluss ist."
Von den Sparmaßnahmen betroffen sein könnten auch "Parkläufer", die als Mediatoren in der Drogenszene für Ruhe zu sorgen versuchen. Das Gleiche gilt für Drogenbusse - mobile und beaufsichtigte Schutzräume, in denen die Abhängigen wenigstens geschützt vor den Augen der Parköffentlichkeit ihren Stoff konsumieren können.
Auch der "Kiezhausmeister" glaubt nicht, dass das nächtliche Abriegeln des Parks durch das Schließen von Lücken des bereits bestehenden Zaunes, Mauerabschnitten und neuer Tore, von denen bislang noch nichts zu sehen ist, etwas an dem Drogenproblem ändert. "Es wird nachts in den Kiez sickern."
Weinhändler: "Die Leute sind müde von den Problemen des Görli"
Auch Bar-Betreiber Tue Nyboe, der gerade alkoholfreie Weine für eine Feier in seinem Lokal besorgt sowie Ludovic Piedtenu, der ihm die Flaschen in seinem Naturweinhandel in der Ohlauer Straße über den Tresen schiebt, sehen das nicht anders.
"Schon jetzt stehen immer wieder Dealer und Abhängige bei uns um die Ecke in der Reichenberger Straße vor dem Laden, spritzen sich Heroin oder rauchen Crack. Das wird schlimmer werden, wenn der Park nachts abgesperrt wird", stöhnt der Däne Nyboe.
"Die Leute hier sind müde von den Problemen, die ihnen die Drogenszene bereitet. Auf der anderen Seite haben sie aber auch großes Verständnis für die Nöte der Betroffenen", ergänzt Ludovic Piedtenu. Statt Millionen in die Abriegelung des "Görli" bei Nacht zu stecken, hält er andere Investitionen für sinnvoller.
Sowohl den Kiezbewohnern als auch den Drogenabhängigen wäre seiner Ansicht nach viel effektiver geholfen, wenn mehr Notunterkünfte wie jene der Johanniter zur Verfügung gestellt würden. Sie liegt ein paar Meter weiter von seinem Weinhandel entfernt Richtung Reichenberger Straße und bietet 88 Plätze inzwischen nicht mehr nur im Winter, sondern ganzjährig an.
Geschäftsmann freundet sich mit Dealern an - "die schützen Geschäft und Kunden besser als die Polizei"
Die Drogenprobleme würden so oder so nicht verschwinden. Das könne keine Polizei, auch die Berliner, nicht ändern. "Unglaublich, dass sie wegen Protesten gegen den Zaunbau die ersten Abriegelungsmaßnahmen am Zaun bewachen musste, statt sich um wirklich wichtige Aufgaben zu kümmern, an denen es ja in Berlin nicht mangelt", meint der Weinhändler.
Der Franzose kennt einen Geschäftsmann auf der anderen Seite des Parks, der sich inzwischen sogar mit Dealern angefreundet habe - aus einem ganz bestimmten Grund. "Die Dealer, die immer da sind, halten ihm Probleme mit randalierenden Junkies vom Hals und beschützen so sein Geschäft und seine Kunden viel besser, als es die Polizei kann".
Optiker: "Dealer, die sich keine legale Arbeit suchen, müssten abgeschoben werden"
Boris Sachs ist an diesem Tag der Einzige der Befragten im Kiez, der dem Zaun sofort etwas Positives abgewinnen kann. "Um einen Teil der Probleme im Park wenigstens nachts einzudämmen, halte ich das durchaus für sinnvoll" sagt der Optiker, der ein Brillengeschäft Reichenbergkiez betreibt.
Doch die Einschränkung lässt auch bei dem Brillenexperten Anfang 60 nicht lange auf sich warten. "Das ist kein Allheilmittel, das Problem wird leider nur verschoben, und zwar in unsere Richtung." Sachs hält Zaun und nächtliche Sperre deshalb für eine "politisch motivierte Augenwischerei", mit der den Menschen ein trügerisches Gefühl von Sicherheit vermittelt werden solle.
Die Berliner Politiker könnten das Problem allein ohnehin nicht lösen, glaubt der Optiker. "Es fehlt überall am Willen, hart durchzugreifen, auch in der Bundespolitik. Und mit einem Vorgehen der Polizei gegen die Dealer ist dem Problem nicht beizukommen, das sind doch nur kleine Fische, arme Würstchen." Viele seien jung und nicht dumm, die könnten arbeiten, wenn sie dürften. "Dafür bräuchte es aber eine andere Politik in Bezug auf Migranten. Diejenigen, die sich weigern, sich eine legale Arbeit zu suchen, müssten abgeschoben werden. Wir sind doch kein Wunderland", schimpft Sachs.
Drogenverkäufer sagt, dass er künftig direkt im Kiez Ware anbietet
Die Blicke des jungen Mannes aus Guinea, der den Reporter in der Nähe des Parkeingangs in der Mitte der Görlitzer Straße anhält, um zu fragen, ob er was von ihm kaufen will, waren hingegen schon am Vormittag nur müde, die Lider auf Halbmast, was kaum am mangelnden Schlaf gelegen haben dürfte.
Als er dem etwa 30-Jährigen sagt, dass er Journalist sei und fragt, was er vom neuen Zaun um den "Görli" hält, nuschelt er zugedröhnt: "Für mich ist das alles gleich. Ich muss arbeiten, Geld verdienen für meine Familie in Afrika. Ich werde einfach raus irgendwo in die Straßen vor dem Park gehen und dort meine Geschäfte machen."
Gegen 18 Uhr hat sich die Nacht über den Görlitzer Park gesenkt. Doch an Licht mangelt es heute Abend nicht. Abgesehen von der Parkbeleuchtung, die ausgebaut wurde und einem fast vollen "Super-Mond", der sein fahles Licht über die Hügel und Senken des "Görli" gießt, flackern in einigen Büschen kleine Crack-Feuer auf, von Flüstern oder Flüchen unsichtbarer Protagonisten begleitet.
Beim Verlassen des Parks über den mittleren Ausgang an der Wiener Straße zischelt plötzllich jemand "ks ks". Der Reporter dreht sich um und sieht eine schemenhafte, dunkle Figur unter einem Baum stehen, die ihn anschaut.
"Alles gut?", fragt mich der Mann.
"Gut, danke."
"Und?"